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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Russisches YouTube

YouTube ist die Informationspest unserer Zeit“ – postete Jewgeni Prigoshin Mitte Januar 2023 auf seinem Telegram-Kanal. Der Chef der berüchtigten Söldnergruppe Wagner behauptete, dass 40 Prozent der Videos auf dieser Plattform gegen Russland gerichtet seien.1 Jeder, so Prigoshin, der sich gegen die Schließung von YouTube stelle, sei ein „Volks- und Landesverräter“. Derartige Drohungen einer baldigen Blockierung von YouTube in Russland sind nicht neu, wurden bisher allerdings nie wahrgemacht. Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine ist es jedoch wahrscheinlicher geworden, dass Russland die populäre Videoplattform – analog zu westlichen sozialen Medien wie Instagram, Twitter und Facebook – blockieren könnte.

Das Noch-Offenhalten der Plattform wird häufig mit ihrer Popularität begründet:2 Mit über 90 Millionen Nutzerinnen und Nutzern monatlich ist YouTube in Russland überaus beliebt und liegt klar auf Platz eins der Video- und Streamingplattformen.3 Im Unterschied zur Online-Filmdatenbank kino.poisk und zum Online-Fernsehkanal rus-tv.su zeichnet sich YouTube durch seine Breite aus, da es neben privatem Content auch journalistische Beiträge zulässt. Dieses Alleinstellungsmerkmal sowie die Beliebtheit sind jedoch nur zwei der zahlreichen Gründe, warum YouTube bis heute in Russland noch frei zugänglich ist. Tatsächlich spielt die Videoplattform in der russischen Medienwelt eine komplexe Rolle bei der Informationsvermittlung – auch für die russische Staatsführung selbst.

Im gesamten Jahr 2022 hat die russische Medienaufsichtsbehörde mehr als 300 Medien blockiert und über 150 Journalistinnen und Journalisten zu „ausländischen Agenten“ erklärt.4 Mit einem Paket an Gesetzen hat die russische Regierung zudem dafür gesorgt, dass die Zensur in den staatlich kontrollierten Medien de facto verankert wurde, obwohl diese in Russland laut Verfassung verboten ist. Angesichts der Repressionen gegen die letzten unabhängigen russischen Medien kann YouTube gegenwärtig als eine der wenigen noch zugänglichen Bastionen der freien Meinungsäußerung in Russland bezeichnet werden. Sofern sie nicht aufgegeben haben, wechselten die verbliebenen liberalen und oppositionellen Medien mit ihren Formaten auf die Videoplattform und bauten ihre Kanäle zum Teil ganz neu auf. Dazu gehört der bekannte Radiosender Echo Moskwy, der seit Mitte März 2022 mit dem YouTube-Kanal Shiwoi gwosd (dt. Lebender Nagel) in reduzierter Form weiter existiert. Der Sender war zuvor über Nacht geschlossen worden.

Spätestens seit dem Jahr 2014, in dem das Staatsfernsehen in Russland immer mehr zu einem reinen Sprachrohr der Propaganda mutiert ist, wurde YouTube zu einer alternativen Informationsressource. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine hat diese Tendenz verstärkt. Dies gilt insbesondere für die jüngere Generation, die kaum noch Fernsehen guckt5 und die Plattform gleichermaßen zur Information und Unterhaltung nutzt. Auf YouTube findet beispielsweise der oppositionelle Online-Fernsehsender Doshd Platz, der dort bereits seit 2010 einen Kanal besitzt. Nach Beginn des Krieges hatte die Redaktion zwischenzeitlich ihre Kanäle auf allen Plattformen deaktiviert. Der Sender sah sich durch die neue Zensurgesetzgebung gezwungen, die Arbeit einzustellen. Erst seitdem die Medienschaffenden im Exil sind, streamt Doshd sein Programm wieder über YouTube. Dies geschieht unter erschwerten Bedingungen, weil sich das Team auf verschiedene Fluchtländer aufteilt und es Probleme mit der Sendelizenz gab.

