Während russische Angriffe in der Ukraine täglich Menschen töten und das Land immer weiter zerstören, kreist die russische Perspektive auf den Krieg vor allem um sich selbst: Im Staatsfernsehen wird die Invasion in einer Täter-Opfer-Umkehr gerechtfertigt und als Selbstverteidigung Russlands gegen die NATO dargestellt. Oppositionelle, die den Krieg ablehnen, machen sich häufig nicht bewusst, dass mit dieser vermeintlich „persönlichen Haltung“ nicht alles gesagt ist: Der Status als Aggressor hat Russlands Ansehen und Position in der Welt nachhaltig verändert. Um die Auswirkungen des Kriegs jenseits der persönlichen Befindlichkeit zu erkennen, empfiehlt der russische Journalist Maxim Trudoljubow den Russen, sich und ihr Land von außen zu betrachten.
Gehen wir mal aus uns heraus. Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, wird im russischen Diskurs häufig hermetisch betrachtet – aus dem Inneren des Russki Mir, der russischen Welt, heraus und mit Verweisen auf Eckpunkte aus der Geschichte Russlands. Die Menschen reden darüber, wie sich der Krieg auf ihr Leben auswirkt, streiten über seine Bedeutung für die russische Kultur, für die Emigrierten und die Verbliebenen, für die Zukunft – auf persönlicher und nationaler Ebene.
Aber der von Russland entfachte Krieg ist nicht nur ein Kapitel der russischen Geschichte, sondern auch eines der ukrainischen, der europäischen und der Weltgeschichte. Den Großteil des Leids bekommt die Ukraine ab. Sollte jemand das moralische Recht haben, sich abzuschotten, dann sind es die Ukrainer. Für diejenigen Russen, die in Sicherheit sind und sich frei fühlen – ob ausgereist oder nicht – ist eine solche Konzentration auf sich selbst nicht angebracht. Dass die Propagandisten das machen, ist ja klar. Sie fokussieren auf das in ihren Augen „gute“ Nationale. Aber oft (nicht immer, natürlich) machen die freien Russen dasselbe, nur unter anderem Vorzeichen. Die einen wie die anderen irren umher im russischen Wald. Aus dem herauszukommen es längst an der Zeit ist.
Irren umher im russischen Wald
Russen, die wenigstens ein bisschen Sinn zum Reflektieren haben, sollten lernen, sich nicht nur durch das nationale oder imperiale Prisma zu betrachten. Ein anderer Blickwinkel auf sich selbst, der sich anbietet, ist der ukrainische.
Es gibt eine große ukrainische Kultur, die jetzt eine Wiedergeburt erfährt. Man kann Serhij Zhadans Tagebuch lesen. Es gibt eine große Kultur, die vor dem Krieg entstand. Darüber diskutiert man in der Ukraine. Es gibt auch bereits Umfragen zur Beziehung von Ukrainern zu Russen und Russland.
Betrachtet eure Äußerungen und öffentlichen Handlungen aus der Perspektive der Ukrainer. Sogar denen, die gegen den Krieg sind, kann das zu Demut verhelfen. Es bedeutet, sich selbst mit den Augen eines Menschen zu sehen, der täglich mit dem Tod konfrontiert ist – in den Nachrichten, in der Nachbarschaft, in der Familie. Stellt euch vor, wie das Dilemma „gehen oder bleiben“ für Ukrainer aussieht, und der russische Streit zwischen Ausgewanderten und im Land gebliebenen Russen verliert seine Wichtigkeit.
Betrachtet eure Äußerungen aus der Perspektive der Ukrainer
Es gibt einen Blickwinkel, der die großen globalen Prozesse berücksichtigt – auf wirtschaftlicher, sozialer, ökologischer oder auf Gender-Ebene. Keine Diktatur kann große Veränderungen aufhalten. Das Bemühen, wirklich zu verstehen, wo Russland in diesen Prozessen steht – was gebremst und was beschleunigt wird – hilft uns, unseren Blick im Endeffekt wieder auf uns selbst zu richten. Es ist wichtig zu erkennen, welche Folgen die Handlungen des russischen Staates und der russischen Gesellschaft (auch die Migration) auf andere Gesellschaften haben und wie sie dort wahrgenommen werden.
Die russische Geschichte ergibt isoliert von anderen „Geschichten“, Zusammenhängen, Vergleichen keinen Sinn. Das gilt für die Geschichte jeder Nation. Doch gerade im Fall Russlands hat sich Selbstbezogenheit, die Illusion eines „nationalen Schicksals“ oder „Sonderwegs“ als unglaublich mächtiger Kulturfaktor erwiesen, der letztlich diesen Krieg vorbereitet hat.
Die Selbstbezogenheit hat letztlich diesen Krieg vorbereitet
Wenn man glaubt, dass alles auf der Welt wegen, für oder gegen Russland passiert – und das ist Putins Credo –, so kann das im Krieg gipfeln. Allein die Annahme, Russland sei das Zentrum der Welt und nicht nur einer von vielen Teilen im globalen Geschehen, fördert die Zustimmung zum Krieg und seine Akzeptanz. Gesellschaft und Staat sind von diesem Gift geschädigt.
Ein Koordinatensystem mit ausschließlich russischen Koordinaten, Autoren, Texten und historischen Daten gibt es nicht mehr. Wir dürfen keine Angst haben und sollten der Fratze, die Russland der Welt zugewandt hat, furchtlos ins Gesicht sehen. Das geht nur von außen – von innen ist sie nicht zu sehen. Und dann wird eine Diskussion zur Vielschichtigkeit der russischen Kultur sinnvoller – wenn es noch Wörter gibt.