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Häusliche Gewalt in Russland

Häusliche Gewalt ist ein verbreitetes Problem in Russland und wird dennoch als Normalität akzeptiert. Allein in den Jahren 2021-2022 sind in Russland fast 1000 Frauen von ihren Partnern oder nahen Verwandten getötet worden. Mit der Rückkehr kriegstraumatisierter russischer Soldaten aus den Kämpfen gegen die Ukraine verschärft sich die Situation, zumal bereits verurteilte Straftäter unter ihnen sind. Die Theologin und Russland-Expertin Regina Elsner beschreibt in ihrer Gnose für dekoder die Entwicklung häuslicher Gewalt und die Rolle von Staat, Kirche und Zivilgesellschaft. 

Gnose Belarus

Janka Bryl

Janka Bryl – Dokumentarist und Schriftsteller – gehörte zu den prominenten Stimmen der sowjetisch-belarusischen Literatur. Wer war er? Was trieb ihn an? Was prägte sein Schaffen? Eine Gnose von Philine Bickhardt. 

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Politische Talkshows

Wochentags, 10.30 Uhr1: Nach einer kurzen Sendung, in der es um Gesundheitsfragen, Abnehmtipps und Haarpflege geht, laufen auf den zwei wichtigsten Staatssendern Russlands, Rossija 1Ein staatlicher Fernsehsender, der zusätzlich zu seinem Hauptprogramm noch 80 Regionalsender unterhält. Er gehört zur Allrussischen Staatlichen Fernseh- und Radiogesellschaft (WGTRK). und Perwy KanalDer Erste Kanal gilt aufgrund seiner hohen Reichweite als das wichtigste Massenmedium des Landes. Seit dem Ende der Sowjetunion war er stets mehrheitlich im Staatsbesitz – wenn auch seit 1994 unter Beteiligung von Großunternehmern. Er ist ein zentrales Instrument der politischen Kommunikation des Kreml. undefined , die ersten politischen Talkshows. Gemeinsam mit den Nachrichten dominieren sie das Fernsehprogramm bis Mitternacht. Unterbrechungen durch andere Sendungen gibt es kaum, weshalb Polit-Talks gemeinsam mit den Nachrichten auf dem Perwy Kanal auf rund zwölf Stunden Sendezeit pro Tag kommen.2 In den Talkshows geht es nahezu ausschließlich um den Krieg gegen die Ukraine, der als „militärische Spezialoperation“Der Kreml bezeichnet den Krieg gegen die Ukraine als „militärische Spezialoperation“. Abweichungen von dieser Lesart können in Russland als das Verbreiten von „Fake News über die russische Armee“ gedeutet werden. Diese können mit einem am 4. März 2022 in Kraft getretenen Gesetz mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden.  bezeichnet wird. 

Wie kommt es, dass Nachrichten und Polit-Talkshows eine derart große Rolle im russischen Staatsfernsehen spielen? Und worum geht es in diesen Sendungen? Slawistin Magdalena Kaltseis blickt hinter die Kulissen und erzählt die Geschichte vom Aufstieg der TV-Talkshows zum derzeit wohl wichtigsten Fernsehgenre und Propagandainstrument Russlands. 

Waffenlieferungen an die Ukraine werden nicht nur im deutschen Fernsehen heiß debattiert. Auch das russische Staatsfernsehen beschäftigt sich damit, jedoch auf eine spezielle Art und Weise. So fragte der Fernsehmoderator Wladimir SolowjowWladimir Solowjow (geb. 1963) gehört zu den einflussreichsten Akteuren der kremltreuen Medienwelt Russlands. Er moderiert mehrere quotenstarke Radio-  und Fernsehsendungen und führt regelmäßig Exklusiv-Interviews mit hohen Politikern. Daneben produziert er seit 2009 Dokumentationen für die staatliche Rundfunkanstalt WGTRK. Unter anderem ist Solowjow Autor der propagandistischen TV-Dokumentation President (dt: Der Präsident.) undefined am 15. Juni 2022 einen seiner Gäste: „Werden sie [die NATO – dek] endlich gegen uns kämpfen?“. „Ja“, antwortet der Gast, „faktisch tun sie das schon. Wir sehen jetzt, wie die ganze Welt auf Russland scharf gemacht wird, das ist der alte Plan, den man jetzt in die Tat umzusetzen versucht. Jede NATO-ArmeeDie Beziehungen zwischen der NATO zu Russland standen von Anfang an unter keinem guten Stern. Der erste Generalsekretär der NATO, Hastings Ismay, brachte es in den 1950er Jahren auf die kurze Formel: „to keep the Russians out, the Americans in, and the Germans down“. Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Systeme in Osteuropa stand zeitweise jedoch sogar eine russische NATO-Mitgliedschaft im Raum. Die frühen 1990er Jahre waren von schwierigen Diskussionen geprägt, bei denen einerseits Beitrittswünsche osteuropäischer Staaten und andererseits russische Empfindlichkeiten berücksichtigt werden mussten. Letztlich setzte sich die Linie des amerikanischen Präsidenten Bill Clinton durch, der eine Osterweiterung der NATO befürwortete. Heute sind die Beziehungen zwischen der NATO und Russland stark angespannt.  undefined öffnet ihre Lager und alles, was sie an Waffen haben, schmeißen sie an die Front …“. „Dann macht es doch Sinn“, entgegnet der Moderator Solowjow, „eine zweite Front zu eröffnen und Deutschland anzugreifen, solange es absolut wehrlos ist? Damit es bei diesen Nazis keine Illusionen mehr gibt.“3

