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Mediamasterskaja #3: Wissenschaftsjournalismus – seine Bedeutung und seine Herausforderungen

Wo liegen die Besonderheiten des wissenschaftlichen Journalismus, wie geht man mit schwierigen Quellen um und was macht die Arbeit des Wissenschaftsredakteurs so aktuell? In der vorerst letzten Folge unseres russischsprachigen Mediamasterskaja-Podcasts sprachen wir mit ausgewiesenen Wissenschaftsjournalisten über ihren Berufsalltag, die komplexen Feinheiten des Berufs als Wissenschaftsredakteur und die häufigsten Fehler bei der Arbeit.

In der ersten Folge des Podcasts diskutierten die belarussische Philosophin Olga Shparaga und die Gender-Forscherin Lena Ogorelyschewa, inwieweit die Rolle der Frauen bei den Protesten auch die belarussische Medienwelt geprägt hat.

In der zweiten Folge fragten wir den russischen Journalisten Maxim Trudoljubow und seinen belarussischen Kollegen Alexander Klaskowski, inwiefern der starke Druck auf Medien den unabhängigen Journalismus in beiden Ländern beeinflusst. 

Und in dieser Podcast-Folge waren zu Gast: Leonid Klimov, Wissenschaftsredakteur bei dekoder, und Darja Sarkissjan, medizinische Redakteurin bei Meduza. Wir bringen einige Auszüge aus dem russischsprachigen Podcast in deutscher Übersetzung.

 

Source dekoder

Leonid Klimov: Ich bin wissenschaftlicher Redakteur bei dekoder.org, einem Medium, das auf Deutsch und auf Russisch erscheint. Die deutschsprachige Version, für die ich zuständig bin, beschäftigt sich mit Russland und Belarus. Wir übersetzen unabhängige Medien aus Russland und Belarus ins Deutsche. Weil die Texte in erster Linie für das russische beziehungsweise belarussische Publikum geschrieben wurden, enthalten sie häufig vieles, das für den europäischen – in diesem Fall deutschen – Leser unverständlich ist (wie spezifische Realien, historische Ereignisse und so weiter). Um nur ein anschauliches Beispiel zu nennen, das mit der wörtlichen Übersetzung von Begriffen zu tun hat: Nehmen wir die Begriffe „Liberalismus“, „Demokratie“ – im russischen Kontext können sie etwas anderes meinen, als gemeinhin im deutschen Kontext darunter verstanden wird. Wenn der europäische Leser den Begriff „liberal-demokratische Partei“ liest, stellt er sich eine liberal-demokratische Partei vor. Er käme nicht auf die Idee, dass sich dahinter eine rechtsradikale Organisation verbergen könnte, die von jeher von ein und derselben Person angeführt wird.

In unseren Texten gibt es viele solcher Beispiele, deshalb haben wir von Anfang an – als wir 2015 an den Start gingen – beschlossen, dass wir ein „Kompetenzmodul“ brauchen. Dabei handelt es sich um ein System von kurzen Artikeln zu allen möglichen Themen, von „Wer ist Alexej Nawalny?“ bis hin zu der Frage, warum die Russen ihre Wände so gerne mit Teppichen schmücken. Die Texte werden von Wissenschaftlern aus verschiedenen – in der Regel europäischen – Forschungseinrichtungen für uns geschrieben. Als Redakteur war ich an der Entstehung und Weiterentwicklung dieses Textgenres beteiligt und betreue die ganze Infrastruktur. Das ist meine primäre Aufgabe bei dekoder.org.

Daneben bin ich für die Koordination des Projekts dekoder-Lab verantwortlich, in dessen Rahmen wir Specials an der Schnittstelle von Journalismus und Forschung herausbringen. Diese Specials werden in Zusammenarbeit mit Forschungseinrichtungen erarbeitet, wie dem Forschungszentrum Osteuropa in Bremen oder der Universität Basel, und behandeln ganz unterschiedliche Themen: Das erste Special war der Annexion der Krim gewidmet, das jüngste – der Geschichte der Dissidenten-Bewegung in der UdSSR.

Mediamasterskaja: Warum ist Wissenschaftsjournalismus so wichtig?

