Ab wann ist Russland-Kritik keine Kritik mehr, sondern Russland-Bashing? Wie viel Kritik muss man einstecken können, welche sich auch mal verkneifen? Und wann artet das „Bashing“ in einen regelrechten „Hass“ aus? Das russische Kulturministerium hat einen Forschungswettbewerb ausgeschrieben über „Technologien der Russlandphobie“.
Leider sind dabei auch die Antworten schon vorgegeben, bedauert Olga Filina in ihrem Beitrag auf Kommersant-Ogonjok – und analysiert Karriere und Wirkung des Begriffs „Russlandphobie“.
Der sowjetische Soziologe Boris Porschnew bemerkte bereits Mitte des 20. Jahrhunderts, mit der Entdeckung des „Feindbilds“ habe die Menschheit einen großen Fund gemacht: Es habe ihre Evolution vorangebracht. Der Durchbruch zum Menschsein sei nämlich erst möglich geworden, indem die Neandertaler zu „den Anderen“, zu „Feinden“ gemacht und dadurch die Konkurrenz vom Antlitz der Erde verdrängt wurde.
Wie weit diese Hypothese stimmt, ist unbekannt, in der politischen Theorie und Praxis Russlands aber wurde auf die Ausformung eines Feindbildes immer großen Wert gelegt. Nach dem vertrauten Schema: Willst du einen Sprung in die Zukunft tun, finde heraus, wer deine „Feinde“ sind, und dann handle ihnen zum Schaden.
Das Kulturministerium als das Amt, das sich um die kulturellen Codes der Nation kümmern soll, erspürte feinfühlig diesen Impuls und schrieb – mit der Erklärung, es reife „nachweislich eine historische Etappe der nationalen Wiedergeburt Russlands heran“ – einen staatlichen Forschungsauftrag zur Erkundung russlandfeindlicher Stimmungen im Land und in der Welt aus. Konkret: Im Internet läuft auf der Plattform für öffentliche Staatsaufträge ein mit 1,9 Millionen Rubel [etwa 27.000 Euro] dotierter Wettbewerb für wissenschaftliche Forschungsarbeiten zum Thema: „Technologien der kulturellen Entrussifizierung (Russlandphobie) und staatlich-institutionelle Reaktionsmöglichkeiten auf diese Herausforderung“. Wer gern Licht in diese wichtige Staatsangelegenheit bringen möchte, ist dazu aufgerufen, bis zum 25. Juli seine Bewerbung einzureichen.
Und zu tun gibt es viel: Gefordert ist, „Genese und Grundlagen von Phobien offenzulegen“, „das Phänomen der Russlandphobie im Kontext weltweiter Phobiensysteme zu beleuchten“, „Strategeme und Praktiken der Russlandphobie in der Staatspolitik der geopolitischen Gegner Russlands zu rekonstruieren“, „empirisches Material zur innerrussischen Auffächerung der Russlandfeindlichkeit zu systematisieren (Smerdjakowschtschina, Fünfte Kolonne)“ und natürlich verschiedene Analysen am gewonnenen Material vorzunehmen – Problemanalysen, Faktorenanalysen – mit dem Ziel, „praktische Empfehlungen“ zu erarbeiten. Die Zeit drängt (offenbar reift die Wiedergeburt Russlands recht schnell heran), daher erwartet das Ministerium den fertigen Bericht schon im Oktober.
Offenbar reift die Wiedergeburt Russlands recht schnell heran
Liest man die Präambel der Aufgabenstellung des Kulturministeriums, so stellt man fest: Hier hat man eine Sammlung bekannter Statements russischer Politiker und Beamter der letzten Monate vor sich, die mit abgehobenen wissenschaftlichen Formulierungen noch künstlich aufgeblasen ist.
Die Verfasser der Präambel haben sich offensichtlich an Putins Rede beim Treffen des Waldai-Klubs orientiert. Dort warf er die Frage auf nach „der pauschalen Abstempelung [Russlands] und dem Aufbau eines Feindbildes [...] durch die Regierungen von Ländern, in denen man doch eigentlich immer den Wert der Redefreiheit predigte“.
So wie der Präsident die Frage stellte, wirft sie keine Zweifel auf – es ist, wie’s eben ist. Aber danach begannen die schöpferischen Deutungen von Leuten aus dem Staatsapparat oder seiner Nähe, die alle noch ihr eigenes besonderes Scherflein beitragen wollten.
Bald zeigte sich, dass fast jedes Ministerium und jede Behörde Russlands eine eigene Meinung zum Phänomen der Russophobie und zu deren „Genese und Grundlagen“ hat.
Ein praktischer Terminus, den sich jeder zurechtbiegen kann
Zum Beispiel meint das Verteidigungsministerium in seiner geradlinigen Art, hier offiziell vertreten von Igor Konaschenkow, alles liege an der kranken Psyche der US-Militärführung, die sei nämlich in eine „russophobe Hysterie“ verfallen.
