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Liebe ist ...

Das russische Volk steht geschlossen hinter seinem Präsidenten – dieser Eindruck jedenfalls ist weit verbreitet. Nur selten macht man sich die Mühe weiterzufragen: Was bedeuten die fantastischen Ergebnisse der Umfragen? Olga Dimitrijewa von „The New Times“ ist in eine Kleinstadt bei Nowosibirsk gefahren und hat mit Menschen gesprochen, weit entfernt vom Moskauer Politzirkus: über ihr Leben und über ihr Verhältnis zum Präsidenten, über seine Politik. Wie sich zeigt, sind nicht alle begeistert von Putin und die, die es sind, können nicht immer sagen, warum.

Source The New Times

... wenn das Gute wichtiger ist als das Schlechte

Wie wohlhabend die Siedlung Listwjanka im Bezirk Iskitim im Gebiet Nowosibirsk ist, lässt sich am Zustand der Straßen ablesen. Zwei Stunden vom Flughafen in Nowosibirsk entfernt, verlassen wir die Fernstraße Nowosibirsk-Barnaul, und sofort fängt unser Auto heftig an über die Trasse zu holpern.

„Haben Sie gemerkt? Die haben die Straße gemacht.“, sagt der einheimische Fahrer stolz.
„Nein“, antworte ich unhöflich, aber ehrlich.
„Die haben natürlich nur die Löcher zugemacht, nicht neu asphaltiert“, verteidigt der Taxifahrer den Straßenbaudienst.

Offenbar stellt der Umstand, dass die Schlaglöcher nicht mehr so tief sind wie früher („Immerhin reißt es einem nicht mehr die Räder ab“) bereits einen großen Erfolg der Kommunalverwaltung dar.

Insgesamt sind die Erfolge nicht sehr zahlreich. „Die Straße wurde neu gemacht; ein Kindergarten wurde eröffnet – jetzt müssen die Eltern ihre Kinder nicht mehr mit dem Auto sonstwohin bringen. Der Bevölkerungszuwachs ist nicht groß, aber immerhin“, fasst Karina, eine Mitarbeiterin der Dorfverwaltung, zusammen. Karina mag ihren Job, sie pendelt für ein Gehalt von 13.000 Rubeln [195 EUR] sogar aus der Nachbarsiedlung nach Listwjanka. Überhaupt ist sie zufrieden: „Wir sind für Putin, für Einiges Russland. Ich bin Mitglied von Einiges Russland, wie der Rest der Verwaltung übrigens auch, wir sind alle in der Partei. Nicht weil wir irgendwelche Prämien dafür bekommen, sondern einfach so, wir sind von uns aus eingetreten, weil wir fanden, es ist nötig.“

Iossif Dimitrijewitsch Sudakow, ehemaliger Deputierter des Dorfrats von Listwjanka, bildet die hiesige Opposition. Ein kleiner älterer Mann mit ordentlich gestutztem weißem Bärtchen. Mehrmals ist er schon verprügelt worden. Man hat Flugblätter gegen ihn aufgehängt. Ihn vor Gericht gezerrt. Doch er sagt, das kümmert ihn nicht.

In der Wohnung der Sudakows wird renoviert – seit zwei Jahren schon, wegen der Krise. Im kleinen Zimmer sitzt die kranke Schwiegermutter vor dem Fernseher, in dem mit voller Lautstärke der Erste Kanal läuft. Im größeren Zimmer (15 m2), dem „Saal“, wie man hier in der Gegend sagt, tischt Iossif Dimitrijewitsch mir als Korrespondentin von The New Times Anekdoten aus dem Leben eines Dorfdeputierten auf, während seine Frau Tamara Wassiljewna einen Sauerkrautkuchen serviert.

