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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Entstalinisierung unter Chruschtschow

Als die Kommunistische Partei im Februar 1956 im Kreml in Moskau zusammenkam, war dies der erste Parteitag nach Stalins Tod knapp drei Jahre zuvor. Das Plenum des XX. Parteitags lauschte den Rechenschaftsberichten und anderen wegweisenden Beiträgen der Parteiführung, wählte Gremien und verabschiedete Beschlüsse. Ein letzter Vortrag des Generalsekretärs der Partei, Nikita Chruschtschow, stand am 25. Februar auf der Tagesordnung. In einer nicht-öffentlichen Sitzung vor 1436 Mitgliedern der Partei sowie einigen Hundert internationalen Gästen kommunistischer Parteien anderer Länder sprach er über Stalins Verbrechen und seinen Personenkult. In der Rede thematisierte er die Parteisäuberungen, Stalins massive Fehler als oberster Kriegsherr und dessen despotische Art zu regieren. Diese Geheimrede ist ein zentraler Baustein der Sowjetepoche, die als Beginn der Entstalinisierung gilt und als Tauwetter in die Geschichte einging.

Als Chruschtschow seine Rede beendet hatte, soll tosender Applaus aufgebrandet sein. So steht es zumindest in den 1989 veröffentlichten Stenogrammen des Parteitags.1 Zeitgenossen wie Wladimir Semitschastni hingegen berichteten von einer tödlichen Stille, die anschließend geherrscht haben soll.2 So oder so hatte die Rede einschlagende Wirkung, auch als Chruschtschow wenige Tage später eine parteiinterne Veröffentlichung befahl. Jedes der über zehn Millionen Parteimitglieder wurde somit zu einem potenziellen Multiplikator der Kritik an Stalin; die Rede oder zumindest ihr Inhalt war de facto öffentlich.3

Erzählungen aus dem Lager

Die ersten Anzeichen einer Entstalinisierung zeigten sich jedoch bereits unmittelbar nach Stalins Tod. Wenige Tage nach dem 5. März 1953 erließ Lawrenti Berija, Chef der sowjetischen Geheimpolizei, die erste Amnestie für inhaftierte Parteimitglieder. In den folgenden Monaten kam wohl mehr als die Hälfte aller Gulag-Häftlinge frei. Über eine Reintegration in die sowjetische Gesellschaft hatte sich jedoch keiner Gedanken gemacht, sodass vielerorts ein Anstieg von Diebstählen, Vergewaltigungen und Morden zu verzeichnen war.4
 
Die entlassenen Häftlinge aber brachten vor allem die Erzählungen aus den Lagern mit – haarsträubende Erlebnisse, über die zwar nicht offen geredet wurde und die nicht gern gehört wurden. Doch die Gerüchte reichten aus, damit Chruschtschow einen Vorstoß zur Aufklärung der Verbrechen wagte. Er beauftragte den ehemaligen Prawda-Chefredakteur und ZK-Sekretär Pjotr Pospelow mit der Gründung einer neuen Kommission. Diese sollte untersuchen, welches Ausmaß die Parteisäuberungen in den 1930er Jahren hatten. Seine Erkenntnisse nahm Chruschtschow als Grundlage für seine Geheimrede.

Rückkehr zum „Leninistischen Prinzip“

Diese zeigte bald Wirkung. Im ganzen Land diskutierten die Menschen über die Schlüsse, die sie aus der Rede ziehen sollten. Chruschtschow forderte eine Abkehr vom Personenkult Stalins, gleichzeitig setzte er Lenin als Gründungsvater der sozialistischen Revolution erneut gekonnt in Szene. Die Partei sollte nach Leninistischer Tradition wiederauferstehen und von Stalins Untaten unbeschädigt bleiben. Doch wie war das umzusetzen?
 
Sechs Wochen später kamen die Parteisekretäre der Unionsrepubliken zusammen und besprachen die Fragen, die ihnen auf Parteiversammlungen gestellt wurden. Was bedeutete das „Leninistische Prinzip“, wenn doch Stalin die längste Zeit die Partei und ihre Geschichte zwischen 1927 und 1953 bestimmt hatte? Warum blieben überall die Stalinbüsten und -portraits hängen? Musste Stalingrad nun umbenannt werden? Warum druckte die Prawda nicht genaue Anleitungen, wie nun der Personenkult zu überwinden sei? Und wo machte die Überwindung des Personenkults halt, oder galt sie auch für den eigenen herrischen Fabrikdirektor?5
 
