Der russische Krieg gegen die Ukraine gilt unter vielen Wissenschaftlern, Journalisten und Aktivisten als ein imperialer Krieg: Wladimir Putin spricht der Ukraine das Daseinsrecht ab, will das Land offensichtlich unterwerfen, in der russischen Propaganda wird von „Entukrainisierung“ der Ukraine fantasiert, manche fordern eine „Russifizierung“ – all das erinnert an das Imperiale des Russischen Reiches und/oder der Sowjetunion.
Auch die russische Historikerin Tamara Eidelman sagt, dass die Idee eines russischen Imperiums bei Putin fortlebe, allerdings in einer „verqueren Weise“: „Ich glaube nicht, dass er von Moskau als dem Dritten Rom träumt – oder besser gesagt, tun es die nicht, die seine Reden schreiben. Aber dass er das Imperium wiedererrichten will, das steht außer Frage.“
Eidelman ist eine sehr bekannte Historikerin mit einem erfolgreichen YouTube-Kanal zur russischen Geschichte: Der 62-Jährigen, die inzwischen nicht mehr in Russland lebt, folgen dort eine Million Abonnenten. Mit der Novaya Gazeta Europe spricht sie über die Geschichte des russischen Imperiums seit den Anfängen im 16. Jahrhundert und darüber, was das mit der Gegenwart des Krieges unter Putin zu tun hat.
Nikita Pegow: Was ist der russische Imperialismus, wo sind seine Wurzeln? Was hat Putins Russland vom ursprünglichen russischen Imperialismus geerbt?
Tamara Eidelman: Ich denke, der Imperialismus war in Russland im Keim schon da, bevor es das Wort Imperium überhaupt gab. Peter der Große war der Erste, der offiziell zum Imperator ernannt wurde, aber eigentlich hat das Imperium schon vorher Gestalt angenommen: Als das Moskauer Zarenreich begann, sich auszudehnen und neue Gebiete einzunehmen – die Wolgaregion unter Iwan dem Schrecklichen im 16. Jahrhundert, Sibirien im 17. Jahrhundert –, war der Grundstein für das Russische Imperium bereits gelegt.
Parallel dazu bildete sich die Ideologie heraus. Schon Anfang des 17. Jahrhunderts verfasste der Mönch Filofej von Pskow sein berühmtes Schreiben an Wassili III., in dem er den Gedanken formulierte, Moskau sei das Dritte Rom. Filofej wäre wohl sehr überrascht gewesen, hätte er erfahren, wie viele Jahrhunderte seine Idee überdauern würde und wie sie transformiert wurde. Rom stellten sich die Menschen im 16. Jahrhundert als Zentrum eines Weltreichs vor – für Filofej war es ein orthodoxes. Diese Idee wurde unter Katharina der Großen wieder lebendig. Sie wollte Konstantinopel erobern und dort einen orthodoxen Staat errichten. Diese Idee lebte im 19. Jahrhundert weiter, als Russland in den Balkan vordrang und ebenfalls von Konstantinopel träumte. Auf die gleiche verquere Weise lebt die Idee auch bei Putin fort. Er träumt wohl nicht von Moskau als dem Dritten Rom – oder besser gesagt, tun es die nicht, die seine Reden schreiben. Aber er will das Imperium wiedererrichten, das steht außer Frage.
Was konkret Putins Kenntnisse angeht, habe ich große Zweifel. [...] Er verwechselt den Nordischen Krieg mit dem Siebenjährigen Krieg. Das ist eine Fünf minus!
Inwiefern stützt er sich auf die Erfahrung seiner Vorgänger? Lässt Putin sich von einem historischen Gedächtnis leiten, oder ist es etwas Impulsives, Irrationales?