Leonid: Wissenschaftsjournalismus ist in erster Linie Journalismus. Genau, wie es investigativen, politischen, Wirtschafts- und Kulturjournalismus gibt, gibt es auch den wissenschaftlichen. Je nach Genre verändert sich der Gegenstand, aber die Prinzipien der journalistischen Arbeit bleiben dieselben.

Ein Wissenschaftsjournalist muss also zum Beispiel wie jeder andere Journalist die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung kritisch hinterfragen. Die Besonderheiten des wissenschaftlichen Journalismus hängen mit ihrem Gegenstand zusammen, also der Wissenschaft, die sich vor allem durch ihre Komplexität auszeichnet.

Bei allen Unterschieden haben Wissenschaft und Journalismus einiges gemeinsam. Die wichtigste Gemeinsamkeit ist wohl das Ziel: Beide streben letzten Endes nach der Wahrheit. Allerdings gehen sie mit ganz unterschiedlichen Methoden und Instrumenten dabei vor.

Die Unterschiede sind vor allem institutioneller Natur, aber auch was die Wahrnehmung von Zeit angeht. Ein Wissenschaftler braucht manchmal Jahre oder gar Jahrzehnte, um einen bestimmten Gedanken oder eine These zu formulieren, der Journalist hingegen muss seinen Text, nunja, am besten vorgestern abgegeben haben.

Journalismus und Wissenschaft verbindet eine besondere Beziehung zueinander

Auch die Fragen, die sich ein Journalist stellt, können ganz andere sein als die, die sich ein Wissenschaftler stellt. Es gibt eine ganz andere Vorstellung von der Relevanz einer Information als in der Wissenschaft – wissenschaftliche Relevanz verhält sich selten proportional zur gesellschaftlichen Relevanz.

Journalismus und Wissenschaft verbindet eine besondere Beziehung zueinander. Oder besser gesagt: eine besondere Beziehung zu dem Wert „Wissen“. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wählen weder Journalisten noch Forscher ihren Beruf, weil sie auf schnelles Geld oder sozialen Status aus sind. Beide gehen ihrer Tätigkeit nach, weil sie wissen wollen, wie die Welt funktioniert, weil sie sie gerne beobachten, ihre Schwierigkeiten sehen und bereit sind, kritische Fragen zu stellen. Aber vor allem sind sie bereit, um Antworten zu ringen, die oft unbequem sind. Und das hat, glaube ich, mit eben diesem besonderen Verhältnis zum Wissen zu tun, der Wissenschaft und Journalismus gemeinsam ist.

Wissen ist ein ganz besonderer Wert. Nehmen wir zum Beispiel den Wert „Toleranz“: Man kann sich leicht jemanden vorstellen, der den Wert der Toleranz bestreitet, oder der Solidarität, der Demokratie etc. Aber dass jemand sagt, Nichtwissen sei besser als Wissen, also den Wert des Wissens bestreitet, ist hingegen vermutlich nur in einem satirischen Kontext vorstellbar.

Andererseits wollen die Menschen einfache Antworten auf komplexe Fragen, und dieser Widerspruch scheint mir das eigentliche Problem. Ich habe mich schon oft gefragt, was Forscher und Journalisten antreibt, und jedes Mal komme ich an den Punkt, dass es die Freude an der Komplexität der Welt ist, daran, dass sie diese Komplexität wahrnehmen können. Einerseits wahrnehmen, und sie andererseits mit anderen teilen.

Bei vielen Themen ist die Relevanz nicht einfach gegeben

Aber sich mitzuteilen und andere davon zu überzeugen, was wirklich wichtig ist, sind zwei unterschiedliche Paar Schuhe. Wissen wird oft als ein Gegenstand wahrgenommen, sagen wir, ein Aktenkoffer, den ein Mensch dem anderen einfach geben kann, nach dem Motto: „Ich weiß, dass du dieses Wissen nicht hast, also gebe ich es dir, und dann hast du es auch.“ Aber so einfach ist das in der Regel nicht. Manchmal bleibt der Koffer, um bei dieser Metapher zu bleiben, ungeöffnet in der Ecke stehen.