Der Krieg an der politischen Front von Listwjanka wird vor allem gegen die Misswirtschaft geführt. „Einiges Russland schickt die Deputierten laut Listenplatz zu uns – und hinterher gehen sie nicht mal zu den Sitzungen des Dorfrats“, klagt Sudakow. Die Beamten, auf lokaler wie auf Bezirks- und Gebietsebene, haben nur ihre eigenen Interessen: „Noch im kleinsten Dorf werden Mittel veruntreut“, erklärt Iossif Dimitrijewitsch.

Das Budget von Listwjanka ist nicht groß, 20 Millionen Rubel [300.000 EUR]. Sieben Millionen davon bringt die Siedlung selbst auf, der Rest kommt vom Bezirk und der Gebietsverwaltung. Trotzdem „bedient sich, wer kann“: Man besorgt sich irgendwo umsonst Kohle, kassiert aber Geld für Heizkosten; Arbeiter, die das Klubhaus renoviert haben, werden nicht bezahlt; wieder woanders wird Holz geklaut ...“

Probleme auf Landesebene beschäftigen die Sudakows weniger. Was die Ukraine und die Krim betrifft, ist das Ehepaar sowohl untereinander als auch mit dem Kreml einig: „Das Gebiet gehört uns“, dort wohnen Russen, die Bergwerke im Donbass wurden schließlich von Russen gebaut. Zu Syrien befragt, meint die Frau: Wir werden den Islamischen Staat besiegen, und der Ehemann meint, wenn wir früher eingegriffen hätten, hätten wir bestimmt gesiegt.

Schließlich kommen wir auf Putin und seinen jüngsten Rekord zu sprechen – 90 Prozent Zustimmung, den Umfragen zufolge.  

„Uns hat keiner gefragt! Ich habe es im Fernsehen gehört – 1400 Personen sind befragt worden. Ist das etwa eine Zahl für so ein Viel-Millionen-Land?“, empört sich Tamara Wassiljewna.
„Jetzt wirst du ja gefragt! Du bist die Nummer 1401. Also, was meinst du?“, foppt Iossif Dimitrijewitsch seine Frau.
„Ich weiß nicht. Übrigens habe ich darüber auch noch nicht nachgedacht“, kontert Tamara Wassiljewna und denkt dann kurz nach: „ Nun, was er auf internationalem Parkett macht – also nicht innenpolitisch, sondern außenpolitisch – das finde ich gut. Dass wir nicht mehr vor Europa und Amerika einknicken.“
„Und die Innenpolitik?“, fragt Sudakow nach.
„Nun, die Innenpolitik – also, das sind ja wir, Russland.“ Tamara Wasiljewna wirkt traurig: „Innenpolitsch gefällt mir das nicht.“
„Höret die Stimme des Volkes!“, schließt sich Iossif Dimitrijewitsch seiner Frau an. „Sie hat vollkommen recht.“

Die Sache mit Putins einerseits guter Außen-, andererseits schlechter Innenpolitik werde ich im Gebiet Nowosibirsk noch öfter zu hören bekommen.

... wenn man sich in Sicherheit fühlt

„Bei mir kam ein junger Mann zum Vorstellungsgespräch, ein Psychologe – er hat keinen Dienstrang, keine Erfahrung, sein Gehalt beträgt fünfdreiachtzig im Monat (5380 Rubel, NT) [80 EUR]. Das ist das Gehalt eines Psychologen! Vielleicht kann ich noch ein halbes Monatsgehalt eines Sozialpädagoge drauflegen, das sind dann noch einmal dreitausend-irgendwas. Zehntausend – wird er dafür arbeiten? Kann er davon leben? Ich denke mir die Gehaltsstufen nicht aus! Das ist der allgemeine Tarif im Gebiet Nowosibirsk. Wie man davon leben soll, fragen Sie?“ Die Direktorin der Dorfschule erwartet keine Antwort auf ihre Frage. Albina Nikolajewna ist eine große, laute Frau, sie spricht wie auf einer Kundgebung. Ihre Stellvertreterin Marina Wiktorowna, in deren Raum das Gespräch stattfindet, ist ruhiger, meist nickt sie nur stumm. Ab und zu schauen Lehrer zur Tür herein.

