Am vergangenen Wochenende ist die Polizei deutlich brutaler als zuvor gegen die Demonstranten in Chabarowsk vorgegangen. Seit Juli gehen die Menschen in der Stadt im Fernen Osten Russlands auf die Straße, um gegen die Festnahme des örtlichen Gouverneurs zu protestieren. Was bedeutet die Polizeigewalt für den Protest: Heizt sie ihn an? Oder steht er vor dem Aus? Ein Bystro von Jan-Matti Dollbaum in fünf Fragen und Antworten.
1. Die Polizei hielt sich lange zurück, nun kam es aber zu vermehrten Festnahmen. Warum gerade jetzt?
Es gab am vergangenen Samstag, dem 10. Oktober 2020, nicht nur 25 Festnahmen, die Polizei ging an diesem 92. Protesttag auch viel brutaler gegen die Demonstrierenden vor als zuvor. Es bewahrheitet sich damit, was viele Protestierende und Beobachter schon von Anfang an befürchtet haben: Sobald die Proteste kleiner werden, wird der verbliebene Teil der Demonstranten auseinandergetrieben. Dahinter kann die Überlegung stehen, dass, wenn ohnehin immer weniger Menschen auf die Straße gehen, dieser abnehmende Trend durch Repression noch verstärkt wird. Diese Erfahrung haben die Verantwortlichen zumindest bei den Bolotnaja-Protesten von 2011/12 schon einmal gemacht. Repression gegen eine so breit getragene Demonstration wie im Sommer dagegen, hätte die Wut vermutlich nur vergrößert (siehe Belarus im August).
2. Werden die Proteste in anderen Teilen Russlands wahrgenommen? Und wenn ja: Wie werden sie wahrgenommen?
In der öffentlichen Wahrnehmung waren die Proteste in Chabarowsk Teil einer wachsenden Zahl von Fällen, in denen BürgerInnen unermüdlich für Ihre Sache einstehen: gegen eine Mülldeponie in der Region Arсhangelsk im Jahr 2019, für die Anerkennung eines baschkirischen Berges als Naturdenkmal im September 2020 – und eben gegen die Verhaftung eines „Gouverneurs des Volkes“. Chabarowsk hat dabei noch eine besondere Stellung, weil es sich erstens um explizit politische Proteste handelt, und weil die Mobilisierung für russische Verhältnisse besonders stark und langanhaltend ist.
Gerade aufgrund dieser Sonderstellung ist davon auszugehen, dass die Verantwortlichen im Kreml dafür sorgen wollen, dass Chabarowsk nicht zum inspirierenden Vorbild wird, sondern zu einem weiteren Beispiel dafür, dass Protest, zumal politischer, in Russland zu nichts führt.3. Die Proteste in Chabarowsk gehen in den vierten Monat. Wie sehen sie aktuell aus?
Angesichts der totalen Blockadehaltung der Behörden ist es erstaunlich, dass die Proteste so lange angehalten haben. Zudem gibt es auch weiterhin (meist kleine) Solidaritätskundgebungen im ganzen Land. Doch die Zahl der Protestierenden ist über die Zeit stark zurückgegangen: Während im Juli noch Zehntausende auf die Straße gingen, waren es bei den letzten Protesten im Oktober nur noch einige Hundert. Am 10. Oktober versuchten einige Protestierende, ein Protestcamp zu errichten, wurden aber von der Spezialeinheit OMON auseinandergetrieben.
Zugleich haben sich die Protest-Themen über die Zeit erweitert und verändert. Im August etwa kam es zu Solidaritätsbekundungen mit Belarus, einige Protestierende forderten den Rücktritt Alexander Lukaschenkos. Auch die Vergiftung von Alexej Nawalny fand Ausdruck in Losungen wie „Ljoscha, bleib am Leben“. Die Proteste ordnen sich also in die großen überregionalen Ereignisse ein und richten sich auch immer wieder direkt gegen Putin. Der Fokus bleibt aber auf Furgal selbst.
Insgesamt scheint es allerdings zurzeit, dass die Mischung aus weitgehendem Ignorieren und erst spät angewandter Repression ein weiteres Mal ihre Wirkung zeigt und die Proteste langsam abklingen.
4. Was treibt die Protestierenden an?
Die Menschen protestieren, weil mit Sergej Furgal ein von der Mehrheit gewählter Kandidat, der sich überraschend gegen den Kandidaten der Regierungspartei durchgesetzt hatte, nach noch nicht einmal zwei Jahren aus dem Amt entfernt wurde. Viele hatten Furgal zu schätzen gelernt, andere fühlen sich einfach um ihre Stimme betrogen. Furgal gehört nicht der Regierungspartei an, sondern der LDPR. Die kremlloyale LDPR hat sich allerdings bei den Protesten von Anfang an zurückgehalten. Das hat sich, wie erwartet, nicht geändert. Und auch sonst sind Organisationen nicht dominant: Das Regionalbüro von Alexej Nawalny berichtet über die Proteste auf Twitter, aber die Proteste sind weiterhin eher von horizontalen, spontanen Organisationsformen gekennzeichnet.
5. Im Juli wurde Gouverneur Furgal festgenommen, was die Proteste ausgelöst hatte. Was ist der aktuelle Stand in seinem Verfahren?
Sergej Furgal befindet sich weiterhin in Untersuchungshaft, die kürzlich bis zum 9. Dezember 2020 verlängert wurde. Die Angehörigen der beiden Mordopfer haben unterdessen Furgal auf 1,5 Milliarden Rubel (etwa 16,5 Millionen Euro) Schadenersatz verklagt. In der Zwischenzeit ist außerdem – neben den Ermittlungen zu zwei Auftragsmorden – auch das im Jahr 2004 eingestellte Verfahren wegen eines weiteren versuchten Mordes wieder aufgenommen worden. Wenn das Verfahren tatsächlich politisch motiviert ist, dann statuieren diese Schritte ein Exempel: Straßenproteste, und seien sie noch so stark, können die Behörden nicht dazu zwingen, Entscheidungen von hoher politischer Wichtigkeit zu revidieren. Im Fall Furgal kann es sein, dass er aus dem Amt gedrängt werden sollte, weil er zu unabhängig oder zu beliebt wurde.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Jan Matti Dollbaum
Stand: 13.10.2020