Was muss geschehen, damit der Koffer geöffnet wird? Da gibt es zwei Antworten. Die erste betrifft die Relevanz, die von außen vorgegeben ist. Nehmen wir zum Beispiel die Pandemie: Wir alle befinden uns in einer Extremsituation und sind auf Informationen angewiesen, denen wir vertrauen können. In der Regel kommen diese Informationen aus der Wissenschaft, und wir verarbeiten sie auf die eine oder andere Weise weiter. Hier werden Wissenschaftsjournalisten gebraucht, die die Komplexitätsschwelle herabsetzen und dem Leser die Ergebnisse der Forschung näherbringen.

Aber bei vielen Themen ist die Relevanz nicht einfach gegeben, man muss sie mit anderen Mitteln generieren. Die Wissenschaft verfügt über solche Mittel so gut wie gar nicht, weil sie sich fast ausschließlich an ein internes Publikum richtet. Das ist eine Besonderheit dieses Systems – es ist gewissermaßen in sich geschlossen, wobei wir durchaus beobachten können, dass sich die Wissenschaft allmählich öffnet. Das ist ein langwieriger Prozess, der noch viel Zeit brauchen wird.

Bei diesem Prozess spielt der Wissenschaftsjournalismus meines Erachtens eine Schlüsselrolle. Nicht, weil die Wissenschaft daran interessiert wäre, sich als System nach außen hin zu öffnen, sondern weil man Instrumente und Mechanismen braucht, mit denen man Forschungsergebnisse in den gesellschaftlichen oder den Mediendiskurs konvertiert.

Mediamasterskaja: Wie muss die Sprache eines Beitrags beschaffen sein, der auf Forschungsergebnissen basiert?

Leonid: Einerseits muss der Wissenschaftsjournalist die komplexe Information in eine zugängliche Sprache bringen. Besonders wichtig ist das bei solchen Themen wie Covid-19, wo regelmäßig neue Studien herauskommen, die sich unmittelbar auf unser Leben auswirken. Dort ist das primäre Ziel tatsächlich, die Distanz zwischen der wissenschaftlichen Studie und dem Leser zu verkürzen. Hier muss genau nachvollziehbar sein, worum es geht, was das für eine Studie ist, woher die Daten kommen und vor allem, wie sie sich auf unser Leben im Alltag und darüber hinaus auswirken. Diese Distanz zu überbrücken ist die Hauptaufgabe, die gelöst werden muss.                                         

Aber es reicht nicht immer aus, eine komplexe Sprache in eine einfache zu übersetzen. Im Fall von Covid-19 liegt die Relevanz der Forschung auf der Hand, sie ist offenkundig gegeben, aber in vielen anderen Bereichen ist die Relevanz nicht so offenkundig. Dann ist es die Aufgabe des Journalisten, die Relevanz aufzudecken – und manchmal sogar zu erzeugen.

Ich glaube, Journalisten und Redaktionen werden in Zukunft verstärkt nach Formaten suchen müssen, mit deren Hilfe man mit dem Leser wissenschaftliche Themen näherbringen kann. Diese Formate haben nicht immer mit Vereinfachung zu tun.

Die Wissensvermittlung muss mit einer positiven Erfahrung einhergehen

Aus unserer Dekodierungs-Praxis kann ich sagen: Wir haben sehr viel darüber nachgedacht, wie wir die Relevanz von wissenschaftlichen Studien deutlich machen, bei denen sie nicht auf der Hand liegt. Meine Auffassung ist, dass die Wissensvermittlung mit einer positiven Erfahrung einhergehen muss, das Wissen muss buchstäblich ästhetischen Genuss bringen. Und genau daran arbeiten wir bei dekoder.org: Wir entwickeln Formate, die eine positive Erfahrung mit dem Erkenntnisgewinn verknüpfen. Wir experimentieren mit unterschiedlichen Formaten: grafisch, visuell. Manchmal sind das Zeichnungen, die eine Geschichte erzählen, oder Biografien, wie im Falle des Dissidenten-Specials. Manchmal ist das eine stufenartige Struktur, bei der der Leser erst mit ganz einfachen Dingen in Berührung kommt, die sein Interesse wecken, und sich dann diese Treppe bis nach oben vorarbeiten kann, bis er schließlich bei wissenschaftlicher Literatur ankommt.