Es blieb nicht bei Fragen: Aufgebrachte ArbeiterInnen jagten tatsächlich vereinzelt Fabrikdirektoren auf die Straße, und in etlichen Städten stürzten wütende Menschen Büsten und setzten Portraits in Brand. Dem konnte die Partei nicht tatenlos zusehen und ließ solchen Protest gegen den Personenkult als Chuliganstwo (dt. „Rowdytum“) verfolgen und verurteilen.6 
Doch weit höher schlugen die Wellen in den sozialistischen Bruderländern. Im polnischen Poznan begannen im Juni 1956 ArbeiterInnen für einen politischen Kurswechsel und gegen die Mangelversorgung zu streiken. Die polnische Armee schlug die Proteste blutig nieder, 57 Menschen starben, etwa 600 wurden verletzt. Dramatischer wurde die Situation in Ungarn. Der dortige Aufstand gegen die kommunistische Partei wurde im Herbst des Jahres von sowjetischen Truppen niedergeschlagen. 2500 Menschen starben, 350 Personen wurden später als Rädelsführer hingerichtet. In der DDR fand nichts dergleichen statt – hier waren die Erfahrungen des niedergeschlagenen Aufstands vom 17. Juni 1953 noch zu frisch.7

Reformen und Begleiterscheinungen

So unbedarft die Parteiführung den Reaktionen auf die Enthüllungen der Geheimrede entgegensah, so schnell schien sie die Deutungshoheit nach wenigen Wochen wiedergewonnen zu haben. Zugute kam Chruschtschow dabei grundsätzlich das Ende der spätstalinistischen Agonie. Stillschweigend verschwanden die Schriften Stalins aus den Bibliotheken und seine Zitate aus den Zeitungen und der Fachliteratur. Die sogenannte Tauwetter-Phase erlaubte eine deutliche Liberalisierung des Kulturbereichs. Dabei war jedoch klar: Konstruktive Kritik am Personenkult war akzeptiert und gewollt, doch durfte sich daran keine generelle Kritik am sozialistischen Projekt entwickeln.
 
Gleichzeitig verfolgte Chruschtschow seit Stalins Tod eine Vielzahl von Reformprojekten, die allerdings wenig durchdacht waren. Die Wohnungsnot wollte er über eine radikale Wende im Bauprogramm bekämpfen, was zunächst zu ersten Erfolgen führte. Doch die neue massenweise Produktion billiger, vorgefertigter Bauteile war von miserabler Qualität. Einerseits konnte die Eroberung des Weltraums gefeiert und der ideologische Erzfeind USA damals noch deutlich auf den 2. Platz verwiesen werden. Doch versprochene Lohnerhöhungen blieben aus und gegen Ende der 1950er Jahre verschärfte sich der Versorgungsmangel. Andere Reformen sollten die innerparteiliche Demokratie stärken, doch nach anfänglicher Begeisterung über neue Partizipationsmöglichkeiten stellte sich alsbald Verdruss über konkurrierende Kompetenzbereiche und festgefahrene bürokratische Strukturen ein.

Das Ende des Staates

Zu guter Letzt wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion während des XXII. Parteitags 1961 der Leichnam Stalins aus dem Mausoleum entfernt. Die Straßen und Plätze, die seinen Namen trugen, wurden umbenannt. Auf diesem Parteitag versprach Chruschtschow auch, dass der Kommunismus zum Greifen nah sei – binnen einer Generation werde er erreicht. In dem dort beschlossenen, neu formulierten Parteiprogramm malte er aus, welche Planzahlen die sowjetische Wirtschaft in Zukunft erfüllen würde. Die Ideen von Marx und Lenin versuchten das Programm zu konkretisieren: Am Ende des Kommunismus stehe schließlich die Abschaffung des Staates selbst; der Partei käme nur noch verwaltende Funktion zu. Ein erster Schritt sollte das Rotationsprinzip sein, in dessen Rhythmus jeder Parteiposten alle paar Jahre wechseln sollte.8
 
Damit griff Chruschtschow zwar einen kommunistischen Kerngedanken auf, aber vor allem zielte er auf die Pfründe der Nomenklatura (wobei er sich selbst dabei natürlich vornehm herausnahm).9 Diese konnte das nicht akzeptieren und reagierte. Mit Verweis auf Chruschtschows chaotischen Führungsstil, die Unzufriedenheit in der Bevölkerung und nicht zuletzt die außenpolitische Beinahe-Katastrophe der Kuba-Krise setzte das Zentralkomitee ihn im November 1964 als Generalsekretär ab.
 
Doch wo 25 Jahre zuvor nachts der NKWD unliebsam Gewordene abholte, folterte, ins Lager sperrte oder erschoss, geschah nun – nichts. Das ZK-Plenum teilte Chruschtschow die Entscheidung am 14. Oktober 1964 mit und schickte ihn in Pension auf seine Datscha: „Breshnew legte ihm die Höhe der Pensionsansprüche, die Wohnung, Datscha, Krankenversorgung, den Kantinenzugang und Autotyp fest und bat ihn, sich nicht mehr in Moskau blicken zu lassen.“10 Am Ende gelang es Chruschtschow sogar, heimlich seine Memoiren auf Tonband aufzunehmen und von der Partei unbemerkt in den Westen zu schmuggeln. War das also nun Entstalinisierung, dass die in Ungnade Gefallenen nicht erschossen wurden?11

Entstalinisierung oder Goldene Stagnation?

