Der Memorial-Mitbegründer Oleg Orlow steht in Moskau wegen eines Artikels vor Gericht, in dem er den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine verurteilt hat. Dem renommierten Menschenrechtsvertreter drohen zwei Jahre und elf Monate Haft wegen angeblicher „Diskreditierung der Armee“. Das Urteil soll am 27. Februar verkündet werden.
Orlow hatte sich bislang aus Protest geweigert, vor Gericht zu sprechen – bis zum heutigen Tag. In einer Atmosphäre, in der die freie Meinungsäußerung immer weiter unterdrückt wird, hat das Schlusswort vor Gericht in Russland heute eine besondere Bedeutung. Mediazona und Meduza haben Orlows Schlusswort im Wortlaut veröffentlicht. dekoder übersetzt Ausschnitte daraus ins Deutsche.
Update vom 27. Februar 2023: Oleg Orlow wurde zu zweieinhalb Jahren Haft in der Strafkolonie verurteilt.
Memorial-Mitbegründer Oleg Orlow vor dem Golowinski-Gericht in Moskau. Ihm drohen knapp drei Jahre Haft / Foto © IMAGO, ITAR-TASS
Am Tag, als diese Verhandlung begann, wurden Russland und die Welt von der schrecklichen Nachricht vom Tod Alexej Nawalnys erschüttert. Auch mich hat sie erschüttert. Ich habe sogar überlegt, ganz auf mein Schlusswort zu verzichten; ist uns heute nach Worten zumute, wo wir alle noch unter Schock stehen nach dieser Nachricht? Doch dann dachte ich: Das sind alles Glieder ein und derselben Kette – der Tod, oder besser gesagt die Ermordung von Alexej, die gerichtlichen Repressalien gegen weitere Regimekritiker, darunter auch gegen mich, das Ersticken der Freiheit im Land, der Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine. Also habe ich mich entschieden, dennoch ein Schlusswort zu halten.
Ich habe kein Verbrechen begangen. Ich stehe wegen eines Zeitungsartikels vor Gericht, in dem ich das politische Regime, das sich in Russland herausgebildet hat, totalitär und faschistisch genannt habe. Der Artikel wurde vor mehr als einem Jahr geschrieben. Und damals dachten einige meiner Bekannten, dass ich zu dick auftrage.
Doch jetzt ist völlig offensichtlich – ich habe kein bisschen übertrieben.
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Ich will einige Ereignisse aufzählen, die sich vom Außmaß und von der Tragweite her unterscheiden:
- In Russland werden Bücher zeitgenössischer russischer Schriftsteller verboten.
- Die „LGBT-Bewegung“, die als solche gar nicht existiert, wurde verboten, was in der Praxis eine schamlose Einmischung des Staates in das Privatleben der Bürger bedeutet.
- An der Higher School of Economics ist es den Bewerbern verboten, „ausländische Agenten“ zu zitieren. Bewerber und Studenten müssen, bevor sie beginnen, ein Fach zu studieren, Listen mit „ausländischen Agenten“ auswendig lernen.
- Boris Kagarlizki, ein bekannter Soziologe und linker Publizist, wurde zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt, weil er wenige Worte über die Kriegsereignisse in der Ukraine äußerte, die von der offiziell verlautbarten Position abwichen.
- Der Mann, den die Propagandisten „nationalen Führer“ nennen, äußert sich [im Interview mit US-Moderator Tucker Carlson – dek] öffentlich über den Beginn des Zweiten Weltkriegs wie folgt: „Die Polen haben ihn genötigt, sie sind zu weit gegangen und haben Hitler damit genötigt, den Zweiten Weltkrieg ausgerechnet gegen sie zu starten. Warum begann der Zweite Weltkrieg mit Polen? Polen war rechthaberisch. Hitler blieb nichts anders übrig, als mit Polen zu beginnen, wenn er seine Pläne umsetzen wollte.“
Wie soll man ein politisches System nennen, in dem sich all die von mir aufgezählten Dinge abspielen. Meiner Meinung nach ist die Antwort klar. Leider hatte ich in meinem Artikel recht.