Mediamasterskaja: Wie sind die Arbeitsabläufe bei dekoder.org? 

Leonid: Bei unseren Planungssitzungen legen wir fest, welche Themen uns interessieren und wir für relevant halten, dann begeben wir uns auf die Suche nach Autoren und beauftragen einen Text. Der Redakteur bereitet sich gleichzeitig darauf vor, den Text zu redigieren. Er führt eine eigene, unabhängige Recherche durch und stellt, wenn er den fertigen Text bekommt, genau jene unbequemen Fragen, von denen ich sprach.

Der Text entsteht also in Zusammenarbeit zwischen Autor und Redakteur. Er wird oft mehrmals hin und her geschickt: Redakteur und Autor suchen gemeinsam nach dem richtigen Ton, korrigieren, arbeiten am Textaufbau, um das Interesse des Lesers einzufangen, ihm die Relevanz, die Bedeutung und die Wichtigkeit des Themas aufzuzeigen.

Ein anderes wichtiges Element ist, dass ein wissenschaftsjournalistischer Text im Idealfall in sich geschlossen sein muss. Nicht in dem Sinne, dass er nicht mitten im Satz aufhört, sondern dass die Information, die der Leser braucht, um diesen konkreten Text zu verstehen, darin enthalten sein muss. Wenn es um wissenschaftliche Studien geht, ist das natürlich nicht immer eins zu eins möglich, aber das ist nichtsdestoweniger das, was man anstreben muss.

Außerdem muss man immer im Blick behalten, dass Wissenschaft an sich komplex ist. Sie bedient sich eines komplexen Instrumentariums, einer komplexen Sprache, behandelt komplexe Themen, von denen der konkrete Leser die in der Regel sehr weit entfernt ist. Deshalb spielt bei einem wissenschaftsjournalistischen Text auch das Narrativ, die Erzählung, eine nicht minder wichtige Rolle als die Sprache.

Ich denke oft an ein Beispiel aus dem Buch eines Schweizer Journalisten, der, um ein großes Schiffsbauteil zu beschreiben, anstatt der Größenangabe einen Vergleich angeführt hat: „Das Bauteil hatte die Größe einer kleinen Bankfiliale.“ Eine Meterangabe hätte wohl nicht dieselbe Wirkung auf den Leser wie diese anschauliche Beschreibung, die jedem Leser einleuchtet. Es ist wichtig, in komplexen Texten zu komplexen Themen solche vertrauten „Inseln“ zu verteilen, die den Leser bis zum Ende durch den Text begleiten.

Mediamasterskaja: Warum sind Wissenschaftler und Journalisten nicht unbedingt Freunde?

Leonid: Auf beiden Seiten bestehen gewisse Ressentiments. Journalisten sind oft der Meinung, dass sich Wissenschaftler häufig mit Themen beschäftigen, die niemanden interessieren oder sie absichtlich in einer Sprache schreiben, die niemand versteht. Wissenschaftler andererseits empfinden den Kontakt zu Journalisten als unbefriedigend, weil sie glauben, dass man sie zu sehr vereinfacht, wichtige Informationen wegkürzt etc.

Wissenschaftler sind selten „bequeme“ Autoren. Es ist schwer, mit ihnen zu arbeiten, ihre Texte sind schwer zu redigieren. Aus ebendiesem Grund muss der Wissenschaftsjournalist in beiden Welten zu Hause sein, er muss eine Vorstellung davon haben, wie der Journalismus auf der einen und die Wissenschaft auf der anderen Seite funktioniert. Außerdem muss er immer bedenken, dass im Fokus der journalistischen Arbeit nicht der Wissenschaftler steht, sondern der Leser, dem er diese komplexe Welt näherbringen will, indem er sein Interesse, seine Neugier und seine Begeisterung weckt.

Mediamasterskaja: Wie wird man Wissenschaftsjournalist?