„Wir haben Besuch von einer jungen Frau, aus dem Ausland“, erklärt die Direktorin dann mit einem Kopfnicken in meine Richtung.
„Nicht aus dem Ausland, nur aus Moskau!“
„Moskau ist für uns Ausland! Ein Staat für sich“, stimmen die Lehrer ihrer Vorgesetzten zu.
„Ja, das müsste in Moskau mal jemand in der Zeitung schreiben: wie die Lehrer hier leben“, sagt die Chemielehrerin Irina Petrowna träumerisch. „Man terrorisiert uns mit Inspektionen. Es bleibt keine Zeit, mit den Kindern so zu arbeiten, wie man gern würde. Und dann noch das Personalproblem: Wenn unsere Generation irgendwann aufhört, kommen keine Jungen nach. Es gibt keine Wohnungen, keine anständigen Gehälter. De facto sinken die Gehälter – man sollte da nicht lügen! Wenn man sich das anschaut, kommt man zu dem Schluss, dass den Staat die Zukunft unseres Landes überhaupt nicht interessiert.“  

Dass der Staat sich stattdessen für die Zukunft anderer Länder interessiert, passt den Lehrern gar nicht.

„Ukraine, Ukraine, ich kann es nicht mehr hören“, sagt Albina Nikolajewna. „Allmählich habe ich den Eindruck, das zeigen sie nur deshalb dauernd, damit ich nicht ans tägliche Brot denke ...  Mir hat der Donbass zwar leidgetan, aber bei uns gibt es auch Leute, die unterhalb der Armutsgrenze leben, und das ist die Mehrheit ... Manche Kinder in der Schule können sich nicht mal ein Brötchen kaufen. Es heißt, 78 LKW-Kolonnen hätten sie gerade wieder losgeschickt (in den Donbass – NT) – Medikamente, Lehrbücher und so weiter ... Wie lange soll das noch so weitergehen? Brauchen die eigenen Leute etwa nichts? Wir haben das Gefühl, wir kommen zu kurz.“
„Und was sagen Sie zu Syrien?“
„Beängstigend ist das ...“ Die Konrektorin flüstert fast: „Ich habe Afghanistan noch zu gut in Erinnerung ...“

Marina Wiktorownas Telefon klingelt alle fünf Minuten. Sie drückt die Anrufe weg: Es ist ihre Bank, es geht um die verspätete Rückzahlungsrate für einen Kredit. In diesem Gespräch kommt die These von der einerseits guten, andererseits schlechten Politik des Kreml nicht vor. Hier ist alles schlecht. Gleichwohl verleihen die Lehrer ihrer Unterstützung für Putin vehement Ausdruck.

„Alle sind für Putin – es gibt keine Alternative. Wo ist die Alternative? Medwedew?“, ereifert sich Albina Nikolajewna, auch sie Mitglied von Einiges Russland. Den hatten wir schon. Und sonst? Es fehlt ... an Stärke, sozusagen. Ich sehe nirgends eine starke Persönlichkeit. Außer Putin. Putin ist stark … Und wir sind an ihn gewöhnt.“

Doch Dafür-Sein und Keine-Alternative-Sehen ist nicht dasselbe.

„Ich bin wie alle für Putin – weil ich Frieden will. Nur Frieden, mehr brauche ich nicht!“, erklärt die Direktorin. „Denn wenn Krieg ausbricht, was habe ich dann von einem neuen Kleid und allem anderen?“

In der Sicherheitspolitik, erklärt Albina Nikolajewna, sei die Position des Präsidenten richtig:

„Es war gut, dass sie die Krim zurückgeholt haben, bravo! Das ist doch unsere Grenze! Die Schwarzmeerflotte! Von dort aus hätten uns die Amerikaner, die Japaner, weiß Gott wer noch alles gepiesackt ... Bei einem Atomkrieg kriegen alle ihr Fett weg, das sage ich Ihnen als Physikerin. Uns wird jetzt beigebracht, wie man eine Gasmaske aufsetzt. Eine Gasmaske! Gegen Chemiewaffen oder Bakterien hilft die nicht. Wenn es so weit kommt, ist alles zu spät, wer sich da ansteckt, bleibt als Invalide zurück, als Krüppel. Davor habe ich Angst. Vor einer Provokation. Vor Biowaffen. So etwas ist wirklich schlimm. Unsere Aufgabe ist es, einen Krieg zu verhindern. Finanzprobleme sind dagegen nicht so wichtig.