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Sie töten sie dafür, dass sie gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestiert haben
Heute werden Alexej Gorinow, Alexandra Skotschilenko, Igor Baryschnikow, Wladimir Kara-Mursa und viele andere in Strafkolonien und Gefängnissen langsam getötet. Sie töten sie dafür, dass sie gegen das Blutvergießen in der Ukraine protestiert haben, dafür, dass sie dafür eintreten, dass Russland ein demokratischer, prosperierender Staat wird, der für seine Nachbarn keine Bedrohung mehr darstellt.
In den vergangenen Tagen wurden Menschen festgenommen, bestraft und sogar eingesperrt, nur weil sie zu den Denkmälern für die Opfer politischer Verfolgung gekommen sind, um Alexej Nawalny zu gedenken, der ein wunderbarer Mensch war. Ein mutiger und ehrlicher Mensch, der unter unglaublich harten Bedingungen, die extra für ihn geschaffen wurden, seinen Optimismus und seinen Glauben an die Zukunft unseres Landes nicht aufgegeben hat. Natürlich handelt es sich bei seinem Tod um einen Mord, ganz egal, wie er konkret ausgeführt wurde.
Die Staatsmacht kämpft sogar gegen den toten Nawalny, sie hat immer noch Angst vor ihm, obwohl er schon tot ist. Zurecht. Sie zerstört die improvisierten Gedenkorte, an denen die Menschen seiner gedenken.
Diejenigen, die so etwas tun, hoffen, dass sie auf diese Weise jenen Teil der russischen Gesellschaft entmutigen können, der sich weiterhin verantwortlich fühlt für sein Land.
Da sollen sie sich mal keine falschen Hoffnungen machen.
[...]
Ich wende mich an Sie, Euer Ehren, und an die Staatsanwaltschaft: Haben Sie keine Angst? Haben Sie keine Angst davor, was aus unserem Land wird, das auch Sie wahrscheinlich lieben? Haben Sie keine Angst, dass nicht nur Sie und Ihre Kinder, sondern auch – Gott bewahre – Ihre Enkelkinder in dieser Absurdität, in dieser Dystopie leben müssen?
Kommt Ihnen denn nicht das Naheliegende in den Sinn: Dass die Walze der Repression früher oder später diejenigen überrollt, die sie gestartet und vorangetrieben haben? Das ist in der Geschichte doch schon so viele Male geschehen.
Ich wiederhole, was ich bereits bei der letzten Verhandlung gesagt habe:
Ja, Gesetz ist Gesetz. Aber ich erinnere daran, dass 1935 in Deutschland die sogenannten Nürnberger Gesetze verabschiedet wurden. Und dann, nach 1945, wurden die Vollstrecker dieser Gesetze selbst vor Gericht gestellt.
Die Strafe wird unweigerlich kommen. Ihre Kinder oder Enkelkinder werden sich schämen
Ich bin mir nicht zu 100 Prozent sicher, dass die derzeitigen Urheber und Vollstrecker der russischen rechtsstaats- und verfassungsfeindlichen Gesetze gerichtlich zur Verantwortung gezogen werden. Aber die Strafe wird unweigerlich kommen. Ihre Kinder oder Enkelkinder werden sich schämen, darüber zu sprechen, wo ihre Väter, Mütter, Großväter und Großmütter gearbeitet haben und was sie getan haben. Dasselbe wird diejenigen treffen, die jetzt in der Ukraine Befehlen gehorchen und damit Verbrechen begehen. Meiner Meinung nach ist dies die schrecklichste Strafe. Und sie ist unvermeidlich.
Nun, für mich ist eine Strafe ebenfalls unausweichlich, denn unter den derzeitigen Umständen ist ein Freispruch bei einem solchen Vorwurf unmöglich.
Jetzt werden wir sehen, wie das Urteil ausfallen wird.
Aber ich bedauere und bereue nichts.