Leonid: Es gibt nicht den einen richtigen Weg in den Wissenschaftsjournalismus: Ob man sich als „normaler“ Journalist auf den Wissenschaftsjournalismus spezialisiert, oder ob man aus der Wissenschaft zum Journalismus kommt – beide Wege sind gleichermaßen möglich. Ich denke, eine größere Rolle spielen die persönlichen Präferenzen und Fähigkeiten, es ist ein individueller Weg, den man nicht unbedingt institutionell einfassen kann. Ich für meinen Teil komme aus der Forschung und muss gestehen, dass ich nie den Plan hatte, Journalist zu werden, das hat sich zufällig so ergeben.

Ich bin überzeugt, dass ein seriöses Medium sich nicht erlauben kann, keine Wissenschaftsjournalisten in seinem Stab zu haben, weil sonst die Tiefe der Berichterstattung verloren geht. Das ist genau wie in jedem anderen journalistischen Bereich: Praktisch in jeder großen Redaktion muss es Leute geben, die ihre Informationsquellen aus der Politik, aus der Wirtschaft und anderen Bereichen haben. Dasselbe gilt auch für Wissenschaftsjournalisten. Ein guter Wissenschaftsjournalist hat selbstverständlich seine Leute, die er zu Rate ziehen kann und die ihn an Kollegen verweisen. Solche Quellen sparen sehr viel Zeit bei der Vorbereitung eines Texts. Der Weg von der Erkenntnis eines Problems bis zur Realisierung der Idee im Text wird so deutlich kürzer. Gleichzeitig gibt es der Beleuchtung des Themas eine Tiefe, die für jedes ernstzunehmende Medium unabdingbar ist.

Konkret: Die Besonderheiten des Medizinjournalismus

Darja Sarkissjan: Mein Name ist Dascha Sarkissjan. Ich arbeite als Medizinredakteurin bei Meduza und bin seit über zehn Jahren im Bereich des Medizinournalismus tätig. In den Beruf bin ich ohne medizinische Ausbildung gekommen, ich habe an der MGU Journalismus studiert. Irgendwann gegen Ende des Studiums habe ich gemerkt, dass ich mich für Medizin begeistere. Mir gefällt es, dass es dort Fakten gibt, auf die man sich stützen kann. Mir gefällt die soziale Komponente, dass es Probleme gibt, über die man unbedingt sprechen möchte. Ich glaube, mit Hilfe des Medizinjournalismus lassen sich Konflikte aus dem Weg räumen, denn ist es ja oft so, dass sich Ärzte und Patienten wegen Dingen streiten, die es gar nicht wert sind. Und die Rolle des Journalisten besteht genau darin, diese Missverständnisse aus dem Weg zu räumen.

Der Medizinjournalismus überschneidet sich in großen Teilen mit dem Wissenschaftsjournalismus – es gibt ja auch den Begriff der „medizinischen Wissenschaft“ –, und ein großer Teil dieser ganzen Corona-Geschichte gehört genau in die medizinische Wissenschaft. Aber der Medizinjournalismus umfasst natürlich noch viel mehr. 

Das können auch gesellschaftliche Probleme sein, denn sobald du anfängst, über ernsthafte Erkrankungen zu schreiben, hast du schnell mit wohltätigen Stiftungen und anderen nichtkommerziellen Organisationen zu tun. Alle Themen des Gesundheitswesens, die nicht von Wissenschaftsjournalisten abgedeckt werden, fallen in den Bereich des Medizinjournalismus, das können zum Beispiel auch veterinärmedizinische Themen sein.

Ich arbeite sehr gerne bei Meduza. Unter anderem auch deshalb, weil bei uns unterschiedliche Fachleute in den jeweiligen Bereichen arbeiten, also eng spezialisierte Redakteure. Es gibt einen Austausch mit Kollegen, die einen ganz anderen Hintergrund haben. Wir haben zum Beispiel einen Wissenschaftsredakteur und einen Redakteur für das Kulturressort, nur einen Sportredakteur haben wir nicht. Aber unsere Redaktion ist auch eher klein. Ich finde es gut, dass wir nicht ein Wissenschaftsmedium im engeren Sinne sind, sondern ein populärwissenschaftliches. Es gibt immer jemanden in der Redaktion, der keine Ahnung hat, was ADHS ist oder was ein Antigen von einem Antikörper unterscheidet. Und genau das sind unsere Leser.

