Russlands Präsident Wladimir Putin hat eine sofortige „Teilmobilmachung“ verkündet. Seine Rede war zunächst für den Dienstagabend angekündigt gewesen, das russische Staatsfernsehen strahlte sie schließlich am Mittwochmorgen, 21. September, aus.
Wenige Stunden zuvor hatte die Duma noch Änderungen im Strafgesetzbuch beschlossen, die im Falle von „Kriegszeiten“ und „während einer Mobilmachung“ gelten sollen und verschärfte Strafen vorsehen: Demnach drohen für Fahnenflucht bis zu zehn Jahre, für Kriegsdienstverweigerung bis zu drei Jahre Haft. Beobachter werteten dies als ein weiteres Anzeichen für eine Mobilmachung in Russland. Bislang galt diese in Russland nicht, was an der Front zunehmend für Probleme sorgte: Recherchen der Novaya Gazeta Europe zufolge werden mitunter sogar Strafgefangene rekrutiert.
Die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive hatte den Kreml massiv unter Druck gesetzt. Schon unmittelbar danach wurde das Wort „Krieg“ deutlich häufiger in Polittalkshows des Staatsfernsehens benutzt. Dies heiße allerdings nicht, dass der Kreml keine Kontrolle mehr über das offizielle Narrativ habe, erläuterte etwa dekoder-Gnosist Jan Matti Dollbaum auf 3sat Kulturzeit. Wohl aber könne das bedeuten, „dass das Narrativ sich ändert – dass es eine breitere Bevölkerungsmobilisierung vorbereiten soll“.
Dieses Szenario ist nun in Teilen eingetreten – die Teilmobilisierung betrifft offiziell erstmal Reservisten, dass damit auch Wehrdienstleistende in den Krieg geschickt werden, gilt unter manchen Beobachtern als wahrscheinlich.
Zugleich hat Russland am gestrigen Dienstag sogenannte „Referenden“ in den Kriegsgebieten DNR, LNR, Cherson und Saporishshja angekündigt. SWP-Expertin Sabine Fischer sieht darin auf Twitter Russlands Versuch, den Status Quo einzufrieren, weitere ukrainische Militäraktionen in den Gebieten als Angriff auf „russisches Territorium“ zu deklarieren und vor allem den Westen zu testen, wie weit dieser (ggf. auch angesichts weiterer nuklearer Drohungen seitens Russlands) an Waffenlieferungen und Unterstützung für die Ukraine festhält.
Ebenfalls auf Twitter hat der Soziologe Grigori Judin vergangene Woche kritische innerrussische Töne eingeordnet und Putins eigentliches Dilemma skizziert: Nämlich die Frage, wie lange er in Russland überhaupt eine Alltagsnormalität aufrechterhalten kann angesichts des Krieges, den Russland in der Ukraine führt. Wie lange der „Spagat“ zwischen einer entpolitisierten Mehrheit und einer mobilisierten radikalen Minderheit noch gelingt – die Antwort auf diese Frage könne entscheidend sein für die Dauer von Putins Regime.
Der Thread von Grigori Judin ist auf Englisch verfasst. dekoder hat ihn dennoch übersetzt: Mit Grigori Judin spricht eine wichtige Stimme des kremlkritischen russischen Diskurses, der sich aufgrund der Zensur in Russland zunehmend auch in die sozialen Medien verlagert hat. Es spricht zudem ein Wissenschaftler, den dekoder mehrfach aus unabhängigen russischen Medien übersetzt hat.
Es gibt in Russland drei unterschiedliche Gruppen:
1) Die Radikalen (15-25 Prozent) – eine beträchtliche, extrem laute Minderheit, die den Krieg aktiv unterstützt, sich einbringt, die Nachrichten verfolgt und in einigen wenigen Fällen sogar an die Front geht. Sie sind das Publikum von Militärbloggern, diversen Telegram-Kanälen und Vampiren wie Wladimir Solowjow oder Olga Skabejewa.
2) Die Nicht-Einverstandenen (20-25 Prozent) – eine beträchtliche Minderheit, die den Krieg kategorisch ablehnt. Ihre Sichtweise ist in den in Russland ansässigen Medien verboten und wird generell unterdrückt.
3) Die Laien (50-65 Prozent) – die passive, völlig entpolitisierte Mehrheit, die mit Politik und dem Krieg nichts zu tun haben will.
Die Laien
Die Laien bilden die Masse der Jasager, die sich für den Krieg aussprechen, wenn man sie fragt: „Sind Sie für die militärische Spezialoperation oder sind Sie ein Landesverräter, der mit bis zu 15 Jahren Gefängnis bestraft gehört?“
Die Laien schotten sich so weit wie möglich von Nachrichten über den Krieg ab und wissen nur sehr wenig über die Niederlage in Charkiw
Sie sind diejenigen, die sorglos ihr Leben genießen, während in der Ukraine Menschen sterben. Das ist natürlich beklagenswert, doch die Kehrseite davon ist, dass sie auch keinesfalls gewillt sind, sich irgendwie selbst aktiv am Krieg zu beteiligen. Sie schotten sich so weit wie möglich von Nachrichten über den Krieg ab und wissen nur sehr wenig über die Niederlage in Charkiw (viele von ihnen könnten nicht einmal sagen, wo die Stadt eigentlich liegt).
Die offiziellen Radio- und Fernsehnachrichten schützen sie vor solchen Informationen. Nicht unwichtig: Als das Fernsehen begann, harte Kriegspropaganda zu verbreiten, sanken die Einschaltquoten – die Laien wollten weiter ihre Seifenopern, Ernährungsberatung und Stand-up-Comedy sehen, keine langweilige Frontberichterstattung.