Was konkret Putins Kenntnisse angeht, habe ich große Zweifel. Erstens weiß ich nicht, woher er die haben sollte – sicher nicht von der KGB-Schule und auch nicht aus Dresden, wo er als Außenagent im Einsatz war. Der Mann hat in Deutschland gelebt, aber macht Fehler, die jeder Schüler korrigieren kann. Er verwechselt den Nordischen Krieg mit dem Siebenjährigen Krieg. Das ist eine Fünf minus! Er ist von Leuten umgeben, die für ihn vom Russki Mir inspirierte Reden schreiben. Diese Ideologie wurzelt tief in der imperialistischen Idee in ihrem übelsten Sinne – Imperialismus ist ja nicht gleich Imperialismus, genauso wie Imperien ganz unterschiedlich sein können.
Meines Erachtens sind für Putin die letzten Regierungsjahre Stalins sehr wichtig, denn in der Nachkriegsepoche formierte sich auch bei Stalin eine imperiale Ideologie.
Die Bolschewiki hatten in den ersten Jahrzehnten ihrer Herrschaft vom Internationalismus gesprochen, von der Weltrevolution, sie erschufen nationale Kader in den verschiedenen Republiken. Natürlich gab es damals keine Freiheit im eigentlichen Sinne, aber sie operierten jedenfalls mit diesen Begriffen; der Internationalismus war für viele Menschen sehr wichtig.
Und dann erhebt Stalin 1945 auf einem Bankett zur Feier des Sieges sein Glas auf das russische Volk, das plötzlich die größten Opfer im Krieg davongetragen haben soll. Von diesem Moment an festigt sich der Gedanke, das russische Volk sei der große Bruder aller anderen Völker. Das lässt sich an der gesamten Politik des Spätstalinismus gut beobachten. Zum Beispiel an den Deportationen der nordkaukasischen Völker. Oder an der antisemitischen Kampagne, am Kampf gegen den Kosmopolitismus, an der sogenannten Ärzteverschwörung. Überall herrschte ein großrussischer Chauvinismus in aggressiver Form.
Überall herrschte ein großrussischer Chauvinismus in aggressiver Form
Es ist bezeichnend, dass sich dieser Chauvinismus unter Chruschtschow und Breshnew mäßigte. Natürlich war er auch da noch präsent, aber Breshnew wäre nie in den Sinn gekommen zu sagen, das russische Volk sei der große Bruder. Im Gegenteil, es wurde wieder von Internationalismus und Völkerfreundschaft gesprochen – vielleicht war es gelogen, aber immerhin.
Eine andere Sache, die für Putin von großer Bedeutung ist: Ende der 1940er Jahre ließ Stalin das Russische Reich wiederauferstehen. Natürlich blieb es der Form nach der Kommunismus. Aber es ist kein Zufall, dass während des Krieges das Amt des Patriarchen wiedereingeführt wurde. Sämtliche Geistliche sitzen im Lager, doch plötzlich bandelt man wieder mit der Kirche an. Die Schulterklappen kehrten zurück, die Offiziersgrade – alles Symbole des Russischen Reichs. Es wurden Loblieder auf Peter I. und Iwan den Schrecklichen gesungen. So hatte das Reich zuletzt Ende des 19. Jahrhunderts unter Alexander III. ausgesehen.
Wie gesagt, Imperium ist nicht gleich Imperium. Im Russischen Reich war das Leben nicht für alle Völker gleich. Juden und Polen lebten schlechter, die Bewohner der Wolgaregion oder Zentralasiens besser: Sie wurden zwar de facto erobert, aber man ließ sie mehr oder weniger in Ruhe. Selbst die Khane und Emire ließ man in ihren Ämtern, sie durften sich um ihre Angelegenheiten kümmern – Hauptsache, sie gehorchten dem russischen Zaren.
Unter Alexander III. wurde das Imperium immer russischer, immer orthodoxer. Es ist kein Zufall, dass man ihn auch jetzt überhöht – alle sollen sehen, wie toll er war. Das ist genau die chauvinistische Linie, die Putin gefällt.