Mediamasterskaja: Warum braucht ein Wissenschaftsjournalist immer neue Erkenntnisse?

Darja: Man kann sich vergraben, sich in irgendwelchen Begriffen verlieren und einen völlig unverständlichen Text schreiben, weil niemand in der Nähe war, kein Redakteur, der ihn gelesen und gesagt hätte: „Das ist totaler Murks, man versteht kein Wort, schreib das bitte nochmal auf Russisch.“ Und dann hinzugefügt hätte: „Wie würdest du mir das erklären, wenn ich überhaupt nicht im Thema bin?“

Das ist manchmal unglaublich wichtig. Besonders, wenn du einen wissenschaftlichen Text liest, irgendwas ganz Trockenes, die Empfehlungen einer Ärztevereinigung zum Beispiel. Und das alles ist in einer sperrigen Sprache geschrieben, mit Unmengen von wissenschaftlichen Begriffen. Damit man den Schalter umlegen kann und anfängt, in einer maximal zugänglichen Sprache zu schreiben, „auf Russisch“, muss man sich sehr anstrengen. Ich persönlich scheitere manchmal daran.

Im Medizin- und Wissenschaftsjournalismus ist Erfahrung das A und O

Wenn Sie eine kleine Redaktion haben, aber manchmal Texte zu medizinischen oder wissenschaftlichen Themen schreiben müssen, wäre es sehr gut, dafür einen bestimmten Mitarbeiter zu wählen, der für diesen Bereich zuständig ist. Denn im Medizin- und Wissenschaftsjournalismus ist Erfahrung das A und O. Selbst heute, nach zehn Berufsjahren, passiert es mir immer noch, dass ich etwas falsch mache, weil ich einfach nicht weiß, dass da etwas nicht stimmt, dass etwas ein weit verbreiteter Irrtum ist, dem sogar Ärzte erliegen. Und ich gar nicht auf die Idee gekommen bin, die Sache zu überprüfen, weil sie so einleuchtend schien.

Zum Beispiel das Wort „Narkose“. Ein relativ harmloses Wort. Man hört sogar von Ärzten oft den Begriff „Vollnarkose“ – aber das ist im Grunde falsch, denn das Wort Narkose bedeutet schon so viel wie Allgemeinanästhesie. Oder andersherum: Es ist völlig verkehrt von „örtlicher Narkose“ zu sprechen. Das ist nicht nur ein Pleonasmus, sondern inkorrekt, weil eine Narkose nicht lokal sein kann, lokal sein kann nur eine Anästhesie. Komm da mal auf die Idee, dass man das überprüfen sollte! 

Eigentlich reicht es auch nicht, sich mit diesem Thema zu beschäftigen – man muss es lieben, sich regelmäßig darin vertiefen, in seiner Freizeit darüber lesen, Filme sehen, mit Menschen sprechen, die sich damit auskennen, Podcasts und Vorträge hören. Das ist ein unaufhörliches Selbststudium, selbst für die Leute, die mit einer medizinischen Ausbildung zum Journalismus kommen, denn Wissen hat die Eigenschaft, schnell zu veralten. Außerdem sind da natürlich noch die verschiedenen Gebiete: Wenn jemand sein Studium abgeschlossen und seinen Facharzt in Gynäkologie gemacht hat, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sein Wissen in der Unfallkunde nicht auf dem allerneuesten Stand ist. Deshalb muss man sich ständig fortbilden, lesen, versuchen, so viel Informationen wie möglich aufzunehmen, die dir irgendwann nützlich sein könnte.

Mediamasterskaja: Was sind weit verbreitete Fehler im Medizinjournalismus?

Darja: Journalisten, die nur selten über Medizin oder Wissenschaft schreiben, machen ziemlich oft dieselben Fehler. Mir tut es zum Beispiel weh, wenn man Forschungen an Zellkulturen oder Versuche an Mäusen auf Menschen zu übertragen versucht, manchmal schon in der Schlagzeile („Forscher haben ein Mittel gegen Alzheimer entdeckt“). Man macht den Text auf, und es ist nicht annähernd die Rede von klinischen Untersuchungen, nur von Wissenschaftlern, die irgendein Molekül entdeckt haben, das theoretisch funktionieren könnte. Oder bei Mäusen funktioniert. Aber leider wirkt das, was bei Mäusen wirkt, nicht immer beim Menschen. Selbst wenn, würde es noch ungefähr  zehn bis 15 Jahre dauern, bis ein entsprechendes Medikament auf den Markt käme. Es ist nicht besonders fair, den Menschen Hoffnung zu machen und ihnen zu suggerieren, dass sie schon bald ihren an Alzheimer erkrankten Angehörigen helfen können.

