Unmittelbar vor Beginn der Fußball-WM hat die Duma-Abgeordnete Tamara Pletnjowa russische Frauen gewarnt: Sie sollten sich während der WM nicht auf intime Beziehungen mit ausländischen Fans einlassen. Zumal nicht mit Fans einer anderen „Rasse“. Denn deren Kinder würden dann diskriminiert – eine Erfahrung, die Frauen und Kinder nach der Olympiade 1980 gemacht hätten, meint die Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Familie, Frauen und Kinder.
Im Massenblatt Moskowski Komsomolez schrieb Platon Bessedin von der WM als einem „Zeitalter der Nutten“ und prangerte das angeblich enthemmte Verhalten seiner Landsfrauen an. Der Blogger Anton Troizki spricht nicht vom russischen „Futbol“, sondern vom „Sexbol“.
Wie viel diese Diskussion mit der Realität zu tun hat und nicht eher der (männlichen) Fantasie entspringt, auch das wird debattiert.
Alexandra Archipowa vom Sozialwissenschaftlichen Institut der Hochschule RANChiGS hat den historischen Wurzeln solcher und ähnlicher Debatten nachgespürt. In ihren Text auf Republic hat sie auch Umfrageergebnisse und Probanden-Interviews einer wissenschaftlichen Studie einfließen lassen. Ihr Blick in die Geschichte zeigt, dass mit der Angst vor dem ausländischen Touristen ein sowjetisches Propaganda-Phänomen wiederbelebt wird – das bis vor vier Jahren kaum noch Relevanz hatte.
Im Vorfeld der Fußball-WM wurden die Russen von Parlamentsmitgliedern (und nicht nur von diesen) vor möglichen Gefahren gewarnt: Ausländer wollen unseren Kindern mit Drogen gespickte Zigaretten geben (so der Direktor einer Moskauer Schule), sie wollen unsere Leute mit gefährlichen Krankheiten anstecken und sorgen schließlich dafür, dass in unserem Land eine Menge Babys „einer anderen Rasse“ geboren werden (meint die Vorsitzende des Duma-Ausschusses für Familien, Tamara Pletnjowa).
Man kann sich natürlich wunderbar lustig machen über solche Meldungen und ihre Autoren, man kann aber auch versuchen zu verstehen, woher solche Ideen kommen.
Die Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1957 waren die erste derartige Veranstaltung. Für die damalige Zeit war das etwas Außerordentliches: Nach Stalins Tod, den Repressionen, dem Hunger, der Angst kamen plötzlich „andere Menschen“ nach Moskau – zigtausende Ausländer, mit denen man Filme und Konzerte besuchen konnte und reden, reden, reden.
Unkontrollierte Verbrüderung
Die unkontrollierte Verbrüderung des sowjetischen Volkes mit Ausländern versetzte die Parteiführung natürlich in Unruhe (vielleicht sogar Panik). Unter den Studenten und Jugendlichen aus aller Welt sahen sie Saboteure und Spione, die unsere Leute ruchlos ermorden würden. Und deswegen warnte Jekaterina Furzewa, später omnipotente Kulturministerin der UdSSR, vor Beginn des Festivals ihre Moskauer Kollegen vor möglichen Provokationen der „Ausländer mit Spritze“. Ihre Aussagen spiegeln sich in Gerüchten, die uns aus sowjetischen Briefen von 1957 bekannt sind: „In Moskau werden alle gegen Pest geimpft, weil es (das glauben unsere Leute) unter den Festivalgästen welche geben wird, die Ampullen mit Pestbakterien mitbringen.“
Das Bild des Ausländers, der den Sowjetbürger mit allerlei Krankheiten anstecken will, „noch dazu mit maximaler Hinterhältigkeit, unter dem Deckmantel der Freundschaft“, hat mit dem beginnenden Kalten Krieg zu tun. Die Frage ist, warum werden gerade Ampullen und Spritzen zur Waffe des Geheimagenten?
1952, der Koreakrieg war in vollem Gang, berichtet die sowjetische Presse am laufenden Band von Opfern der Imperialisten: von Bomben, aus denen mit Pest infizierte Mücken fliegen, von als medizinische Hilfe getarnten Impfungen mit dem Typhus-Erreger. Der sowjetischen Propaganda zufolge führten die amerikanischen Truppen keinen traditionellen Kontaktkrieg, sondern einen Krieg, der noch schrecklicher war – sie töteten mit biologischen Waffen aus großer Distanz.
Amerikanische Jeans, verseucht mit importierten Parasiten
In der Ära Breshnew wurde das Bild des Ausländers, der unsere Bürger vergiftet, ebenfalls häufig bemüht, und zwar zu ganz verschiedenen Zwecken. Amerikanische Jeans, verseucht mit importierten Parasiten, galten bei Komsomolzenführern als Beispiel für ideologische Subversion. Vor den Olympischen Spielen 1980 stand dem Sowjetmenschen wieder, wie 1957, die Konfrontation mit einem Schwung ausländischer Gäste bevor und mit all diesen Dingen, die sie mitbringen. Damals zirkulierten verstärkt Texte über Amerikaner, die Kaugummi, Jeans und Süßigkeiten vergiften. Allerdings hatte sich deren Inhalt 1980 schon deutlich weiterentwickelt.