Dieser kurze Ausschnitt aus dem Talkshow-Abend mit Wladimir Solowjow, der wochentags jeden Abend auf Rossija 1 läuft, macht deutlich, auf welcher Ebene die Debatten im Fernsehen geführt werden. Dem Westen wird in diesen Shows einerseits pausenlos gedroht, unter anderem mit Atomwaffen. Andererseits werden die USA, die EU oder die NATO lächerlich gemacht, zum Beispiel, indem US-Präsident Joe Biden in einem eingespielten Video eine schrille und kreischende Synchronstimme erhält. 

ARENEN DER EMOTIONEN

Talkshows sind eine Mischung aus Unterhaltung und Information und werden dem sogenannten Infotainment zugeordnet – auch in Russland.  Aber insbesondere bei russischen Talkshows geht es nicht primär um ihren Informationswert, sondern vor allem um die Emotionen, die sie hervorrufen. Skandale, Hetzrede, persönliche Beleidigungen und geschmacklose Unterhaltung stehen im Zentrum dieses heute gut etablierten Typs politischer Talkshows in den russischen Staatssendern.
Auf diese Weise sind russische Polit-Talkshows, wie sie von staatlichen und staatsnahen TV-Sendern produziert werden, offensichtlich ein Erfolgsrezept. Aufgrund ihrer Vielfalt, der oftmals obszönen und vulgären Sprache4 sowie der geladenen Gäste sprechen sie unterschiedliche Bevölkerungsschichten und Generationen an – politische Talkshows belegen stets hohe Plätze in Sendungsrankings und erreichen häufig einen Zuschaueranteil von bis zu 25 Prozent, manchmal auch mehr. 

Dabei wird in den Sendungen versucht, emotionale Reaktionen des Publikums durch lautes Brüllen, verbale oder physische Attacken5, Schockbilder oder Gräuelgeschichten zu erzeugen. Diese Taktiken dienen nicht nur boulevardesker Unterhaltung, sondern auch der Verstärkung von Feindbildern, die in den Talkshows transportiert werden – allen voran gegenüber der Ukraine und den USA. Oftmals werden in den Sendungen Kämpfe inszeniert: Liberal-oppositionell oder ukrainefreundlich gesinnte Diskutanten treffen auf dem Bildschirm auf patriotisch-konservative Gäste. Letztere dominieren die Shows, diffamieren ihre Kontrahenten und gehen meist als „Sieger“ hervor. Aber auch die Moderatoren der Polit-Talks werden schon einmal handgreiflich und werfen Gäste aus dem Studio: „Halt die Fresse! Verpiss dich, du faschistische Laus!“ Mit diesen Worten schrie der Moderator der Sendung Wremja pokashet (dt. Die Zeit wird es zeigen) einen der „proukrainischen“ Gäste an, der angemerkt hatte, die Rote Armee sei 1941 aus der Ukraine „schändlich abgehauen“. Im Anschluss wurde der Gast vom Security-Team aus dem Studio geworfen
 
Heute fungieren politische Talkshows in erster Linie als emotionale Unterstützung einer weitgehend entpolitisierten und bereits vorherrschenden Stimmung, die durch die politische Führung, das System unter Putin und entsprechende Nachrichten geschaffen wurde. Gleichzeitig haben sie in den letzten Jahren zunehmend eine didaktische und meinungsmanipulative Funktion eingenommen und beeinflussen somit maßgeblich die öffentliche Meinung.6 Das war jedoch nicht immer so.