Die Radikalen
Für die Radikalen war die ukrainische Gegenoffensive dagegen ein echter Schlag. Sie überboten sich mit Schuldzuweisungen und machten die Militärführung, einander und selbst Putin für diese Niederlage verantwortlich. Erstmals gibt es hitzige Diskussionen zwischen ihnen. Die Tonlagen reichen von relativem Optimismus („wir sollten uns um Putin scharen und Rache nehmen“) bis zu völligem Fatalismus („der Krieg ist verloren, das ist nicht zu ändern“). Was sie eint: Alle Radikalen fordern die totale Mobilmachung der russischen Gesellschaft und eine aggressivere Kriegsführung. Sie sind sich einig, dass es für Russland ein Leichtes gewesen wäre, die Ukraine zu erobern, aber aus irgendeinem Grund (Verrat, Unfähigkeit, Großzügigkeit) führt es den Krieg mit gebundenen Händen.
Alle Radikalen fordern die totale Mobilmachung der russischen Gesellschaft
Diese Diskussion ist bemerkenswert. Erstmals wird den Leuten klar, dass Putin nicht unbesiegbar ist. Es ist kaum zu überschätzen, wie viel Bedeutung dieser Mythos für Russland hat. Der Glaube, dass Putin sich am Ende sowieso durchsetzt, lähmt jedes eigenständige Handeln. Die Radikalen sind wütend auf die Laien, weil die ihr gewohntes Leben weiterführen, während Soldaten sterben, um das Überleben des von der NATO attackierten Landes zu sichern. Die Laien sind wütend auf die Radikalen, weil die versuchen, ihnen im Alltag Politik aufzudrängen, zum Beispiel durch die Einführung von Kriegspropaganda an den Schulen.
Risse im Narrativ?
Manche haben Boris Nadeshdins Aussagen im russischen Fernsehen [der ehemalige Duma-abgeordnete Nadeshdin sagte auf NTW, Putin sei schlecht beraten worden, Russland könne den Krieg in der Ukraine nicht gewinnen – dek] als Anzeichen für Risse im vorherrschenden Narrativ gewertet. Das sind sie jedoch nicht. Nadeshdin ist ein alter Liberaler aus den 1990ern, ein Weggefährte von Boris Nemzow. Nemzow entschied sich, eine echte Opposition gegen Putin auf die Beine zu stellen (mit düsterem Resultat). Nadeshdin dagegen beschloss, nach Putins Regeln einer Pseudo-Opposition zu spielen und trat einer seiner Marionetten-Parteien bei. Der Vorteil dieser Strategie ist, dass man regelmäßig als Prügelknabe in die TV-Shitshows eingeladen wird. So verschafft man sich landesweite Bekanntheit (das nützt bei Wahlen!). Nadeshdin war jedoch ganz offen von Anfang an gegen diesen Krieg, und er ist auch klar gegen Putin – das kann man im russischen Fernsehen nur nicht laut sagen. Seine Einstellung hat sich durch die jüngsten militärischen Rückschläge nicht geändert. Auch die mutigen Äußerungen lokaler Abgeordneter, die ein Amtsenthebungsverfahren Putins fordern, sind kein Zeichen für eine Veränderung. Diese Leute gehören zu den Andersdenkenden und haben schon vorher nach Kräften gegen den Krieg protestiert. Ihr Aufruf ist eine Abschiedsgeste – nun endete ihre Amtszeit, viele dürfen nicht einmal erneut kandidieren.
Eine totale Mobilmachung ist für die Laien völlig inakzeptabel. Für die Radikalen hingegen ist Putins Zögern, den Kriegszustand auszurufen, nicht mehr tolerierbar
Trotzdem ist die Lage für Putin prekär. Er braucht die Passivität der Laien, aber auch das Engagement der Radikalen. Deshalb bietet er zwei widersprüchliche Narrative an – eines vom Krieg um Russlands Existenz und ein anderes, wonach alles weiterläuft wie gewohnt. Die Forderung der Radikalen nach einer totalen Mobilmachung ist jedoch für die Laien völlig inakzeptabel. Für die Radikalen hingegen ist Putins Zögern, den Kriegszustand auszurufen, nach den Niederlagen an der Front nicht mehr tolerierbar. Putin hat darauf bisher mit einer gezielten Mobilmachung reagiert – er rekrutiert unter den Radikalen und lässt die Laien in Ruhe. Diese Strategie lässt sich noch eine Weile fortsetzen, aber durch die militärischen Niederlagen wird sie zunehmend erschwert. Es ist unwahrscheinlich, dass Putin der Forderung nachgibt, jetzt die Generalmobilmachung zu verkünden. Dazu wäre erst eine politische Mobilisierung nötig. Doch dafür ist der Zeitpunkt ungünstig. Selbst die Freiwilligen gehen in die Ukraine, weil sie davon ausgehen, dass sie sich einer siegreichen Armee anschließen und Geld verdienen – und nicht, um sich mit einem starken Gegner zu messen. Unter Wehrdienstleistenden wird die Begeisterung noch geringer sein.
Kann er eine Niederlage als Sieg verkaufen? Nein
Kurz: Der Spagat zwischen der Entpolitisierung der Gesellschaft und gleichzeitiger Mobilisierung ihres radikalen Teils wird für Putin angesichts des drohenden großen Rückschlags immer schwieriger. Kann er eine Niederlage als Sieg verkaufen? Nein. Die Radikalen werden sie rundheraus als das bezeichnen, was sie ist. Und die Laien werden ihm nicht verzeihen, dass er ihr tägliches Leben in Mitleidenschaft gezogen hat. Die militärische Niederlage in einem Krieg, bei dem er das ganze Land aufs Spiel gesetzt hat, wird Putin nicht überleben.