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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Merab Mamardaschwili

1988 hielt der Philosoph Merab Mamardaschwili in Paris einen Vortrag über „europäische Verantwortung“. Darin warnte er die EuropäerInnen, ihren gegenwärtigen Zustand nicht für selbstverständlich zu nehmen. Diese Selbstverständlichkeit, die Francis Fukuyama nur ein Jahr später in seinem Essay End of History? (1989) als Sieg und Alternativlosigkeit der westlichen liberalen Demokratie postulierte, sei gefährlich. Denn Geschichte ist für Mamardaschwili, im Gegensatz zu Fukuyamas linearer Vorstellung, ein „Drama der Freiheit“: Sie ist nie vollzogen, sie vollzieht sich vielmehr in jedem Moment, es „gibt keine Garantien, so wie es auch keinen Mechanismus gibt, der sie von selbst bewegt“. Jeder Punkt der Geschichte sei von Chaos umgeben, und wenn es keine Anstrengung gibt, das heißt keine Anstrengung der Freiheit, die Arbeit erfordert, würde man in den Abgrund hineinfallen.1

Für den Philosophen aus der Sowjetunion, der damals 1988 vor dem Pariser Publikum auftrat, war die Freiheit kein Zustand, der schlicht erreicht werden soll, sondern eine permanente Arbeit, die sowohl jedem einzelnen Menschen als auch der Gesellschaft eine unaufhörliche Anstrengung abverlangt. Wie richtig er mit seiner Warnung lag, wird 30 Jahre nach seinem Tod umso deutlicher.

Er gilt als einer der bedeutendsten Philosophen der Sowjetepoche – Merab Mamardaschwili / Foto © Fond Meraba Mamardaschwili

„Der georgische Sokrates“ genoss schon zu Lebzeiten einen Kultstatus. Doch nach seinem Tod am 25. November 1990 nahm dieser beinahe mythische Dimension an. Mamardaschwili wird als einer, wenn nicht als der bedeutendste Philosoph der Sowjetunion gefeiert, doch in Westeuropa ist er über den engen Kreis der Fachleute und Freunde hinaus kaum bekannt. Beides – seine mythische Verklärung im Osten und seine Unbekanntheit im Westen – sind zwei Seiten einer Medaille: seiner ausgebliebenen Rezeption.

Philosophisches Temperament

Mamardaschwili wurde 1930 in der georgischen Stadt Gori geboren, ging in Tbilissi zur Schule und studierte an der Lomonossow-Universität in Moskau. Neben Alexander Pjatigorski, Alexander Sinowjew und Georgi Schedrowizki gehörte Mamardaschwili zu der Generation von Philosophen, die die sowjetische Philosophie nach der Stalin-Zeit neu begründen und ihre Reduktion auf den doktrinären Marxismus-Leninismus überwinden sollten. 

Während der Tauwetter-Zeit konnte er eine schnelle Karriere in der „offiziellen“ Philosophie machen. 1961 schloss er seine Promotion ab, für die er sich mit Hegels Lehre über die Erkenntnisformen beschäftigte. 1970 habilitierte er in Tbilissi zu Form und Inhalt des Denkens. Zwischenzeitlich arbeitete er einige Jahre als Redakteur der neu gegründeten Zeitschrift Problemy mira i sozialisma (dt. Probleme des Friedens und des Sozialismus) in Prag und später auch als stellvertretender Chefredakteur der zentralen philosophischen Zeitschrift der UdSSR Woprosy filosofii (dt. Probleme der Philosophie) in Moskau. 
In der sogenannten Ära der Stagnation, als die die Breshnew-Zeit in die Geschichte einging, begann auch seine akademische Karriere zu stagnieren: Er wurde entlassen und hatte seitdem keine feste Stelle mehr. Auch Auslandsreisen waren für ihn wegen eines eigenmächtig verlängerten Aufenthalts in Paris für mehrere Jahre nicht mehr möglich, was sich erst mit der Perestroika ändern sollte. 

