Es war ziemlich aufsehenerregend für einen Sender aus der Provinz. Als der für seine ungewohnt kritische Berichterstattung bekannte Fernsehkanal TV2 in Tomsk vor zwei Jahren noch ums Überleben kämpfte, gab es Solidaritätsproteste mit vielen Hundert Teilnehmern. Aber es half nichts: Plötzlich verlor er seine Lizenz, lebt inzwischen nur noch im Internet fort.
Der Fall TV2 warf damals ein seltenes Schlaglicht auf den Zustand der Medien jenseits der russischen Hauptstadt. Unter welchen Bedingungen arbeiten sie? Das Medienprojekt dv.land lässt vier Macher von Zeitung und Radio zu Wort kommen, die kaum weiter von Moskau entfernt sein könnten: aus der Armur-Region im Fernen Osten direkt an der chinesischen Grenze.
Jelena Pawlowa, Chefredakteurin der Zeitung Amurskaya Pravda:
Eines der Hauptprobleme des Regionaljournalismus ist, dass es im Medienbereich an Gründern fehlt, die wirklich an einer Weiterentwicklung der Medien interessiert sind. Alle nutzen Fernsehsender oder Zeitungen vor allem zur Durchsetzung eigener politischer oder wirtschaftlicher Interessen, was zwar nachvollziehbar ist, sich aber unweigerlich auf die Qualität des Content auswirkt.
Zweitens gibt es mindestens drei Formen der Zensur: durch die Gründer, aus Gefälligkeit Freunden gegenüber und Selbstzensur.
Aus diesen ersten beiden Punkten folgen ein dritter und vierter: der Mangel an brisanten politischen und wirtschaftlichen Materialien, Themen und Sendungen, ebenso wie fehlende Ambitionen bei den Chefredakteuren und folglich auch in den Redaktionsteams.
Ignoriert werden dürfen auch nicht die niedrigen Einnahmen der Medien sowie die geringe Vergütung journalistischer Arbeit.
Die Arbeit des Chefredakteurs einer Regionalzeitung ist ein ewiger Balanceakt zwischen den Interessen des Gründers, den Meinungen und der Loyalität der Journalisten und dem eigenen Gewissen. Er gelingt nicht immer. Aber in solchen Situationen versuche ich immer, dem Gründer meine Position und die der Redaktion klarzumachen. Und den Journalisten sage ich immer ganz ehrlich, wenn ich etwas nicht durchbringen konnte oder kann.
Fairerweise muss gesagt werden: Es gibt nicht nur bei den Regierungsmedien Interessenskonflikte mit den Gründern
Unter diesen Bedingungen haben die Regionalmedien nur eine einzige Aufgabe: die schwierige Krisenzeit zu überleben und dabei die Contentqualität sowie das professionelle Team und die Leserschaft zu halten.
Sicher, wer bei regierungsnahen Zeitungen beschäftigt ist, weiß, dass über eine Reihe unerwünschter Themen nicht berichtet werden soll. Mit der Zeit bildet sich sogar eine Selbstzensur heraus. Doch wie die stellvertretende Chefredakteurin der Rossiskaja Gaseta, die legendäre Journalistin Jadwiga Bronislawowna Juferowa, völlig zu Recht sagt: „Bei einer Regierungszeitung zu arbeiten bedeutet nicht, ein Herz und eine Seele mit den Machthabern zu sein.“ Wir arbeiten, diskutieren, kommen dann überein oder auch nicht, aber wir bemühen uns immer, einander zuzuhören.
Die Selbstzensur ist für mich überhaupt einer der größten Feinde des Journalismus, besonders im Regionalen. Aber wenn du professionell arbeitest, erledigen sich Fragen und Ängste. Ich versuche, hohen Beamten immer klarzumachen, dass Problemthemen aufgegriffen werden müssen – aber das muss professionell geschehen und beide Seiten dürfen nicht hysterisch werden.
Fairerweise muss auch gesagt werden, dass es nicht nur bei den Regierungsmedien Interessenskonflikte mit den Gründern gibt.