SYMBOLE DER PERESTROIKA

In Russland etablierten sich Talkshows erst während des Zusammenbruchs der SowjetunionDer Zerfallsprozess der Sowjetunion begann Mitte der 1980er Jahre und dauerte mehrere Jahre an. Die Ursachen sind umstritten. Während einige hauptsächlich Gorbatschows Reformen für den Zerfall verantwortlich machen, sehen andere die Gründe vor allem in globalen Dynamiken. Eine zentrale Rolle spielte in jedem Fall die Politik der russischen Teilrepublik. undefined und stehen in engem Zusammenhang mit den gesellschaftlichen Umbrüchen und Veränderungen dieser Zeit.7 Als Diskussions- und Gesprächsplattform stellten die Talkshow in einer Periode der angestrebten TransparenzGlasnost ist ein politisches Schlagwort, das Transparenz, Informationsfreiheit und das Fehlen von Zensur bezeichnet. Michail Gorbatschow (geb. 1931) führte den Begriff 1986 ein und stellte damit die Weichen für mehr Meinungs- und Redefreiheit. 
 
, Offenheit und Meinungsfreiheit das geeignete Format dar, um politische oder gesellschaftliche Fragen öffentlich zu diskutieren. Neue TV-Formate wurden zunächst aus dem westlichen Fernsehen übernommen, wobei sich Talkshows aufgrund ihres hohen Massenanreizes und der relativ niedrigen Produktionskosten besonders gut für das russische Fernsehen eigneten.8 Insbesondere waren es jedoch die politischen Talkshows nach US-amerikanischem Vorbild, die übernommen wurden. Eine der ersten Ende der 1980er Jahre entstandenen Talkshows und Symbole der PerestroikaIm engeren Sinne bezeichnet Perestroika die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Umgestaltung, die auf Initiative von Michail Gorbatschow ab 1987 in der Sowjetunion durchgeführt wurde. Politische Öffnung und größere Medienfreiheit führten bald dazu, dass sich die Forderungen nach Veränderung verselbständigten – obwohl die Reformen neben viel Hoffnung auch viel Enttäuschung brachten. Die Perestroika läutete einen unaufhaltsamen Prozess des Wandels ein und mündete im Ende der Sowjetunion. undefined war die von dem 1995 erschossenen Journalisten Wladislaw Listjew moderierte Sendung Wsgljad (dt. Blick), in der neben der Diskussion der Wochennachrichten erstmals auch zeitgenössische Popmusik aus dem Ausland und Musikclips westlicher Popstars zu hören und zu sehen waren.9 Aus dieser Zeit stammt auch der heute im Russischen gebräuchliche Terminus tok-schou, eine direkte lexikalische Entlehnung des englischen Begriffs talk show.10 