Davon, dass „uns Putin vor einem Krieg bewahrt“, sprechen die verschiedensten Menschen. Anfangs erscheint mir das als ein verzweifelter Versuch irgendwie zu erklären, worin eigentlich die Verdienste unseres Präsidenten bestehen. Aber wann immer ich nachfrage – „Haben Sie wirklich Angst davor, dass die Amerikaner uns angreifen werden?“ –, antworten alle, erstaunt über meine Naivität, mit einer Gegenfrage: „Ja! Sie nicht?“

... wenn man trotz allem dafür ist

„Ich kriege zum Beispiel rund 35.000 [525 EUR]“, erzählt Katja offenherzig. Sie ist hübsch, blond, 26 Jahre alt, knapp 1,80 groß und Oberleutnant der Polizei. „Alle glauben, wir Bullen kriegen zwischen 80 und 100.000 [1200–1500 EUR]. Woher nehmen die Leute das bloß? Und wenn wir wenigstens noch geregelte Arbeitszeiten hätten, ohne Wochenendschichten und Nachteinsätze wegen irgendeinem entlaufenen Schoßhündchen ... 35.000 sind gar nichts heutzutage.“  

Katja bekleidet den Rang eines Oberleutnants der Polizei. Dass sie bei den Sicherheitskräften arbeiten wollte, wusste sie schon während der Schulzeit. „Mein Traum ist wahr geworden ... schön blöd“, sagt sie. Derzeit ist sie im Mutterschutz, und wahrscheinlich spricht sie deshalb so offen über die Lebensbedingungen der Mitarbeiter des Innenministeriums: gestrichene Vergünstigungen, niedrige Gehälter, steigende Preise wie überall. Katjas Sorgen kreisen ums Abnehmen nach der Schwangerschaft und um die Hypothek, die sie aufnehmen will. Alles andere kümmert sie wenig.

„Ganz ehrlich, uns ist es sch...egal, was da unten in der Ukraine passiert. Schlimm ist nur, wenn unsere Kollegen dort hinfahren, diese Irren, und dann kommen sie in Zinksärgen zurück. Syrien interessiert kein Schwein. Wir haben mit uns selber genug zu tun. Unsere Jungs werden nach wie vor nach Tschetschenien geschickt, nach Dagestan, und das ist Inland! Man hört heute zwar nicht viel davon, aber da unten gibt es immer noch Unruhen, Tote. Aber Syrien oder irgendwelche anderen Länder – das tangiert uns nicht, wenn du mich fragst.“

Doch auf die Finanzen der Polizisten wirken diese „uns nicht tangierenden“ außenpolitischen Aktivitäten Russlands sich ganz direkt aus:

„Früher gab es Prämien bei uns, wenn das Innenministerium zum Beispiel eine bestimmte Summe eingespart hatte – das war immer gutes Geld. Zum Jahresende wurde das unter den Mitarbeitern der Polizei aufgeteilt. Dabei kamen oft Prämien um die 20.000 Rubel [300 EUR] zusammen. In einem Jahr gab es bei uns sogar 50.000 [750 EUR] pro Nase. Aber das ist vorbei. Erst wurde alles Geld in die Olympiade gesteckt, dann kam die Krim, der man helfen musste, dann der Donbass, und jetzt ist es Syrien ...“

Katjas kleiner Sohn unterbricht uns, er ist aufgewacht und weint. Seine Mutter freut sich schon auf die Zeit, wenn er in den Kindergarten kommt und sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren kann, „zu ihren Halunken“. Für heute beendet die junge Polizistin, die bald in den Rang eines Hauptmanns befördert wird, das Gespräch, ihr Kind hat Hunger.