Das Außenministerium in der Person von Maria Sacharowa sieht hinter den aktuellen Entwicklungen pragmatische Interessen: „Russophobie bringt gute Geschäfte, die NATO erhöht ja ihr Budget“.
Das Kulturministerium, konkret sein Chef Wladimir Medinski, hat bereits mehrmals geäußert, die Wurzeln der Russophobie lägen in einem Wertekonflikt zwischen Russland und dem Westen.
Schließlich treibt die Staatsduma (insbesondere Alexej Puschkow, Vorsitzender des außenpolitischen Komitees der scheidenden Parlamentsmitglieder) die Idee voran, Russophobie „wandle sich von einer Stimmung zu einer politischen Haltung“ und sei im Grunde ein Instrument zur geopolitischen Einflussnahme.
Kurz, Russophobie entpuppt sich als einer dieser praktischen Termini, die sich jeder nach seinem Geschmack zurechtbiegen kann, ohne gegen die allgemeine Linie zu verstoßen.
Russlandphobie als „clash of civilisations“
Die Aufgabenstellung des Kulturministeriums hebt die Messlatte der Diskussion nun auf ein neues Niveau, indem sie eine Unterscheidung der Begriffe „Russophobie“ und „Russlandphobie“ fordert. Russophobie wird dabei als etwas Privates und ethnisch Geprägtes gehandelt, Russlandphobie hingegen wörtlich als „Ergebnis des Aufeinanderprallens historischer Projekte, in Huntingtons Terminologie – eines clash of civilisations“. Damit ist Russlandphobie weniger eine Aversion gegen die Russen als gegen die „russische Zivilisation“, die wir ja irgendwie inzwischen auch „russische Welt“ nennen.
Zum Thema Russlandphobie hat bisher niemand von hohen Tribünen herab etwas verlauten lassen. Insofern kann man die Ausschreibung des Kulturministeriums auch als Auftrag verstehen, den neuen Terminus in den öffentlichen Diskurs einzuführen, ihm eine „wissenschaftliche Grundlage“ zu geben.
Für diese These spricht, dass die Behörde so klug war, gleich in der Aufgabenstellung der Untersuchung alle notwendigen Ergebnisse vorzugeben (von der Unterscheidung russen- und russlandfeindlicher Stimmungen bis zur Feststellung, die letzteren seien weit verbreitet). Die Forscher müssen für diese Befunde nurmehr das nötige Fundament finden – wofür dann die vorgesehenen drei Monate auch wirklich reichen.
Einerseits ist bedauerlich, dass unsere kultivierteste Behörde an einer profunden Analyse der politischen Antipathien, die in der modernen Welt Konflikte und Spannungen schüren, nicht interessiert ist. Andererseits wirkt der Versuch, die Existenz einer besonderen russischen Zivilisation, eines „russischen Projektes“, anhand von „feindlichen Angriffen“ zu beweisen, insgesamt apart. Nach der Menge an russlandfeindlichen Äußerungen zu urteilen, die allein die Ausschreibung dieses öffentlichen Auftrages hervorrief, kann man sagen: Der Streich ist gelungen.
Vielleicht diente all das auch nur einem einzigen Zweck: einen Versuchsballon zu starten. Nach Kenntnis von Kommersant-Ogonjok jedenfalls mussten Forscher, die an der Ausführung des Auftrags interessiert waren, vergangene Woche feststellen: Mit der Annahme ihrer Bewerbungen hatte es niemand eilig. Zudem kann der Wettbewerb auch weiterhin noch abgesagt werden. Durchaus möglich, dass das Kulturministerium ein kleines soziales Experiment durchführen wollte, indem es eben einmal einen neuen Begriff ins Spiel brachte – einfach um zu sehen, ob er sich durchsetzen wird, ob er angenommen wird ...
Systematisierung von Phobien
Auf den ersten Blick könnte das Wort „Russlandphobie“, so abstrus es klingen mag, durchaus ein nützlicher Begriff sein. Es könnte sich weit größerer Nachfrage erfreuen als zum Beispiel das Konzept des „Russländers“, das schon der erste Präsident des Landes erfolglos propagierte.
Um jemanden als „Russländer“ zu bezeichnen, muss man sicher sein, dass ein Phänomen wie die Staatlichkeit Russlands eine reale, einende Kraft ist. Für die Bezeichnung einer Person als „russlandfeindlich“ hingegen genügt die Annahme, die Welt werde von irrationalen Phobien regiert und Russland betreibe sein eigenes, von der feindlichen (oder zumindest ahnungslosen) Welt losgelöstes, zivilisatorisches Projekt. Letzteres ist uns schon immer leichter gefallen als Ersteres.