Ich beobachte regelmäßig, dass Kollegen aus privaten Zeitungen oder Agenturen einseitig über brisante Themen berichten, dass sie Nachrichten, die für den Gründer unbequem sind, rasch von der Website entfernen und negative Kommentare löschen.
Tatjana Udalowa, Dozentin für Journalismus an der Staatlichen Amur-Universität, Moderatorin der Radiosendung Echo Moskwy w Blagoweschtschenske:
Das größte Problem der regionalen Medien ist die Verflechtung von Journalismus und Regierung. Journalisten und Medienmanager mischen sich oft in die Regierungskreise und arbeiten mit ihnen zusammen; das Gleiche gilt auch für Medien, die Teil der Regierung sind und zu irgendeiner Abteilung einer staatlichen oder kommunalen Behörde gehören. Also gliedern sich Medien oder Medienmanager ins System ein.
An zweiter Stelle steht das Problem, dass den Machthabern und sehr oft auch den Journalisten selbst die Funktion des Journalismus nicht klar ist. Die Machthaber begreifen nicht, dass Journalisten nicht deswegen kritisieren müssen, weil sie am klügsten sind oder am besten wissen, wie man einen Staat, eine Stadt, einen Rajon oder eine Oblast regiert, wie man unterrichtet und heilt, sondern deswegen, weil das ihre Funktion, ihre Aufgabe ist. Weil die Gesellschaft ob dieser Kritik auf eigene Fehler und Versäumnisse der Regierung aufmerksam wird und etwas dagegen unternehmen möge.
Nur verschweigt man bei uns Fehler lieber, als dass man sie behebt. Wo kein Kläger, da kein Problem. Auf höchster Ebene merkt niemand was, also behelligen die von oben einen auch nicht wegen irgendwelcher Probleme vor Ort.
Es fehlt das Verständnis dafür, dass jemand regieren und jemand anderes von der Seite draufschauen muss, mit den Leuten spricht, sich erkundigt, wie es bei ihnen läuft, mit Experten redet, das alles zusammenführt und schließlich etwas Kritisches schreibt. Dann nimmt die Regierung es – zumindest der Theorie nach – zur Kenntnis und behebt den Fehler. Aber die Regierenden verstehen diese Prinzip einfach nicht. Sollte es dereinst mal funktionieren, wird alles wunderbar.
Alle weiteren Probleme kann man auf diese beiden Punkte zurückführen: Die Journalisten hören auf, tief in notwendige Themen einzusteigen und qualitativ anspruchsvolle Analysen zu schreiben, weil die Themen nicht offen behandelt werden dürfen. Deswegen ist das allgemeine Medienniveau niedriger, als es sein könnte. Es gibt Journalisten, die gut analysieren können, aber sie können sich nicht immer erlauben das umzusetzen, entweder weil sie begonnen haben, sich der Regierung anzudienen oder weil sie einfach für die Medien arbeiten, in denen Umfang und Schnelligkeit für das Erscheinen des Materials wichtiger sind als das tiefe Eindringen in ein Thema.
An vierter Stelle steht ein Problem des allgemeinen Niveaus, gar nicht mal so sehr der schreiberischen Fähigkeiten der Journalisten, sondern eher des Horizonts. Es wäre wünschenswert, er wäre breiter – denn mit ihm steht und fällt natürlich auch das Schreiben. Meine Einschätzung der journalistischen Ausbildung hier in der Region ist vermutlich nicht ganz korrekt, aber es ist doch bedauerlich, dass sie so kärglich ist.
Ich habe den Eindruck, dass das Hauptproblem der Amurer Medien ihre Abhängigkeit von den lokalen Eliten ist
Es gibt keine Lehrgänge, keine Wettbewerbe, und wenn es welche gibt, stehen die Regierung oder große Firmen dahinter. Es gibt keine professionellen Analysen, keine gegenseitige Prüfung der journalistischen Arbeiten , etwa von Mitarbeitern landesweiter Medien, wie früher, als es Wettbewerbe gab – beim Fernsehen zum Beispiel mit dem TEFI-Preis –, und die Schule Internews, die Journalisten aus den Regionen einlud.