„Putin fand ich früher nicht gut und ich finde ihn heute nicht gut. Als Präsident“, sagt sie abschließend. „Schau dich doch um bei uns, gibt es irgendeinen Grund, für Putin zu sein?“  

Andrej, der im Kohle-Tagebau arbeitet, vergleicht die Situation im Land mit der Lage in seiner Firma:

„Wir hatte einen Chef hier beim Fuhrpark, der war fürchterlich, wir wollten ihn alle nur loswerden. Schlimmer konnte es gar nicht kommen. Inzwischen ist er versetzt worden, und sein Nachfolger ist zehnmal schlimmer! Und inzwischen denke ich, mit Putin ist es dasselbe.“

Andrejs jüngste Kinder – zweijährige Zwillinge – gehen in den Kindergarten. Die ältesten sind schon fertig mit der Schule; seine Tochter studiert an der Universität, der Sohn an einer Fachschule für Verkehr und Technik. Zu Hause trifft man den Familienvater so gut wie nie an: Werktags fährt er seinen BelAZ-Muldenkipper, am Wochenende Taxi in Listwjanka. Mit seinem während der Krise auf 15.000 Rubel [225 EUR] gekürzten Gehalt kann Andrej seine vier Kinder nicht ernähren.

„Aber was Putin macht – Hut ab. In der Außenpolitik zumindest. Innenpolitisch wird ihm allerdings keiner eine Träne nachweinen.“

Der Gedanke kommt mir bekannt vor.

„Und in der Außenpolitik, wofür schätzen Sie ihn da?“
„Na ja, also die Krim, ich weiß nicht ... das ist ja unheimlich teuer alles. Ich persönlich hätte das nicht gebraucht. Lauter unnötige Kosten! Am Ende sind es doch wir, denen das nach und nach abgeknöpft wird, wir haben ja auch eine Firma in Moskau, alles, was wir verdienen, fließt dorthin.“
„Und dass Russland Flugzeuge nach Syrien schickt und dort bombardiert, was halten Sie davon?“
„Genauso wenig. Das sind doch interne Konflikte dort, wieso mischen wir uns da ein? Wozu? Ich bin dagegen. Und das Geld dafür kommt ja auch wieder von uns. Im Fernsehen sagen sie das inzwischen ganz offen: Nachdem wir Syrien demoliert haben, werden wir es auch wieder aufbauen müssen.“

Andrej schaut ständig auf ein mit Klebeband geflicktes Telefon – er fürchtet, einen Auftrag zu verpassen. Sein Tarif ist derselbe wie bei allen anderen: Eine Fahrt über die Schlaglöcher der instandgesetzten Straße in die Nachbarsiedlung kostet 200 Rubel [3 EUR], Fahrten im Dorf nur 50 [75 Cent] .  

„Aber Sie haben doch gesagt, dass Sie Putins Außenpolitik gut finden ...“
„Na ja ... irgendwie ist er schon klasse  ... ich weiß auch nicht. Immerhin respektiert man ihn auf der ganzen Welt, das heißt, für irgendwas ist das alles schon gut. Aber dass er sich überall einmischt, das gefällt mir nicht.“
„Trotzdem, noch einmal: Die Dinge, die Sie nicht gut finden, die Wirtschaftskrise, Syrien, die Ukraine – für all das ist doch Putin verantwortlich, aber auf die Zustimmung zu ihm wirkt sich das nicht aus ...“
„Ach, ich weiß auch nicht“, sagt Andrej verlegen. „Trotz allem ... Es gibt zwar keinen richtigen Grund, für ihn zu sein, aber ich bin trotzdem für ihn. Mir gefällt er einfach als Mensch!“

… nicht für alle Ewigkeit

Zu den Sitzungen des Dorfrats und Treffen mit Regierungsbeamten nimmt Iossif Dimitrijewitsch Sudakow grundsätzlich ein Diktiergerät mit. Und sein altes Mobiltelefon zeichnet alle Anrufe auf. Sudakow ist stolz darauf, wie viele Beweise er für die Veruntreuung des kommunalen Haushalts gesammelt hat – keine Veruntreuung „in außerordentlich großem, aber schon in großem Stil“. Er glaubt, dass all diese Beweise ihm in nächster Zeit nützen werden, und dass es „viele Verhaftungen“ geben wird.