Generell hat ein Journalist die Pflicht, Fakten zu prüfen. Das ist manchmal nicht einfach. Die Redaktionen stehen natürlich ständig unter Zeitdruck, es fehlen Leute. Aber leider kann man dann nunmal keinen qualitativ hochwertigen Content produzieren. Wir dürfen nicht vergessen, dass jeder sich irren kann, man muss eben immer alles prüfen.

Man kann versuchen, seinen Ansprechpartner selbst zu bitten, Verweise zu den entsprechenden Quellen zu schicken, aber auch Ärzte haben wenig Zeit und nicht alle sind dazu bereit. Übrigens, wenn ein Arzt sich aufregt, dass Sie seine Aussagen überprüfen wollen, ist das kein besonders gutes Zeichen. Das bedeutet, dass er nicht damit gerechnet hat, dass man ihn hinterfragt.

Ein anderes Problem entsteht, wenn Journalisten – vor allem, wenn sie über gesellschaftlich relevante Themen schreiben – mit Problemen konkreter Menschen konfrontiert werden (zum Beispiel mit der Versorgung einer bestimmten Gruppe mit Medikamenten) und emotional aufgeladene Geschichten hören, sich zu sehr damit identifizieren und beginnen, die Fakten an ihre Theorie anzupassen. Das ist dann schon mehr Aktivismus als Journalismus. Das ist natürlich nicht optimal.

Mediamasterskaja: Wie wählt man seine Primärquellen?

Darja: Medizinjournalismus ist genau wie Wissenschaftsjournalismus teuer. In einem Absatz können Stunden, in einem Artikel mehr als ein Monat Arbeit stecken. Und dann ist es nicht einmal ein super populäres Material, das der Redaktion Ruhm bringen würde. Es kostet einfach viel Zeit, Informationen zu beschaffen und zu überprüfen. Das geht nicht auf die Schnelle.

Man muss sich mit wissenschaftlichen, medizinischen Quellen vertraut machen. Es gibt kein universelles Rezept, keinen universellen Ratschlag, welchen Quellen man immer vertrauen kann. Aber es gibt einige Kriterien: Zum Beispiel darf die Seite, von der Sie Ihre Information beziehen wollen, nichts verkaufen. Wenn eine Internetseite Ihnen etwas über Gesundheit erzählt und gleichzeitig Nahrungsergänzungsmittel verkauft, sollte sie nicht als vertrauenswürdige Informationsquelle dienen.

Mediamasterskaja: Wie wird man Medizinjournalist?

Darja: Ich bin oft mit Snobbismus konfrontiert, weil ich über Medizin schreibe, ohne eine medizinische Ausbildung zu haben. Zunächst einmal möchte ich sagen, dass ich immer sehr gewissenhaft an die Arbeit mit Informationsquellen gehe. Wann immer es möglich ist und die Zeit es zulässt, bitte ich einen Arzt, der Spezialist auf diesem Gebiet ist, sich den Text anzuschauen. Wenn das ein Text über Nesselfieber ist, dann frage ich einen Allergologen, der Nesselfieber „super“ findet. Wenn das ein Text über Inkontinenz ist, dann frage ich einen Gynäkologen, der zu Inkontinenz promoviert hat, und nicht einfach irgendeinen Arzt, wie das in vielen Medien gehandhabt wird. Wenn dir ein Unfallchirurg erklärt, wie man Corona behandelt, ist das eher suboptimal.