Unter Alexander III. wurde das Imperium immer russischer, immer orthodoxer
Gibt es so etwas wie Alltagsimperialismus? Wie kann es sein, dass ein durchschnittlicher Moskauer gegen den Krieg und die Wiedererweckung des Imperiums ist und nach seiner Auswanderung in die baltischen Länder anfängt, sie aus eben dieser imperialistischen Perspektive zu kritisieren?
Ich würde dieses Phänomen nicht überbewerten. Einerseits ja, es gibt diesen Alltagsimperialismus. Er besteht darin, dass wir uns noch nie wirklich Gedanken über die Geschichte und Kultur der Republiken gemacht haben, die Teil der Sowjetunion waren, oder der Regionen, die zu Russland gehören. Es gibt die Vorstellung, dass die russische Kultur die wahre ist, die russische Sprache die wichtigste – davon wird man sich befreien müssen.
Wie tötet man das Imperium in sich selbst?
Indem man sich mehr für andere Kulturen und Ethnien interessiert. Auf meinem YouTube-Kanal gibt es jetzt zum Beispiel eine neue Serie zur Geschichte der Ukraine, es folgt eine zur Geschichte der Wolgaregion, dann kommt Belarus. Ich glaube, das Problem sind hier nicht nur die Beziehungen zwischen den verschiedenen Völkern. Das Problem ist die allgemeine Aggressivität.
Ich sehe eine große Verantwortung bei den Historikern und dem Lehrplan, nach dem an den Schulen unterrichtet wird. Bei uns herrscht die Vorstellung, dass die Geschichte Russlands die Geschichte des russischen Staates sei. Oder nicht einmal des Staates – es ist die Geschichte Moskaus und Sankt Petersburgs, und alles andere ist nur so da. Für den Bau von Sankt Petersburg darf man Tausende von Menschen vernichten, und für das Wohlergehen des Staates massenhaft Werte opfern. Das wird uns auf verschiedenen Ebenen eingehämmert, in der Schule, durch die Propaganda. Damit hängt auch zusammen, wie den Menschen der Zweite Weltkrieg präsentiert wird.
Ich glaube, die Überwindung des imperialistischen Denkens ist ein sehr komplexer Prozess. Er beschränkt sich nicht darauf, zu sagen: „Lasst uns alle die Ukraine liebhaben!“ Das ist zwar schön und gut, aber wir müssen anderen Ethnien mit Respekt und auf Augenhöhe begegnen. Da muss eine Veränderung auf psychologischer Ebene passieren, in den Familien, in der Bildung und in internationalen Beziehungen. Es kann nämlich nicht sein, dass an einer Stelle alles gut ist, aber auf allen anderen Ebenen bleibt alles beim Alten. Alles muss sich verändern.
Bei uns herrscht die Vorstellung, dass die Geschichte Russlands die Geschichte des russischen Staates sei. Oder nicht einmal des Staates – es ist die Geschichte Moskaus und Sankt Petersburgs
Sie haben gesagt, die imperialistische Ideologie fordert im Namen von etwas Höherem das Opfer des einzelnen Menschen. Am 21. September hat Putin die Mobilmachung verkündet, doch die Reaktionen in der Bevölkerung, sogar von etlichen Z-Propagandisten, waren alles andere als hurrapatriotisch. Wie erklären Sie sich das?
Niemand will kämpfen. So mancher Propagandist wird natürlich sagen, er sei bereit, sein Leben zu geben, aber seine Kinder schickt dann doch keiner in den Krieg. Das ist logisch, weil das menschliche Leben mehr wert ist als diese idiotischen Klischees.
Es ist klar, dass Russland nach diesem Krieg nicht mehr sein wird wie früher. Bestehen Aussichten, dass der Imperialismus auf staatlicher Ebene entthront wird? Werden die Republiken wie Burjatien, Jakutien, Tschetschenien heftig danach streben, sich abzuspalten?
Ich vermute, dass sie aktiv werden, aber genau kann ich das nicht sagen. Daran, dass Russland auseinanderfallen wird, glaube ich nicht so recht, rein geografisch ist das unrealistisch. Höchstens, dass sich irgendwelche Gebiete im Kaukasus abtrennen.