Die zivilisatorische Komponente des Begriffs „Russlandphobie“ ist nicht unproblematisch. Auch wenn das Kulturministerium klarstellt, dass „derzeit zwischen dem Antikommunismus der Sowjetzeit und der Russlandphobie ein Unterschied gemacht“ wird, beschwört die Aufgliederung in Russen- und Russlandphobie Ideologeme des Kalten Krieges herauf. Sie erlauben es, mit dem einfachen Volk aus dem feindlichen Lager mitzufühlen und das kapitalistische oder sowjetische System, das dieses Volk unterdrückte, zu hassen. Anders gesagt, im Rahmen des Konzepts der Russlandphobie wird angenommen, die Ausländer kämpften nicht gegen die Russen, sondern gegen das russische System. Analog widersetzen wir Russen uns dann nicht „den Pindossy“, sondern ihrer dümmlichen Zivilisation, der wir als Alternative unsere russische Welt entgegenhalten. In gewissem Sinne verleiht das der Polemik, die sich zielstrebig auf das Niveau eines ethnisch motivierten Dorfplatz-Geschimpfes herabbegeben hatte, sogar Kultur.
Doch während Russo- und Amerikanophobe genug Futter haben – Stereotype nämlich – müssen sich Kontrahenten der russischen Zivilisation erst überlegen, wogegen sie eigentlich Widerstand leisten. Weil die Russen ihr Projekt bisher nicht mal selbst ordentlich definiert haben.
Auch der Westen entlehnt seine Rhetorik dem Kalten Krieg
Übrigens versteht auch die ausländische Öffentlichkeit nur mit Mühe, wogegen sie auftritt. In den Reden westlicher Scharfmacher fließen auf wundersame Weise eine dem Kalten Krieg entlehnte Rhetorik, Bilder der tatarisch-mongolischen Invasion und Vorahnungen einer geopolitischen Katastrophe ineinander, zu der die Aktionen Russlands angeblich führen werden.
„Ein wichtiger Schluss, den man aus den aktuellen Aussagen westlicher Politiker ziehen kann, ist für uns beruhigend: Das bunte Spektrum an – wie es so schön heißt – ‚russlandfeindlichen‘ Äußerungen ist eher ‚auf den Verkaufserfolg‘ angelegt als zur Mobilisierung der Bevölkerung“, meint Oleg Matweitschew, Philosophieprofessor an der Higher School of Economics. „Das lässt sich leicht beweisen. Wenn ein Feindbild zur Vorbereitung auf eine offene Konfrontation benutzt wird, bemüht man sich immer, den Feind als erbärmlich, entmenschlicht und perspektivlos, letztlich als unbedeutend darzustellen, um das Volk davon zu überzeugen, dass man mit ihm leicht fertig wird. Von Russland spricht man anders: Nicht von einem erbärmlichen Land, sondern von einem furchterregenden, das seine eigenen Vorstellungen von der Zukunft hat. Solche einschüchternden Bilder paralysieren die Bereitschaft der örtlichen Bevölkerung, gegen den Feind zu kämpfen, dafür erhöhen sie ihre Bereitschaft, den Militäretat aufzustocken. Die kommerzielle Bedeutung der Russlandphobie ist bisher also viel höher als die militärische.“
Wir bleiben bei der vorgegebenen Richtung, bis auf Weiteres …
Was eigentlich auch nicht nett ist: Russland wird zur Handelsware, den Gewinn stecken sich aber die anderen ein ... Na, immerhin ist das rational erklärbar.
Und noch etwas ist rational erklärbar: Einfacher, als sich schädlichen Phobien entgegenzustemmen, ist es, sie zu überwinden. Zumal Rezepte dafür auch ohne Ausschreibungen für Forschungsprojekte zugänglich sind, kostenlos.
„Die ‚praktischen Empfehlungen zur proaktiven Bekämpfung der Russlandphobie‘, die das Kulturministerium zu bekommen hofft, sind auch so bekannt“, wundert sich Jelena Schestopal, Lehrstuhlinhaberin für Soziologie und Psychologie der Politik an der politikwissenschaftlichen Faktultät der Moskauer Staatlichen Universität. „Das Rezept ist da immer dasselbe: Mehr Kontakt. Damit die Menschen sich nicht gegenseitig dämonisieren, müssen sie miteinander reden: Wir müssen zu ihnen fahren, sie zu uns, das wissenschaftliche und kulturelle Leben muss gemeinsam stattfinden ... Und umgekehrt: Je mehr wir uns mit Phobien voneinander abgrenzen, desto fremder werden wir einander.“
Doch eine so simple Wende in der Auslegung der allgemeinen Linie sieht offenbar keine der amtlichen Interpretationen vor. Wir bleiben also bei der vorgegebenen Richtung. Bis wir neue Vorgaben bekommen ...