„Neues Fernsehen“

YouTube wird in Russland bereits seit längerer Zeit als „neues Fernsehen“6 charakterisiert, da es Programme zeigt, die im Staatsfernsehen nicht mehr geduldet werden. Alexej Piwowarow, ein ehemaliger Journalist des früheren russischen Staatssenders NTW, beschrieb die Besonderheit von YouTube 2019 folgendermaßen: „Hier gibt es das, worin wir gut sind – Qualitätsjournalismus.“7

Auf seinem YouTube-Kanal Redakzija widmet sich Piwowarow in analytischen Sendungen oder Spezialreportagen aktuellen Themen, die im Staatsfernsehen entweder verschwiegen oder falsch dargestellt werden. Neben diesen zwei Formaten gibt es auf seinem Kanal auch Dokumentarfilme, die auf YouTube allgemein ein beliebtes Genre sind. Zu den am weitesten verbreiteten und populärsten Genres zählt das Interview, für das neben Piwowarow auch zahlreiche weitere YouTuber und YouTuberinnen aus Russland bekannt sind, darunter Katerina Gordejewa (Skashi Gordejewoi), Irina Schichman (A pogoworit?), Xenia Sobtschak (Ostoroshno: Sobtschak!) und Ilya Varlamov (varlamov). Letzterer hat Russland noch 2021 verlassen – alle anderen sind nach Beginn des russischen Angriffskriegs ebenso ins Exil gegangen.

Das bekannteste und erfolgreichste Interview-Projekt des russischen YouTube ist mit über zehn Millionen Abonnenten jedoch vDud, das der ehemalige Sportjournalist Juri Dud im Februar 2017 gestartet hat. An seinem Beispiel wird deutlich, warum YouTube auch als „Territorium der Freiheit“ bezeichnet wird: Juri Dud hält sich nicht an sprachliche Konventionen, lädt Gäste mit verschiedenen Ansichten und Einstellungen ein und spricht über „politisch brisante und gesellschaftlich tabuisierte Themen“8. Der Kanal vDud sowie die genannten anderen YouTube-Kanäle bieten somit Orte der Vielfalt und Meinungspluralität. Damit bilden sie einen krassen Gegenpol zum alles dominierenden und seit Kriegsbeginn von Propaganda überfluteten Staatsfernsehen.

Plattform des Protests

Obwohl YouTube bereits 2005 gegründet wurde, etablierten sich russische oppositionelle Politikerinnen und Politiker sowie Aktivistinnen und Aktivisten dort erst relativ spät. Seit den Massenprotesten 2011 bis 2013 wurde YouTube jedoch immer wichtiger für kritische Stimmen. Wie schnell pikante Informationen dort ein breites Publikum erreichen können, zeigte sich besonders deutlich im Jahr 2017 an dem 50-minütigen Dokumentarfilm On wam ne Dimon. Das Video hatte am dritten Tag nach Erscheinen bereits über 5,5 Millionen Aufrufe (46 Millionen bis heute). Als direkte Reaktion brachen in Russland landesweit Proteste gegen die Korruption der Eliten aus und die Demonstrierenden forderten unter dem Slogan „Dimon otwetit“ den Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Dimitri Medwedew. In dem Film zeichneten der Oppositionspolitiker Alexej Nawalny und sein Team nach, dass Medwedew der eigentliche Eigentümer verschiedener Immobilien in Milliardenhöhe sei, die auf dem Papier jedoch angeblich gemeinnützigen Stiftungen gehören.

On wam ne Dimon war jedoch nicht das einzige Enthüllungsvideo, das Nawalnys Antikorruptionsfonds FBK über Missstände in Regierungskreisen veröffentlicht hat. Die Plattform wurde zu Nawalnys wichtigstem Kanal, um seine Botschaften an ein Millionenpublikum zu bringen. Bis zu seiner Verhaftung im Januar 2021 nutzte der inzwischen weltweit bekannte Aktivist YouTube zugleich für den öffentlichen Schlagabtausch mit Vertretern der Staatsmacht. Im Staatsfernsehen waren ihm unterdessen Auftritte verwehrt; Wladimir Putin sprach öffentlich nicht einmal seinen Namen aus.

Ideologisches Kampfmittel

Für staatliche Medien, linientreue Journalistinnen und Journalisten sowie staatsnahe Portale ist das Verhältnis zu YouTube ambivalent. Seit vielen Jahren sind sie auf die Plattform angewiesen, auch wenn alles Westliche in zahlreichen Statements der staatlichen Propagandamaschinerie verteufelt wird. Um sich davon abzusetzen, wurde bereits 2006 ein Videoportal in russischer Sprache ins Leben gerufen, das sogenannte RuTube. Allerdings kann die russische Plattform, die Gazprom-Media gehört, mit seinen rund 16 bis 21 Millionen monatlichen Nutzerinnen und Nutzern nicht mit seinem US-amerikanischen Pendant mithalten: YouTube hat rund fünf Mal so viele Userinnen und User pro Monat. Deshalb hatten die wichtigsten staatlichen Fernsehkanäle Russlands sowie einzelne Shows und Moderatoren lange Zeit eigene Kanäle auf YouTube. Damit konnten sie ihre Reichweite vergrößern und die Videoplattform als „ideologisches Kampfmittel“9 nutzen. Bestes Beispiel dafür ist RT, das seit 2007 auf der Plattform aktiv war und in verschiedenen Sprachen – darunter Englisch, Arabisch, Spanisch, Deutsch, Französisch, Chinesisch und Russisch – ein breites Publikum erreichte.