Bei solchen Wettbewerben finden Workshops statt, man analysiert die Arbeiten mit Hilfe von Profis. Natürlich sind auch sie Journalisten, die manchmal Fehler machen, Dinge übersehen und so weiter, aber immerhin war es ein Blick von außen, von Leuten, die die vielen „Aber“ deiner Region nicht kennen, die nüchtern auf deine Arbeit blicken und sagen: Schau mal, das da ist nicht ganz gelungen, und bei jenem gibt es folgende Fehler, aber insgesamt hat deine Arbeit das und das Niveau. Bei uns gibt es nur den Lehrstuhl für Journalismus der Staatlichen Amur-Universität, andere Möglichkeiten – Weiterbildungen, begleitende Lehrgänge – fehlen.
Marius Schimkus, Chefredakteur von ASN24:
Wenn man an die ruhmreichen alten Zeiten denkt, ist es nicht weit bis zu dem Schluss, das Gras sei früher grüner gewesen. Meiner Einschätzung nach stehen dem Journalismus in der Oblast Amur in den letzten Jahren immer weniger Geld und immer weniger Freiräume zur Verfügung. Der Anzeigenverkauf wird immer schwieriger. Die Situation der Zeitungen ist überhaupt betrüblich. Sich technologisch weiterzuentwickeln, ist bei den lokalen elektronischen Medien einfach ausgeblieben – vielleicht hat man gerade mal angefangen, Push-Nachrichten zu versenden.
Ich habe den Eindruck, das Hauptproblem der Amurer Medien ist ihre Abhängigkeit von den lokalen Eliten. Bei einem so strengen Zensurfilter ist es Journalisten nicht möglich, ein objektives Bild der Welt an die Leser heranzutragen, sie können nicht über Probleme berichten, um die Rechtsschutzorgane oder entsprechende staatliche Stellen auf sie aufmerksam zu machen. Stattdessen gibt es in den lokalen Nachrichten massenhaft Berichte darüber, dass irgendein hohes Tier irgendwohin gereist ist, jemanden getroffen oder irgendwelche Anweisungen gegeben hat. So entsteht ein schönes Bild für Moskau.
Das zweite Problem ist das geringe Prestige des Berufs. Nicht weil das verletzend wäre, sondern weil man den Journalisten durchaus begründet vorwirft, sie würden die Beamten bedienen, und sie verächtlich als Journalistenpack oder sogar Nuttenjournalisten bezeichnet.
Das dritte Problem ist der Braindrain. Sobald sich die hoffnungsvollen Jungtalente die ersten Beulen geholt haben, kratzen sie sich am Kopf, packen ihren Koffer und gehen ins westliche Ausland. Oder wechseln den Beruf. Es bleiben diejenigen, die ein gemütliches Plätzchen zu schätzen wissen oder die in drei Jahren ohnehin in Rente gehen, oder vielleicht Heimatliebende der Gegend hier. Letztlich ändern sich die Medien über die Jahre nicht, sie setzen auf die ewiggleichen Formate mit den ewiggleichen Protagonisten.
Das vierte Problem ist, so scheint mir, dass die meisten Amurer Medien kaum neue Formate für die Informationsvermittlung einsetzen. Das hängt größtenteils mit den knappen Budgets zusammen – an Longreads oder Infografiken ist nicht zu denken, wenn nicht mal Geld für die Gehälter da ist. Aber zum Teil liegt es meiner Meinung nach auch daran, dass weder die Redaktionen noch die Leser wirklich an einer Entwicklung interessiert sind. Unsere Versuche beispielsweise, Partner für Native Advertising zu finden, scheiterten in den meisten Fällen an tiefem Unverständnis. Die Kunden sind nicht bereit, für solche Texte zu zahlen. Aber ein Interview „Iwan Iwanowitsch, was ist das Erfolgsgeheimnis Ihrer Betonblöcke?“, das läuft.