ENTPOLITISIERUNG DES FERNSEHENS

Bis zur Jahrtausendwende entwickelte sich eine eigenständige Form der russischen Polit-Talkshows, zu deren Gründungsvätern neben Listjew auch Wladimir PosnerWladimir Posner (geb. 1934) ist einer der bekanntesten Fernsehmoderatoren in Russland. Seine Sendung, die seit 2008 im Ersten Kanal gezeigt wird, ist eine der wenigen Sendungen im Staatsfernsehen, in der kritische Fragen unter anderem an hohe Beamte gestellt werden dürfen. Unter vielen Liberalen in Russland gilt Posner vor diesem Hintergrund als eine Art Feigenblatt und Ventil für Unzufriedenheit der Gesellschaft mit dem politischen System des Landes. zählte, der noch bis zur Invasion in die Ukraine im Februar 2022 als Moderator tätig war und als TV-Patriarch gilt. Während einige Polit-Talkshows, die sich anfangs vor allem mit dem Wechsel der politischen Elite beschäftigten, zu „Instrumenten innerer Informationskriege“11 wurden, hatten andere Sendungen eine wichtige investigative Funktion. So thematisierte beispielsweise die Talkshow Nesawissimoje rassledowanije (dt. Unabhängige Untersuchung) auf NTWNTW ist einer der quotenstärksten TV-Kanäle Russlands. Er besteht seit 1993 und gehörte bis 2001 zur Holding des damaligen Medienmagnaten Wladimir Gussinski (geb. 1953). Dieser nutzte seine Medien auch zur politischen Einflussnahme. Vor allem NTW, das für viele als anspruchsvoll und innovativ galt, entwickelte sich zu einer Art Sprachrohr von Gussinksi, der damit auch die autoritäre Konsolidierung unter Putin kritisierte. Laut Beobachtern soll NTW 2001 vor allem wegen dieser Kritik von der staatsnahen Holding Gazprom-Media übernommen worden sein. die Rolle des FSBFSB (Federalnaja slushba besopasnosti, dt. Föderaler Sicherheitsdienst) ist der Inlandsgeheimdienst Russlands. Er ging aus dem sowjetischen Geheimdienst KGB hervor, der nach dem Ende der Sowjetunion zerschlagen wurde. Heute gehören Spionageabwehr, Terrorismusbekämpfung, aber auch organisierte Kriminalität und Wirtschaftskriminalität zum Arbeitsgebiet des FSB. Schätzungsweise rund 350.000 Menschen arbeiten heute für die Behörde. undefined bei der Serie von Bombenanschlägen in MoskauIm September 1999 erschütterten mehrere nächtliche Explosionen die Städte Bujnaksk, Moskau und Wolgodonsk. Die Bomben detonierten in großen Wohnblöcken, über 300 Menschen wurden getötet. Die Ermittler gingen von Terroranschlägen tschetschenischer Separatisten aus, in Gerichtsprozessen wurden einige Personen verurteilt, andere in Tschetschenien von Spezialkräften getötet. Die Anschlagsserie war einer von mehreren Anlässen für den Zweiten Tschetschenienkrieg – noch im September ordnete Ministerpräsident Putin die Bombardierung Grosnys an. Von Beginn an gab es Vermutungen, der russische Geheimdienst könnte an den Aktionen beteiligt gewesen sein. Eine unabhängige Kommission aus Parlamentariern konnte die Vorfälle nicht aufklären, da die Regierung Auskünfte verweigerte. Zwei Mitglieder der Kommission sind seitdem Mordanschlägen zum Opfer gefallen, ihr Anwalt wurde zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt. und anderen russischen Städten im August und September 1999.12

NTW nahm ab Beginn der 2000er Jahre eine führende Rolle bei der Produktion politischer Talkshows ein,13 beispielsweise wurde auf diesem Sender die von Jewgeni KisseljowDer Fernsehjournalist Jewgeni Kisseljow war bis zur Auflösung der NTW-Redaktion Generaldirektor und Chefredakteur dieses bis dahin regierungskritischen TV-Senders. Nach eigener Aussage ist Kisseljow 2008 aufgrund politischen Drucks in die Ukraine ausgewandert. Hier ist er in mehreren Medienformaten beschäftigt, unter anderem führt er seine Sendung Nawerchu (dt. Oben) fort – eine Diskussionsrunde zu aktuellen politischen Ereignissen, die auf NTW in den Jahren 1994 bis 2001 unter dem Namen Itogi (dt. Bilanz) hohe Einschaltquoten erreichte. moderierte Talkshow Glas naroda (dt. Stimme des Volkes) ausgestrahlt. Allerdings ging in den Jahren unmittelbar nach dem Amtsantritt Wladimir Putins die Anzahl politischer Talkshows zunächst zurück, was mit der allgemeinen Entpolitisierung des russischen Fernsehens in den 2000er Jahren einherging.14 

DER Krieg gegen die Ukraine UND DIE NEUE FORM DER POLIT-TALKSHOW

Das Jahr 2014, die Annexion der Krim und der Krieg im DonbassDer Krieg im Osten der Ukraine ist eine militärische Auseinandersetzung zwischen der Ukraine und den selbsternannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Die Ukraine wirft dem Nachbarland Russland vor, die Rebellen mit Personal und Waffen zu unterstützen, was Russland bestreitet. Der Krieg kostete bereits rund 13.000 Menschen das Leben. Eine anhaltende Waffenruhe konnte trotz internationaler Vermittlungsbemühungen nie erreicht werden. Am 24. Februar 2022 hat Russland die Ukraine offen und umfassend angegriffen. undefined stellten einen Wendepunkt für Polit-Talks dar, da im Herbst 2014 nicht nur die Anzahl politischer Talkshowreihen im russischen Fernsehen stark zugenommen hat, sondern seitdem auch ein neuer Stil in diesen Shows beobachtet werden kann.15 So kam zu dieser Zeit Wremja pokashet neu bei Perwy kanal ins Programm. Diese Show war eine Neuheit im russischen Fernsehen, da mit ihr erstmals eine Polit-Talkshow nachmittags ausgestrahlt wurde und sie daher von der bekannten Fernsehkritikerin Irina Petrowskaja als „Politik für Hausfrauen“ bezeichnet wurde16. Seit dem 24. Februar 2022 und der Ausweitung des Krieges auf die gesamte Ukraine produziert diese Show bis zu sechs Stunden Sendezeit täglich und konzentriert sich meist auf ein einziges Thema: die Ukraine. 