Mit der großflächigen Invasion in die Ukraine vervielfachte sich die russische staatliche Propaganda und Desinformation auf YouTube. Kurz nach Kriegsbeginn, am 11. März 2022, blockierte YouTube daher europaweit vom russischen Staat finanzierte Kanäle, darunter RT, Sputnik sowie die Kanäle der Informationsagentur Rossija segodnja10. Damit reagierte das Unternehmen auf das in der EU verhängte Verbot russischer Staatsmedien. Im Mai 2022 löschte YouTube mehr als 9.000 Kanäle und 70.000 Videos, die in Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine standen, darunter auch Videos, in denen der Krieg als „Befreiungsmission“ beschönigt wurde. Außerdem entfernte YouTube die Accounts von Einpeitschern des Kreml wie jenen von Wladimir Solowjow.

Auch wenn die russischen Propagandisten und Staatsmedien nun vermehrt auf anderen Kanälen aktiv sind und beispielsweise über Telegram ein Millionenpublikum erreichen, finden sie auf YouTube nach wie vor einen Weg, um ihre Videos zu verbreiten. So hat RT einfach sein Logo in den Videos entfernt und verteilt seinen Content nunmehr auf mehr als 100 andere Kanäle, die immer wieder wechseln.11

Russlands breit angelegte Desinformationskampagne geht somit nach wie vor auch auf YouTube weiter. In diesem Sinne ist auch die Antwort des Ministers für Digitale Entwicklung, Maksut Schadajew, auf die eingangs zitierte Forderung des Wagner-Chefs Prigoshin nach einer Schließung von YouTube in Russland zu verstehen: Schadajew entgegnete im Januar 2023 zum wiederholten Mal, dass YouTube „ohne ernsthafte Gründe“ nicht blockiert werde, da es keine konkurrenzfähige vergleichbare Plattform gebe.12 Neben dem Fehlen einer ernsthaften Alternative wäre vermutlich der Aufschrei bei einem Verbot der Plattform groß – ist YouTube doch viel populärer und weit stärker frequentiert als beispielsweise Instagram oder Twitter. Zudem wird die westliche Videoplattform in Russland in erster Linie zur Unterhaltung genutzt.13 YouTube stellt somit kaum eine politische Gefahr für die russische Staatsmacht dar – im Gegenteil: Die russische Propaganda findet trotz Verboten und Sperren weiterhin Möglichkeiten, um die westliche Plattform erfolgreich für ihre Zwecke zu nutzen.


1.kuban24.tv: Evgenij Prigožin zajavil, čto YouTube v Rossii budet zakryt v bližajšee vremja 
2.thehill.com: Why Russia blocked Western social media — but not YouTube 
3.Inklient.ru: Statistika Rutube v 2022 godu 
4.novayagazeta.ru: Bʹet po mozgam 
5.Litvinenko, A. (2021): YouTube as Alternative Television in Russia: Political Videos During the Presidential Election Campaign 2018, in: Social Media + Society, 1C9. Hier S. 1 
6.novayagazeta.ru: Jutub vs staryj «jaščik» 
7.novayagazeta.ru: Jutub vs staryj «jaščik» 
8.Binder, Eva (2019): Kremlnah vs. kremlkritisch: Mediendiversität trotz Lenkung in Russland, in: Holzmann, K.; Hug, T. & Pallaver, G. (Hg.): Das Ende der Vielfalt? Zur Diversität der Medien. Innsbruck, 115–129. Hier S. 125 
9.Fuchs, C. (2019): Öffentlichkeit im Digitalen Kapitalismus, in: Holzmann, K.; Hug, T. & Pallaver, G. (Hg.): Das Ende der Vielfalt? Zur Diversität der Medien. Innsbruck, 49–66. Hier S. 59 
10.euronews.com: YouTube announces an immediate block on Russian state-funded media channels globally 
11.theguardian.com: RT videos spreading Ukraine disinformation on YouTube despite ban – report 
12.kuban24.tv: Maksut Šadaev: pozicija Mincifry po blokirovke YouTube ne izmenilasʹ 
13.hypeauditor.com: Top 1000 YouTube Channels in Russia 

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)