„Mit diesem Syrien wird alles nur schlimmer“, versichert Iossif Dimitrijewitsch. „Die Leute werden bald genug haben, und dann geht es los.“

Allgemein sind die Leute in Listwjanka sehr duldsam. Im Gespräch fällt jedem von ihnen ein Beispiel aus seiner persönlichen Erfahrung dafür ein, dass es auch schon schlimmere Zeiten gegeben hat, und die haben sie auch überstanden. Heute ist es „Gott sei Dank noch nicht so schlimm wie in den Neunzigern“. Der 53jährige Waleri allerdings rechnet mit tiefgreifenden Veränderungen, und er weiß auch schon, wann es so weit sein wird:

„Die Leute finden sich so lange mit der Lage ab, bis die westlichen Geheimdienste eine neue politische Führungsfigur aufgebaut haben. Sobald das der Fall ist, wird es mit der Geduld vorbei sein. Die Leute haben es satt!“

Waleri hat zwei erwachsene Töchter – die ältere lebt in Moskau, die zweite in der Nähe von Nowosibirsk, in der Forschungsstadt Kolzowo. Waleri und seine Frau hatten kurz vor Beginn der Krise eine Hypothek aufgenommen, um in die Nähe ihrer jüngeren Tochter umzuziehen. Jetzt wird die Familie ihre Pläne nicht schmerzfrei umsetzen können: Die Firma, in der Waleri arbeitet, ist mit den Gehaltszahlungen im Rückstand. An die Ewigkeit des derzeitigen Regimes glaubt er nicht.

„Das heißt, sobald es irgendeine Alternative zu Putin gibt, werden die Leute ...“ Waleri fällt mir ins Wort:
„Sofort! Im Moment ist ja wirklich niemand in Sicht, aber sobald irgendeine Alternative auftaucht, werden die Leute sich dem anschließen, der für diese Alternative steht! Putin wird im Nu vergessen sein, keiner wird mehr etwas wissen wollen von ihm!“

 


Vorspann der Autorin
Die Hof-Meinungsforscher verkünden einen neuen Rekord: Wladimir Putins Zustimmungwerte liegen mittlerweile bei knapp 90 Prozent! Es dürfte demnach gar nicht einfach sein, in diesem Land jemanden zu finden, der die Politik der Staatsführung nicht gutheißt. Neun von zehn Menschen auf der Straße sind voll und ganz dafür.
Skeptiker rufen dazu auf, die Zahlen der offiziellen Meinungsforschung zu ignorieren. Unabhängige Meinungsforscher erklären, über Zahlen zu streiten sei sinnlos, doch die offensichtliche Beliebtheit Wladimir Putins zu leugnen, wäre schlicht dumm. Russlands Bevölkerung sei damit beschäftigt, das überraschend schwere Trauma des Zerfalls der Sowjetunion zu verarbeiten, und sehe noch nicht den Zusammenhang zwischen dem sinkenden Lebensstandard und den außenpolitischen Erfolgen des Präsidenten. Politologen präzisieren: Wenn man nicht von einem abstrakten „Gutheißen“, sondern konkret von vergangenen und bevorstehenden Wahlerfolgen spreche, so gebe es für das Wunder der Liebe des Volkes zum Präsidenten auch eine prosaischere Bezeichnung: Wahlfälschung. Die Folge sei der Niedergang des politischen Systems. Psychologen wissen eine Antwort auf die Frage, wer die marginalen 10 Prozent sind, die noch immer nicht in patriotische Ekstase verfallen sind, und woher sie kommen.
Russlands Bevölkerung indessen liebt ihren Präsidenten weiterhin, von allen Widersprüchen unbeirrt, wie es Liebende nun einmal tun. „Innenpolitisch gibt es dafür keinen Grund. Aber es gibt einfach niemand anderen. Und außenpolitisch ... Syrien war natürlich ein Fehler. Und für die Krim zahlen wir einen hohen Preis. Aber klasse, dass man wieder Respekt vor der Großmacht hat. Den Amis haben wir es gezeigt. Auch wenn jetzt alles teurer geworden ist. Aber vor allem: Es gibt einfach niemand anders.“
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Stabilisierung