Auf anderen Fernsehkanälen wie Rossija 1, NTW und TWZTWZ ist ein Fernsehsender im Besitz der Moskauer Stadtverwaltung, der vor allem regionale Sendungen für verschiedene russische Großstädte produziert. drehen sich die politischen Talkshows ebenfalls fast ausschließlich um die Ukraine, und auch hier wurden politische Talkshowreihen neu ins Programm aufgenommen. 
Im September 2016 startete auf Rossija 1 die Polit-Talkshow 60 minut, die mittlerweile zwei Mal täglich – vormittags und abends – gesendet wird. Kennzeichnend für diese Sendung sind neben persönlichen Beleidigungen und Anfeindungen der Gäste vor allem Diffamierungen des ukrainischen Staates, weshalb sie von kritischen Stimmen auch „60 Minuten des Ukrainehasses“ genannt wird.17 Die beiden Moderatoren – Olga Skabejewa und Jewgeni Popow – werden im Gegensatz zu vielen anderen im Studio weder handgreiflich noch verwenden sie obszöne Lexik. Sie benutzen hingegen andere Methoden, um die Ukraine zu diffamieren. So schenkte das Moderatorenpaar dem inzwischen verstorbenen rechtspopulistischen Politiker Wladimir ShirinowskiWladimir Wolfowitsch Shirinowski (1946–2022) war Gründer und Vorsitzender der nationalistischen Liberal-Demokratischen Partei Russlands (LDPR). Seine Auftritte zeichneten sich durch extrem populistische Rhetorik, antisemitische Stereotype und regelmäßige Handgreiflichkeiten vor laufenden Kameras aus. Zudem hatte er wiederholt zu militärischer Gewalt gegen westliche Staaten aufgerufen. Shirinowski galt als ein zuverlässig Grenzen überschreitender Politclown und als ein essentieller Bestandteil des russischen öffentlichen Lebens. undefined zu seinem 73. Geburtstag im Jahr 2019 eine Torte in Form der Ukraine, welche er mit einem Messer in zwei Hälften teilte. Anlässlich des Todestages des Politikers am 6. April 2022 wurde dieses Video in der Sendung noch einmal gezeigt und der sichtlich aggressive Akt der Zerteilung der Ukraine von der Moderatorin, Olga Skabejewa, süffisant als „Vorhersehung“ gedeutet.
 



Teilungsphantasie im Jahr 2019: Wladimir Shirinowski zerschneidet vor laufender Kamera eine Torte, die die Form der Ukraine hat, und kommentiert, welcher Teil des Landes seiner Vorstellung nach besser zu Russland gehören sollte.