Ich sehe innerhalb Russlands kein Streben nach einem Auseinanderfallen. Eher nach neuen Beziehungen. In welchem Maße es Russland gelingen wird, die Beziehungen innerhalb der Föderation umzugestalten, wird davon abhängen, wer an der Macht ist, aber auch der politische Wille ist hier nicht alles. Natürlich kann man die Verfassung ändern, den Republiken mehr Rechte geben. Die Frage ist, wer sich um den Alltagsrassismus kümmern wird, wie man den wegkriegt. Dafür braucht es eine Umstrukturierung des Bildungssystems und freie Medien. Das kann nicht nur von oben kommen. Entscheidend ist, ob vor Ort Menschen gefunden werden, die damit arbeiten. Dann könnte es gelingen, aber wenn nicht, dann geht wieder alles schief.
Kann man Sibirien als Kolonie Russlands bezeichnen? In gewisser Weise ja, aber da hat sich alles so sehr vermischt, dass etwas ganz anderes entstanden ist
Noch einmal zum Baltikum: Flächendeckend haben die Regierungen der drei baltischen Republiken seit Beginn des Krieges eine massive Entsowjetisierung betrieben, die den Sturz von Denkmälern und Monumenten zum Thema der sowjetischen Besatzung umfasst. Wie schätzen Sie diese Prozesse ein?
Ich verstehe schon, warum diese Denkmäler entfernt werden, ganz abgesehen von ihrer Hässlichkeit. Es steht mir auch nicht zu, über die Regierungen anderer Länder zu urteilen. Aber vielleicht wäre es richtiger gewesen, neben dem Denkmal für die Sowjetarmee ein Denkmal für die Opfer des kommunistischen Regimes aufzustellen. Das hätte die ganze Komplexität dieser Situation zum Ausdruck gebracht. Unter den gegenwärtigen schrecklichen Umständen kann man eine solche Ausgewogenheit und Mäßigung aber kaum erwarten.
Inwiefern kann man die Erfahrung anderer kolonialer Imperien überhaupt mit der Erfahrung des heutigen Russland vergleichen?
Jeder Vergleich hinkt natürlich. Die Geschichte des British Empire beispielsweise ist ganz anders als die des Russischen Reiches. Die Besonderheit der kontinentalen Imperien bestand immer darin, dass eine große Vermischung der Völker stattfand. Kann man Sibirien als Kolonie Russlands bezeichnen? In gewisser Weise ja, aber da hat sich alles so sehr vermischt, dass etwas ganz anderes entstanden ist. Bis zu einem bestimmten Grad können wir die Erfahrung anderer Imperien wiederholen. Aber sogar zwischen dem sowjetischen und dem russischen Imperium gibt es gravierende Unterschiede.
Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow – das sind große Schriftsteller, und ich bin mir nicht sicher, ob Wladimir Wladimirowitsch ihre Texte gelesen hat
Wie imperialistisch ist die russische Kultur? Muss sie sich verändern, und was kann man ihr vorwerfen?
Die Kultur ist niemandem etwas schuldig. Dostojewski, Tolstoi, Bulgakow – das sind große Schriftsteller, und ich bin mir nicht sicher, ob Wladimir Wladimirowitsch ihre Texte gelesen hat. Die englische Kultur ist ebenfalls imperialistisch. Eine Erhebung der eigenen Macht und Nation über andere Völker hat es zu verschiedenen Zeiten in verschiedenen Ländern gegeben. Gerade bei Dostojewski finden wir eine gewaltige humanistische Botschaft, die niemand außer Kraft setzen kann. Wie weit die russische Kultur den jetzigen Krieg aufgreifen wird, ist eine interessante Frage. Wird sie ganz bestimmt, tut sie ja jetzt schon. Momentan herrscht eine fürchterliche Krise. Sie ist eine Herausforderung für den gesamten Humanismus, und die Kultur wird sich damit befassen müssen.