Vor der Olympiade 1980 transformierte sich die vage Besorgnis vor dem Einfall der Fremdlinge endgültig zur massenhaften Überzeugung, dass die erwarteten Gäste aus dem Ausland nie dagewesene Infektionen übertragen würden – davon redeten buchstäblich alle.
Solche Geschichten wurden mit pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen unter Verwendung medizinischer Terminologie untermauert: Man sprach von „Viren“, „Mikroben“, „Infektionen“ und „entsetzlichen Geschlechtskrankheiten“ der Ausländer. In Moskau kursierten Gerüchte, Ausländer hätten das Marseille-Fieber „Olimpika“ gebracht, und das Tragen amerikanischer Jeans verursache Unfruchtbarkeit oder eine spezielle „Jeans-Dermatitis“.
Bei den Olympischen Spielen 1980 war der furchteinflößende Fremde, der eine Gefahr darstellte, vor allem der „Neger“. Viele Moskauer erzählten von ihren Befürchtungen während der Spiele, der Kontakt mit den „Negern“ gehe mit schweren Geschlechts- oder Hautkrankheiten einher, einschließlich Lepra und Syphilis. Solche Dinge hatten sie von Freunden, Eltern, Lehrern und Trainern im Bezirkskomitee gehört. Schülern wie Erwachsenen wurde erklärt: „Halte dich von den Negern aus Afrika fern, die haben Maden unter der Haut – das ist schon fast ihr Nationalstolz.“
Die größte Angst 1980 – das waren Geschichten über eine absichtliche Verseuchung des sowjetischen Volkes mit Geschlechtskrankheiten über attraktive Gegenstände des öffentlichen Gebrauchs, zum Beispiel über Automaten mit Sodagetränken. Witali, zur Zeit der Olympischen Spiele ein Teenager, erzählt, wie er hörte, dass „im Becher vom Soda-Automaten ganz früh am Morgen (um vier oder fünf) ein Neger seinen Penis gewaschen hat“.
Die sowjetische Führungsriege erwartete solche Gefahren von ausländischen Teilnehmern an Sportwettkämpfen und Festivals und war immer bereit, die Kontakte des sowjetischen Volkes mit potenziellen Feinden einzugrenzen. Solange, bis 1985 Michail Gorbatschow (seinem Assistenten zufolge erschüttert über das Gerede von den gefährlichen Ausländern) bei einer der Besprechungen zu den Weltjugendfestspielen in der UdSSR dieser Tradition ein Ende setzte: „Die Bedeutung direkter Kontakte von Ausländern mit Menschen aus der Sowjetunion [ist sehr wichtig für die Entstehung] wahrheitsgetreuer Vorstellungen über uns. Keine Angst – sollen nur möglichst viele kommen“ (Tagebucheintrag von Gorbatschows Assistenten M. Tschernjajew vom 27. August 1985).
Seit 2014 werden alte Ängste wieder aktuell
Mit dem Zerfall der Sowjetunion verschwanden diese Ängste scheinbar. Bei den Olympischen Winterspielen 2014 konnte sie unsere Forschungsgruppe tatsächlich fast nicht feststellen. In den letzten vier Jahren wurden sie aber wieder aktuell.
Im Frühling 2018 verlautbarte der Direktor einer Moskauer Schule, dass die zur WM anreisenden Amerikaner Zigaretten mit Drogen an Kinder verteilen würden, und forderte von den Eltern, ihre Kinder für die Zeit der WM aus Moskau hinauszubringen.
Und in einem kleinen Städtchen im russischen Norden, wo im Frühling und Sommer viele ausländische Touristen hinkommen, um ein berühmtes Kloster zu besichtigen, gab es einen kleinen Elternaufstand. Die Touristen wurden nämlich nicht nur ins Kloster, sondern auch in die örtliche Schule geführt, wo sie sich mit den Schülern unterhielten und sie sogar fotografierten. Die Eltern wollten den Ausländern verbieten, ihre Kinder zu fotografieren, sogar mit ihnen zu reden: „Wer weiß, womit man sich da anstecken kann.“
Aber jetzt ist die Fußball-Weltmeisterschaft, und wieder, wie 1957 und 1980, droht den Russen der direkte Kontakt nicht nur mit Gruppen von 20 Touristen, sondern mit hunderttausenden Ausländern. Sprecher der Staatsduma übertragen wieder dieselben zwei Arten von nun gar nicht mehr latenter Angst auf die Öffentlichkeit.
In einer Situation, in der alle anderen Möglichkeiten zur Kontrolle von Interessen und Entwicklung der Gesellschaft ausgeschöpft sind und das Gefühl einer inneren sozialen Instabilität herrscht, ist das einzige Argument, das den Machthabern bleibt, eine Anweisung, den Kontakt zu Menschen aus der Außenwelt zu vermeiden – einfach aus dem Grund, weil sie nicht so sind wie wir. Wie Tamara Pletnjowa sagte: „Ich bin nicht nationalistisch, aber trotzdem.“ Die Angst vor dem „Fremdling“ war sehr viel früher da als der Begriff der Nation.