Viele seiner Kollegen fanden in dieser Zeit nicht-ideologisierte „ökologische Nischen“ (Mamardaschwili), wo sie frei von politischem Druck professionell arbeiten konnten. Mamardaschwili war die „Nischenarbeit“ jedoch fremd. Sie entsprach nicht dem, was er im Nachhinein als „philosophisches Temperament“ bezeichnete und was seine Philosophie und seine Biographie untrennbar miteinander verband.

Philosophie als schöpferischer Akt

Philosophie ist bei Mamardaschwili kein Beruf und keine Disziplin, sondern ein schöpferischer Akt. Während der Mensch diesen Akt vollzieht, wird er von einem biologischen Menschen, der immer nur ein potentieller Mensch ist, zu einem kulturellen Menschen. Dieser Akt der Menschwerdung ist jedoch nicht einmalig, sondern permanent und muss ständig wiederholt werden. Entsprechend gibt es weder fertiges Wissen noch Verstehen von etwas, das man einmal verstanden hat: Man muss ständig durch persönliche Anstrengung in den Zustand des Denkens und Wissens „hineinfallen“. 

Was für jeden einzelnen Menschen gilt, gilt auch für die ganze Gesellschaft: Nur eine ungeheure und permanente Anstrengung ermöglicht das Verweilen im Sein (russ. prebyt). Um im Sein zu verweilen muss der Mensch sich artikulieren, zum Ausdruck bringen und dadurch kulturelle Formen bilden. Bleibt diese Anstrengung aus, gleitet sowohl der Mensch als auch die Gesellschaft in die Formlosigkeit ab, die für Mamardaschwili mit dem Chaos identisch ist. Daher ist die Philosophie notwendigerweise publik: Sie muss zum Ausdruck kommen und kommuniziert werden, sie setzt eine Öffentlichkeit voraus.

Die sowjetische Gewaltherrschaft als Zivilisationsbruch

Mamardaschwili war der einzige Philosoph aus der Sowjetunion, der die Erfahrung des sowjetischen Totalitarismus philosophisch zu denken und zu artikulieren versuchte. In dem Bestreben, das Leben unter totalitären Bedingungen philosophisch zu reflektieren, ist Mamardaschwilis Werk mit Theodor Adornos großem Exilbuch Minima Moralia – Reflexionen aus dem beschädigten Leben (1951) vergleichbar. Anders als Adorno hat Mamardaschwili jedoch sein Denken der Sowjetunion nicht in einem Buch zusammengefasst.

Die sowjetische Gewaltherrschaft – insbesondere unter Stalin – hat er als einen Zivilisationsbruch aufgefasst. Es war für ihn eine „anthropologische Katastrophe“, die er als Verletzung der Gesetze des menschlichen Bewusstseins und „des damit verbundenen ,Anbaus‘, welcher Zivilisation genannt wird,“ verstand. Der Zivilisationsbruch, der sich in Nazideutschland und in der Sowjetunion ereignete, machte die beiden Gewaltherrschaften vergleichbar: „Die übereinstimmende Erfahrung war die Erfahrung der Zerbrechlichkeit der menschlichen Zivilisation.“2 In der Vergleichbarkeit beider Totalitarismen rückt Mamardaschwili in die Nähe von Hannah Arendt. Vergleichbar sind die beiden auch darin, dass sie in den Totalitarismen die völlige Erosion des öffentlichen Raumes diagnostizieren und über die postkatastrophale Neubegründung des freien politischen Raumes nachdenken.