Neben der Abwertung der Ukraine sind die russische Außenpolitik, die historische Glorifizierung Russlands sowie der Konkurrenzkampf mit dem Westen beliebte Themen in den Talkshows. Oftmals werden auch unterschiedliche und widersprüchliche Deutungen bestimmter Ereignisse geliefert: etwa über den Abschuss des Flugs MH 17Flug MH17 war ein Linienflug des Unternehmens Malaysia-Airlines von Amsterdam nach Kuala-Lumpur, der am 17. Juli 2014 auf dem Separatistengebiet im Osten der Ukraine abgestürzt ist. Alle 298 Passagiere kamen dabei ums Leben. Laut Untersuchungsbericht ist das Flugzeug von einer BUK-Luftabwehrrakete aus russischer Produktion abgeschossen worden. Während die Ukraine und der Westen die prorussischen Seperatistenmilizen für die Tat verantwortlich machen, beschuldigt Russland die Ukraine und leugnet die Lieferung von entsprechender Technik an die Aufständischen. Die Einrichtung eines internationalen UN-Sondertribunals zur Klärung dieser Frage scheiterte im Juli 2015 am Veto Russlands. oder die Kriegsverbrechen in Butscha. Ziel ist es, das Publikum zu verwirren und Fakten zu verwischen.
Seit dem Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine sah sich auch das Publikum in Russland über Soziale Netzwerke mit einer Flut von Fotos und Videos konfrontiert, welche die zerstörten ukrainische Städte und Kriegsverbrechen zeigten, mutmaßlich begangen durch die russische Armee. Binnen weniger Tage verabschiedet die StaatsdumaAls Staatsduma wird das 450 Abgeordnete umfassende Unterhaus der Föderalen Versammlung Russlands bezeichnet. Im Verhältnis zu Präsident und Regierung nimmt die Duma verfassungsmäßig im internationalen Vergleich eine schwache Stellung ein. Insbesondere das Aufkommen der pro-präsidentiellen Partei Einiges Russland führte dazu, dass die parlamentarische Tätigkeit zunehmend von Präsident und Regierung bestimmt wurde. undefined daraufhin ein Gesetz, wonach die Verbreitung von „Fake News“ über die russische Armee – respektive Informationen, die nicht unmittelbar von russischen offiziellen Stellen stammen, – mit bis zu 15 Jahren Haft bestraft werden können. Kurz darauf kündigte der Perwy Kanal eine neue Sendung unter dem Titel AntiFejk (dt. Anti-Fake) an: „Videos und Fotos dürfen nicht als Beweise oder Informationsquellen gelten, egal woher sie stammen“, so der Werbespot der Show.18 Diese neue Show soll dem Zuschauer, wie verkündet wird, dabei helfen, die „Lüge von der Wahrheit“ zu unterscheiden und demonstrieren, dass alles, was die ukrainische Seite oder der Westen berichten, falsch bzw. Fake ist. Damit schafft sie vor allem eines: Desinformation. Die Show versucht, Zweifel an den Gräueltaten der russischen Armee in der Ukraine zu streuen und dadurch beim Zuschauer Gleichgültigkeit zu fördern. Das geschieht auch dadurch, dass sie „dem kollektiven Westen eine beispiellose Emotionalisierung“ vorwirft, die auf Fakes beruhe – das Mitgefühl mit den Opfern in der Ukraine wird dadurch zu einem „feindlichen, westlichen Gefühl“.19 

ZENTRALE INSTANZ – DER MODERATOR 

Zu den zentralen Charakteristika von Talkshows zählt neben der vermeintlichen Leichtigkeit des Gesprächs und der Anwesenheit eines Publikums (was jedoch während der Coronapandemie aufgegeben und nur teilweise wieder aufgenommen wurde) die Wortgewandtheit des Moderators.20 Letzterer ist gleichzeitig Marke und Aushängeschild der Talkshow, sein Familienname figuriert oftmals als Teil des Talkshownamens. Bemerkenswert ist, dass Polit-Talkshows seit 2014 auch immer wieder von Politikern der Putin-Partei Einiges RusslandDie Partei Einiges Russland ist der parlamentarische Arm der Regierung. Ihre Wurzeln entstammen einem Machtkampf zwischen Jelzin und seinen Herausforderern im Jahr 1999. Danach entwickelte sie sich schnell zu einer starken politischen Kraft: Seit 2003 hat sie eine absolute Mehrheit der Parlamentssitze inne. Obwohl sie durchaus eine Stammwählerschaft entwickelt hat, verdankt sie ihren Erfolg zu großen Teilen Putins persönlicher Beliebtheit. undefined moderiert werden, darunter Pjotr Tolstoi und Wjatscheslaw NikonowWjatscheslaw Nikonow ist ein russischer Historiker und Politiker der Regierungspartei Einiges Russland, für die er im Parlament sitzt. Er ist ein Enkel von Wjatscheslaw Molotow, der unter Stalin Außenminister der UdSSR war. Präsident Putin ernannte Nikonow im Jahr 2007 zum Vorsitzenden der neu gegründeten Stiftung Russkij Mir (dt. „russische Welt“)..21 

Einer der derzeit wohl bekanntesten Moderatoren ist Wladimir Solowjow. Er ist einer der wichtigsten Propagandisten des russischen Staatsfernsehens, und im Zusammenhang mit dem Krieg wurden gegen ihn persönlich Sanktionen verhängt. Beleidigung und Diffamierungen sind bei Solowjow an der Tagesordnung, insbesondere gegen Oppositionelle und unabhängige Medien. So bezeichnete er in seiner Sendung die Novaya Gazeta und ihre Mitarbeiter als „widerliche, dumme Drecksäcke“ und den Chefredakteur des (inzwischen geschlossenen) Radiosenders Echo Moskwy als „Faulzahn“. Adolf Hitler dagegen nannte der Moderator einen „mutigen Mann“, weshalb er von Alla Gerber, der Präsidentin der HolocaustEtwa 2,6 Millionen der rund sechs Millionen Opfer des Holocaust wurden auf dem Gebiet der Sowjetunion ermordet. Die systematische Ermordung der sowjetischen Juden begann zeitgleich mit dem Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges im Juni 1941. Vor allem auf jenen Gebieten, die 1939/40 von der Sowjetunion annektiert worden waren, erschossen deutsche Einheiten unter Mithilfe einheimischer Hilfskräfte Hunderttausende Juden.  undefined Stiftung, als „Schande für den Journalismus, die Nation und Russland“ kritisiert wurde.22 