Es kann sein, dass ein Mediziner es anfangs leichter hat, sich im medizinischen Journalismus zurechtzufinden, weil er keine Berührungsängste mit dem Wort „Neurotransmitter“ hat. Aber dieser Unterschied bügelt sich mit der Zeit aus. Ich glaube, man sollte sich nicht für seinen Hintergrund schämen. Journalisten können genauso gut zum Medizinjournalismus kommen wie Ärzte. Das Entscheidende ist hier nicht unbedingt, was man studiert hat, sondern wie sehr man dafür brennt, ob man wirklich bereit ist, jede Information zu überprüfen, wie akribisch man generell ist. Und natürlich muss man die Grundlagen des Journalismus beherrschen. Aber das ist ein anderes Thema.

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Die Higher School of Economics zählt zu den renommiertesten russischen Hochschulen im Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften. Die Reformuniversität wurde Anfang der 1990er gegründet, um Wirtschaftsexperten für den Aufbau der Marktwirtschaft auszubilden. Heute zählt die Hochschule zu den führenden Forschungsuniversitäten in Russland und nimmt auch politisch eine wichtige Rolle ein.

Die Entstehung der Hochschule geht auf die Initiative führender liberaler Ökonomen und Reformer wie Jewgeni Jasin, Jaroslaw Kusminow und Jegor Gaidar zurück. Sie gründeten 1992 mit der Higher School of Economics (HSE) eine neue Universität nach westlichem Vorbild, um dringend benötigtes Fachpersonal für die Systemtransformation auszubilden und die Regierung bei ihren Reformbemühungen zu unterstützen. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es praktisch keine Wirtschaftswissenschaften nach „westlichem“ Vorbild, denn die ökonomische Ausbildung orientierte sich an der marxistischen Ideologie.

Unterstützt durch eine üppige Finanzierung aus dem Wirtschaftsministerium entwickelte sich die HSE schnell zur führenden liberalen Wirtschaftsuniversität in Russland. Die Wyschka, wie die Higher School of Economics (russ. Wysschaja Schkola Ekonomiki) im Volksmund genannt wird, erweiterte sukzessive ihr Fächerspektrum und zählt inzwischen auch im Bereich der Sozialwissenschaften zu den besten Hochschulen im Land, gemeinsam mit der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität und dem Moskauer Institut für Internationale Beziehungen. Sie betreibt, neben dem Moskauer Hauptsitz, auch Filialen in Sankt Petersburg, Perm und Nishni Nowgorod.

Die wissenschaftliche Bedeutung der HSE wurde zuletzt weiter aufgewertet: Als einzige Universität mit sozialwissenschaftlichem Profil erhielt sie 2009 den begehrten Titel „Nationale Forschungsuniversität“. Zudem wird die HSE in einer Art russischer Exzellenzinitiative seit 2013 als eine von 21 russischen Universitäten zusätzlich gefördert, um international zur Weltspitze aufzuschließen.    

Aber nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch politisch kommt der HSE eine wichtige Rolle zu: Als zentrale Institution des wirtschaftsliberalen Flügels im Machtapparat wirkt die HSE an zahlreichen Reformen der Wirtschafts- und Sozialpolitik mit und war zum Beispiel maßgeblich an den Bildungsreformen der letzten Dekade und an der Ausarbeitung der Strategie 2020 beteiligt. Die liberalen Vertreter und Experten der HSE kritisieren regelmäßig politische Fehlentwicklungen im Land und zeigen in ihren Analysen Missstände verfehlter Politik auf. 

Als im Juni 2019 bekannt wurde, dass die HSE den Fachbereich für Politikwissenschaft mit einem anderen Fachbereich zusammenlegen will, glaubten viele Beobachter in Russland, dass diese Umstrukturierung vor allem eines zum Ziel hat: kritische Lehrende zum Verstummen zu bringen. Tatsächlich ist das Schicksal zahlreicher Professoren und Dozenten an der sogenannten Wyschka damit offen. Vor diesem Hintergrund meinte Alexander Kynew in einem Interview mit Znak, dass die Hochschulpolitik der letzten Jahre einer Gesetzmäßigkeit folge: Jeder abweichende Standpunkt, so der HSE-Politologe, werde als Bedrohung angesehen. Insbesondere würden aber Hochschulen zur Zielscheibe, denn dort werde die bei Protestaktionen aktive Jugend ausgebildet.

Stand: 09.07.2019

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