„Der georgische Sokrates“

Die Verschränkung des Philosophischen mit dem Biographischen wurde Mamardaschwili zum Verhängnis, weil das romanhafte seiner Persönlichkeit die Aktualität seiner Philosophie heute noch in Schatten stellt. Er war ein Dandy und Weltmann – ein Habitus, der in der UdSSR untypisch und auffallend war. Die Eleganz war zugleich ein Statement. Zahlreiche Memoiren verwenden Wörter wie Aura, Charisma, Anziehung, er füllte den Raum, war körperlich präsent, konnte begeistern, seine tiefe, sonore Bassstimme klingt selbst auf Tonbandaufnahmen sexy. 
Den Beinamen „Sokrates“ verdankte Mamardaschwili nicht nur dem mündlichen Vortrag – den er dem Schreiben vorzog, seitdem er sich aus der „offiziellen“ Philosophie verabschiedet hatte – , sondern der Erfahrung des Denkens, die er weitergab: Sein Schüler Michail Ryklin schrieb, er könne zum Denken anstiften. 
Mamardaschwili ließ keinen gleichgültig, entweder verfiel man seinem Charme oder man entwickelte eine Aversion gegen ihn, wie etwa Joseph Brodsky (der Philosoph taucht in seinem Essay Fondamenta degli incurabili auf) oder Juri Lotman. Seine Vorlesungen, die er für Nichtphilosophen hielt und in denen er daher auf Fachjargon verzichtete, waren jedoch nur scheinbar leicht zugänglich. Den komplexen Gedanken zu folgen ist selbst dann schwierig, wenn man die kommentierten Aufzeichnungen seiner Vorlesungen liest. Viele seiner ZuhörerInnen berichten, dass nach den Vorlesungen weniger die Gedanken, als die Aura Mamardaschwilis haften blieb. 

Bürger einer unbekannten Heimat

Die Inhalte seiner Philosophie aber sind noch immer wenig aufgearbeitet. Statt der inhaltlichen Arbeit mit und an Mamardaschwili, versuchen sowohl Russland als auch Georgien ihn zu vereinnahmen. Als gebürtiger Georgier schrieb und sprach er überwiegend Russisch, beide Nationen erheben daher einen Anspruch auf seine – nun kultisch gewordene – Erbschaft. Doch sein Tod am Moskauer Flughafen Wnukowo – einem Un-Ort, Heterotopos nach Michel Foucault – betont einmal mehr die Unmöglichkeit Mamardaschwili anzueignen und eindeutig einzuordnen. Seiner A-Topie, die man oft als Einzelgängertum bezeichnete, war er sich durchaus bewusst, und er hat sie gepflegt. In den Vorlesungen und Interviews der letzten Jahre bezeichnete er sich selbst als Bürger einer unbekannten Heimat: „Proust ging davon aus, dass jeder Künstler ein Bürger einer unbekannter Heimat sei […] weder von Georgien, noch von Russland, noch von Frankreich, sondern einer unbekannten Heimat und wir alle, als freie und geistige Wesen, sind Bürger dieser unbekannten Heimat, andererseits aber ihre, dieser unbekannten Heimat, Spione“.3 

Dieses a-topische muss man nicht als eine Flucht in die Kunst oder in die Philosophie verstehen, im Gegenteil: Das scheinbar unpolitische war eminent politisch. Philosophie war beziehungsweise sollte politisch sein, und sie war für Mamardaschwili ein öffentlicher, bürgerlicher, politischer Akt. Dagegen war die oberflächliche Politik in der Sowjetunion nicht von Belang: Mamardaschwili war Parteimitglied, in einem Interview weigerte er sich jedoch, seiner Mitgliedschaft in der Kommunistischen Partei politische Bedeutung zuzusprechen. Kehrseite davon war, dass er auch der politischen Dissidenz keine Bedeutung beimaß. Stattdessen versuchte er nicht nach wirtschaftlichen oder politischen, sondern nach den „ontologischen Gesetzen des Seins“ zu leben. 

Er war ein Dandy und Weltmann – ein Habitus, der in der UdSSR untypisch und auffallend war / Foto © Fond Meraba Mamardaschwili

Aktualität Mamardaschwilis

Wie eng Mamardaschwilis Philosophie mit seinem Leben verbunden war und wie einschlägig sie für das Verständnis auch der heutigen Populismen und anderer Ideologien ist, zeigte sich gerade in seinen letzten Jahren. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion schworen viele sowjetische DissidentInnen der Demokratie ab (wie der erste georgische Präsident Swiad Gamsachurdia) und wandten sich den Rechtsnationalisten zu (wie Alexander Solschenizyn). Mamardaschwili ist es jedoch wie sonst nur sehr wenigen gelungen, einen Modus für das richtige Leben im falschen zu finden, um den berühmten Satz von Theodor W. Adorno zu paraphrasieren. 