Solowjow ist jedoch nicht der Einzige, der polarisiert und stark diffamierende sowie expressive Lexik verwendet. Ein weiteres grelles Beispiel dafür ist Artjom Scheinin, der seit 2016 durch seine Moderation von Wremja pokashet einem breiteren Publikum bekannt geworden ist. Er zeichnet sich durch seine platte und politisch inkorrekte Ausdrucksweise sowie die Verwendung von MatMat ist die Bezeichnung für die russische Vulgärsprache, die deutlich stärker tabuisiert ist als deutsche Kraftausdrücke. Der Mat besteht aus wenigen Wortwurzeln, die ursprünglich die Geschlechtsteile und den Geschlechtsakt bezeichnen und in anderen Bereichen des Lebens verwendet werden, um eine besondere (positive oder negative) Ausdruckskraft zu erreichen. Die Benutzung von Mat ist in den russischen Medien gesetzlich verboten, einzelne Buchstaben werden oft mit Sternchen („p***a“) oder Punkten („ch…“) ersetzt. undefined aus.23 Scheinin provoziert bewusst in seinen Talkshows – sei es mit der Verharmlosung der Tötung von Menschen24 oder mit einem Eimer Fäkalien: So sollte in einer Sendung ein ukrainischer Experte vor laufenden Kameras quasi bekennen, dass die Krim schon immer russisch gewesen sei. Als er sich weigerte, stellte Scheinin dem völlig verdutzten Gast einen vorbereiteten Eimer mit Fäkalien vor die Füße; das Studiopublikum klatschte begeistert.



Moderator Artjom Scheinin stellt einem verdutzten Gast einen Eimer Fäkalien vor die Füße, weil der sich weigert, die Krim als russisch anzuerkennen.

WIEDERKEHRENDE GESICHTER UND MEINUNGEN

Obwohl die teilweise unzensierte Sprache der Moderatoren den Anschein von Spontanität und Live-Übertragungen vermittelt, sind die meisten Sendungen inszeniert und folgen einem vorgefertigten Drehbuch.25 Speziell in russischen Talkshows werden immer wieder dieselben Gäste und sogenannte Experten eingeladen, damit sie eine bestimmte Position – Freund oder Feind Russlands – vertreten. So mimt beispielsweise der gebürtige Amerikaner Michael Bohm regelmäßig den westlichen Feind Russlands, tingelt durch die verschiedenen Sendungen und Fernsehkanäle und wird dafür sehr gut bezahlt.26 Darin besteht auch der Unterschied zu den Polit-Talkshows der 1990er Jahre: Waren damals die Talkshows und Moderatoren noch um einen gewissen Meinungspluralismus bemüht, sind heute diejenigen erfolgreich, die am lautesten schreien, geschmacklose Witze vorbringen, raufen, den Gegner verbal niedermachen und mit allen Mitteln polarisieren. 