Das fünfte Problem ist, dass ein Praktikum bei einem seriösen landesweiten Medium für junge Journalisten fast unerreichbar ist. Dafür braucht man direkte Kanäle zu Kollegen und Geld für teure Flugtickets. Das Problem mit den Kontakten wird mit dem Weiterbildungsprogramm der Volksfront für Russland zwar etwas entschärft, aber die finanzielle Seite bleibt eine fast unüberwindbare Hürde. In vielen Medien hängen Redaktionspolitik und tägliche Berichterstattung von Vereinbarungen zwischen dem Gründer, Regierungsvertretern und der Geschäftswelt ab. In der Praxis läuft das darauf hinaus, dass bestimmte Themen gezwungenermaßen übergangen werden und gewisse Personen nicht kritisiert werden dürfen. Das kann man schwerlich als Kompromiss bezeichnen: Die Redaktionen verlieren Themen und das Vertrauen ihrer Leser, doch bekommen nichts dafür – vom Gehalt einmal abgesehen.
Es ist kein Geheimnis: Das Massenpublikum reagiert am stärksten auf negative Nachrichten. Unfälle, Mord, Entführungen. Im Fall regionaler Medien kommt meiner Einschätzung nach noch hinzu, dass die Menschen Informationen ablehnen, die aus offiziellen, von Staatspfründen lebenden Medien stammen. Und dann greift eine einfache Regel: Wenn die Medien Informationen nicht liefern, dann suchen die Menschen in Sozialen Netzwerken, Chatdiensten und Foren danach. Die Gruppen Verkehrsstreifen-Kontrolle und Verkehrsstreifen-Aufsicht beispielsweise sind wohl deswegen entstanden, weil die Verkehrspolizei keine hilfreichen Informationen bereitstellte. Dieser, nennen wir sie, Protestwelle schließen sich dann auch oppositionelle Bewegungen an.
Ehrlich gesagt bin ich ziemlich pessimistisch – jedenfalls wenn es um Journalismus in der Oblast Amur geht. Man müsste eine kleine, aber stolze, unabhängige Redaktion von zwei bis drei Leuten zusammenstellen und dann qualitativ ordentlichen Content machen, aber hier in der Region solche Mitarbeiter zu finden, ist fast unmöglich.
Maxim Jermakow, Korrespondent, ehemaliger Chefredakteur der Zeitung BAM, Vorstandsmitglied der Sektion Amur des russischen Journalistenverbands:
Die Arbeit des Chefredakteurs eines regionalen Massenmediums geht damit einher, dass es bei heiklen Themen immer einen Kommentar braucht, in dem die Regierungsposition zu lesen ist. Außerdem gehört es auch zur Politik eines Staatsmediums, die Regierungstätigkeiten, ihre Entscheidungen, Programme und Projekte zu erläutern.
Provinzialität kommt bei den Medien hier im Fernen Osten immer seltener vor. Die regionalen Medien (sowohl die gedruckten als auch die elektronischen) suchen stets neue Modelle und schicken ihre Mitarbeiter auf Seminare außerhalb der Region. Inzwischen werden auch neue Richtungen weiterentwickelt – Grafiken, Kolumnen, eine enge Verbindung zwischen der Zeitung und ihren Auftritten in den Sozialen Netzwerken.
Natürlich gibt es auch Probleme: Personalmangel, hohe Druckkosten, die schlechte Erreichbarkeit mancher Ortschaften und die große Distanz zwischen ihnen, was die Organisation eines eigenen Abo-Diensts und den Vertrieb erschwert, dann gibt es noch die Verspätungen der russischen Post und schlechte Internetverbindungen.
Das Niveau der Journalistenausbildung ist ziemlich schlecht, weil es in der Abteilung für Journalismus der regionalen Hochschule an Dozenten mit erstklassigem Know-How mangelt. Ich will nicht ausschließen, dass man zum Erhalt der städtischen und regionalen Zeitungen irgendwann eine einzige Medienholding gründet.