In den 1980er Jahren, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion, engagierte er sich vor allem in Georgien politisch. Dort wurde wegen seiner öffentlichen Äußerung, die Wahrheit stünde höher als die Heimat, von georgischen NationalistInnen ausgepfiffen, zum Verräter erklärt und einer Hetzkampagne ausgesetzt. Am 25. November 1990 verstarb er auf dem Weg von Moskau nach Tbilissi.

2001 setzte man ihm in der georgischen Hauptstadt ein Denkmal, ein Geschenk seines Freundes, des russischen Bildhauers Ernst Neiswestny. Spätestens seit dieser Ehrung wurde er in den georgischen Pantheon aufgenommen. Mamardaschwilis Philosophie allerdings wurde von seinem Denkmal erdrückt: Er ist als Kultfigur, als philosophische Pop-Ikone in Georgien und Russland zwar präsent und sogar allgegenwärtig, er wird bewundert, passend oder unpassend zitiert, aber in der Wissenschaft wenig rezipiert. 
Auch im Westen kam Mamardaschwili zum ungünstigen Zeitpunkt an. In der politischen Theorie des Westens verstand sich das kritische linke Denken als Kapitalismuskritik. Von Hannah Arendt bis Étienne Balibar beziehen sich die Fragen der sozialen Gleichberechtigung und der politischen Freiheit aufeinander. 
Für viele linke Intellektuelle blieb (und bleibt) die Sowjetunion eine Alternative zum Kapitalismus, und sie waren nicht bereit, in der Sowjetunion die, wenn nicht gleiche, doch vergleichbare „Hölle“4 wie die des Nationalsozialismus zu sehen. Mamardaschwili sprach dagegen von seiner, sowjetischen Erfahrung des Zivilisationsbruches und der Fragilität der Zivilisation. Das schien im Europa von 1988 eine abgeschlossene historische Erfahrung zu sein, die keinerlei Aktualität für die Gegenwart und Zukunft Europas hatte. 

Aus heutiger Perspektive hilft die Philosophie Mamardaschwilis, eine Brücke zu bauen zwischen der Erfahrung von Totalitarismen und der heutigen Erfahrung von der Rückkehr von Rechtspopulismen. Wie sein Freund Luis Althusser beschäftigte sich Mamardaschwili damit, die illusionserzeugenden Ideologie-Strukturen des Bewusstseins aufzudecken. Dieser Teil seiner Arbeit ist auch heute wichtig, da die Fragen des (falschen) politischen und sozialen Bewusstseins wieder einmal aktuell geworden sind. Die beste Würdigung des Philosophen 30 Jahre nach seinem Tod wäre, ihn von seinem Denkmalstatus zu befreien und als einen Philosophen und politischen Denker wiederzuentdecken, mit dem man auch Fragen an die Gegenwart stellen – und möglicherweise auch beantworten kann.


1.Merab Mamardašvili (1990), Filosofija dejstvitel’nosti, in: ders.: Kak ja ponimaju filosofiju, Moskau, S. 210 
2.Mamardašvili, Merab (2018): Wien der Jahrhundertwende, in: ders.: Die Metaphysik Antonin Artauds, übers. von Maria Rajer u. Roman Widder, hrsg. von Zaal Andronikashvili, Berlin, S. 44 
3.Mamardašvili, Merab (2014): Psichologičeskaja topologija puti (M. Prust. „V poiskach utračennogo vremeni“), Moskau, S. 119 
4.Mamardašvili, Merab (2018): Wien der Jahrhundertwende, S. 44 
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