Seit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine lässt sich zudem eine weitere Tendenz in den Polit-Talks ausmachen – die wiederholte Prophezeiung eines nuklearen Kriegs beziehungsweise Dritten Weltkriegs. Ob dies im Auftrag des Kreml geschieht oder ob es dabei um Stimmungsmache oder das „Testen“ bestimmter Szenarien geht, bleibt offen. Es wird jedoch ernsthaft über die Möglichkeit einer Ausweitung des Krieges gesprochen: Wie die Chefredakteurin von RTRossija Sewodnja (dt. „Russland Heute“) ist staatliche Nachrichtenagentur und Medienunternehmen mit Sitz in Moskau. Das Unternehmen ging 2013 aus der Nachrichtenagentur RIA Nowosti hervor. Unter der Dachmarke Sputnik betreibt es außerdem ein Internetportal, das nach eigener Angabe Nachrichten in über 30 Sprachen bietet. Nach Angaben der Wirtschaftszeitung RBCdaily bekam Rossija Sewodnja im Jahr 2015 – umgerechnet – rund 263 Millionen Euro zum Ausbau des Programms. , Margarita Simonjan, in Solowjows Sendung im April 2022 verkündet, scheine ihr das Unmögliche, dass alles in einem Atomkrieg ende, immer wahrscheinlicher. Solowjow zitiert daraufhin wortwörtlich eine Äußerung Putins, mit welcher er bereits 2018 auf dem Waldai-ForumBei seiner Rede auf dem Treffen des Waldai-Klubs – einer internationalen Plattform zur Förderung des Dialogs zwischen (Russland)Experten und Politikern – in Sotschi 2014 erhob Wladimir Putin schwere Vorwürfe gegen die Außenpolitik der USA. Die Vereinigten Staaten hätten die Eskalation des Ukraine-Konflikts verursacht und würden der Welt ihre hegemoniale Ordnung aufzwingen wollen, wodurch das Risiko internationaler Konflikte zunehme, so der Präsident. provoziert hatte: „Aber wir kommen ins Paradies und sie [der Westen und die Ukraine – dek] werden einfach verrecken.“ 


1.vgl. ein angekündigtes Fernsehprogramm: yaom.ru: Programma peredač Rossija 1 na 9 marta 2022 goda 
2.vgl. Kaltseis (2022): Russia’s invasion of Ukraine: The first day of the war in Russian TV talk shows 
3.smotrim.ru: Ukraina, Zapad i političeskie kidaly. Ėfir ot 15.06.2022 
4.vgl. Novaja Gazeta: Govorit i pokazyvaet podvorotnja 
5.Lenta.ru: Veduščij Pervogo kanala nabrosilsja na gostja programmy 
6.vgl. The Washington Post: Russia’s TV talk shows smooth Putin’s way from crisis to crisis 
7.vgl. Kozlova/Bondarev (2011): Nacional’nye osobennosti razvitija žanra obščestvenno-političeskogo tok-šou na rossijskom televidenii, in: Vestnik VolGU, 8 /10, S.119f. 
8.vgl. Hutchings/Rulyova (2009): Television and culture in Putin’s Russia. Remote control, London/New York, S. 90 
9.vgl. Lenta.ru: «Ėto norma»: Kak Pervyj kanal zadaval ton otečestvennomu TV 
10.vgl. Kozlova/Bondarev (2011), S.120 
11.vgl. Dolgova (2017): Social’naja i političeskaja tematika v obščestvenno-političeskich tok-šou 2014-2015 gg, in: Tichonova: Social’nye aspekty sovremennogo veščanija v Rossii, Vypusk II, Moskva, S. 17 
12.vgl. Youtube: Popytka vzryva doma FSB ili učenija? Nezavisimoe rassledovanie 
13.vgl. Novikova (2008): Sovremennye televizionnye zrelišča: istoki, formy i metody vozdejstvija, Sankt Peterburg, S. 195 
14.vgl. Dunn (2009): Where did it all go wrong? Explaining Russian television in the Putin era, in: Beumers/Hutchings/Rulyova (eds.): The Post-Soviet Russian Media - Conflicting Signals, New York, S. 44 
15.​​​​​​​​vgl. Dolgova (2015): Fenomen populjarnosti obščestvenno-političeskich tok-šou na rossijskom TV osen’ju 2014 goda – vesnoj 2015 goda, in: Vestnik MGU serija 10, Žurnalistika 6, S. 163 
16.echo.msk.ru: Čelovek iz televizora (20.09.2014) 
17.vgl. currenttime.tv: V Latvii zapretili telekanal ‘Rossija‘ za razžiganie nenavisti k ukraincam 
18.Perwy kanal: O projekte. AntiFejk 
19.Geschichtedergegenwart.de: Der „forensische“ Blick 
20.vgl. Kuznecov (2004): Tak rabotajut žurnalisty TV: 2-e izdanie, pererabotannoe, Moskva, S. 29-31 
21.vgl. Kozlova/Bondarev (2011), S.121 
22.vgl. Youtube: Alla Gerber žëstko otvetila Solov’ëvu: Ja ne ošiblas’! 
23.vgl. Interfax.ru: Televeduščego Šejnina nakažut za mat v ėfire 
24.Moskovskij Komsomolez: «Ja ubival»: Veduščij «Pervogo kanala» sdelal priznanie v efire 
25.vgl. Timberg et al. (2002): Television Talk: A History of the TV Talk Show, Austin, S. 5f. 
26.vgl. The Insider: Ispoved’ propagandista 
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