Auf Chruschtschows Absetzung folgte sein früherer Schützling Leonid Breshnew. Dem Netzwerker gelang binnen zwei Jahren eine Restauration der Macht- und Parteienstruktur in der Sowjetunion. Er benannte den Posten des Ersten ZK-Sekretärs zurück in Generalsekretär und vereinte diesen mit dem des Regierungschefs.
 
Breshnews Ära gilt den einen als die der Stagnation, anderen als das sogenannte goldene Zeitalter der sowjetischen Geschichte. Die Versorgung der Bevölkerung stabilisierte sich auf niedrigem Niveau, doch die liberalen Lockerungen der vorangegangenen Jahre wurden wieder eingeschränkt. Zwanzig Jahre nach Kriegsende rückte auch die Erinnerung an den Sieg im Großen Vaterländischen Krieg wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Stalins Rolle (Stichwort: Generalissimus) wurde dabei sukzessive wieder positiv umgedeutet. Machtpolitisch war es ein autoritäres Patronagesystem,12 das vor allem von westlichen Beobachtern mitunter als Neostalinismus gelabelt wurde. Doch das Günstlingsnetzwerk innerhalb der Führungselite deutet weniger auf eine Restauration des Stalinismus unter Breshnew hin, sondern „bloß“ auf ein autoritäres Regime, das sich mit Ritualen und Inszenierungen seiner selbst stetig vergewisserte und dabei den Kontakt zur Gesellschaft vollends verlor. Von einer Rückkehr des stalinistischen Terrors blieb sie verschont.

Auch wenn die Sowjetunion Zeit ihres Bestehens eine Diktatur blieb, so änderte sie nach Stalins Tod deutlich ihr Antlitz. Auch nach 1953 blieb die Repression ein wichtiges Instrument der Systemstabilisierung, doch der omnipräsente Terror und die Millionen Toten sollten der Vergangenheit angehören. Auch wenn die Chruschtschow-Zeit als Entstalinisierung gilt, fand eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den stalinistischen Verbrechen nicht statt und hat es seitdem nicht nennenswert in das kollektive Gedächtnis geschafft.


1.O kul'te ličnosti i ego posledstviach: Doklad XX s''ezdu KPSS, in: Izvestija CK KPSS (3/1989), S. 132-158. Die 1956 im Anschluss veröffentlichten Stenogramme enthielten lediglich den Titel des Vortrags: XX s''ezd kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza, 14-25 fevralja 1956 goda: Stenografičeskij otčet, Tom II, Moskva 1956, S. 498 
2.Taubman, William (2005): Khrushchev: The Man and His Era, London, S. 273 
3.dazu auch: Aksjutin, Jurij (1990): Nikita Chruschtschow: „Wir müssen über den Personenkult die Wahrheit sagen“, in: Nikita Sergejewitsch Chruschtschow: Skizzen zur Biografie, Berlin, S. 40-52 
4.Dobson, Miriam (2006): „Show the Bandit-Enemies no Mercy!“: Amnesty, Criminality and Public Response in 1953, in: Jones, Polly (Hrsg.): The Dilemmas of De-Stalinization: Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era, New York, S. 21-40 
5.Jones, Polly (2006): From the Secret Speech to the Burial of Stalin: Real and Ideal Responses to De-Stalinization, in: dies. (Hrsg.): The Dilemmas of De-Stalinization: Negotiating Cultural and Social Change in the Khrushchev Era, New York, S. 41-63 
6.ebd. 
7.vgl. 1956 and Its Legacy, in: Europe-Asia Studies 58, 8/2006 
8.Programa kommunističeskoj partii Sovetskogo Sojuza: Prinjata XXII s''ezdom KPSS 31 oktjabrja 1961 goda: Na nemeckom jazyke, Moskva, 1961 
9.Merl, Stephan (2012): Politische Kommunikation in der Diktatur: Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich, Göttingen, S. 118-119 
10.Schattenberg, Susanne/Lehmann, Maike (2014): Stabilität und Stagnation unter Breschnew, in: Bundeszentrale für politische Bildung: Sowjetunion II: 1953-1991 
11.Baberowski, Jörg (2012): Wege aus der Gewalt: Nikita Chruschtschow und die Entstalinisierung 1953-1964, in: Bielefeld, Ulrich/Bude, Heinz /Greiner, Bernd (Hrsg.): Gesellschaft - Gewalt - Vertrauen: Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag, Hamburg, S. 401-437 
12.Oberender, Andreas (2008): Die Partei der Patrone und Klienten: Formen personaler Herrschaft unter Leonid Brežnev, in: Annette Schuhmann (Hrsg.): Vernetzte Improvisation: Gesellschaftliche Subsysteme in Ostmitteleuropa und in der DDR, Köln/Weimar/Wien, S. 57-76 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)