Die Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse war in den 2000er Jahren das erklärte Hauptziel der russischen Politik. Tatsächlich verbesserte sich die wirtschaftliche Lage des Landes in den ersten zwei Amtszeiten Putins erheblich. Die Stabilisierung als politisches Projekt ging jedoch mit einer Konzentration der Macht in den Händen des Präsidenten einher.

Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 schrumpfte die Wirtschaft bis 1998 um über 40 Prozent1, das verfügbare Einkommen der Bürger halbierte sich, der Staat war hochverschuldet und die politischen Eliten waren in wirtschaftliche und politische Machtkämpfe verstrickt.2  All das bescherte den Schlagwörtern der 1990er Jahre – „Reformen“, „Märkte“ und auch „Demokratie“ – gegen Ende des Jahrzehnts eine zunehmend negative Konnotation. Dagegen formte sich die „Stabilisierung“ als neuer politischer Auftrag.

Die Finanzkrise von 1998 bildete sowohl den wirtschaftlichen Tiefpunkt als auch den Anstoß zur Verbesserung der Lage. Erstens schwächte sie die Oligarchen, die in den 1990ern um politischen Einfluss gerungen und den Zentralstaat destabilisiert hatten. Zweitens begünstigte die Abwertung des Rubels den Schuldenabbau und setzte durch verteuerte Importe einen Anreiz zur Stärkung der heimischen Produktion. Ein steigender Ölpreis (zwischen 2000 und 2008 stieg der Rohölpreis um über 200 Prozent) und ausländische Direktinvestitionen, die infolge der monetären Stabilisierung ins Land flossen, trugen dazu bei, dass die Löhne rasant anstiegen. Im Jahr 2007, nach acht Jahren konstanten Wirtschaftswachstums, lag das Bruttoinlandsprodukt wieder auf dem Niveau von 1990.

Unter Präsident Putin war die Fiskal- und Wirtschaftspolitik dezidiert auf eine Stabilisierung ausgelegt.3 Die Inflationsrate wurde zwischen 9 und 14 Prozent gehalten, und auch der Wechselkurs des Rubels blieb im Vergleich zu Euro und US-Dollar relativ stabil. Im Jahr 2004 wurde ein Stabilitätsfonds geschaffen, der überschüssige Rohstoffeinnahmen zur Finanzierung des Staatsbudgets in Krisenzeiten anlegte. Gleichzeitig versäumte es die Politik in den Jahren des wirtschaftlichen Booms jedoch, die Wirtschaft aus ihrer Rohstoffabhängigkeit zu befreien.

Das Programm der Stabilisierung wurde auch politisch umgesetzt. So verfolgte die Regierung gezielt die Entpolitisierung der Wirtschaft, indem sie einflussreiche Unternehmer zur Loyalität animierte, bei Widerstand deren Konzerne unter Druck setzte und teilweise zerschlug und verstaatlichte. Die politische Stabilisierung äußerte sich ferner in der Errichtung einer Machtvertikale, in der alle staatlichen Einrichtungen faktisch dem Präsidenten untergeordnet wurden. Laut dem Politikwissenschaftler Wladimir Gelman befindet sich das politische System durch den Stabilitätszwang in einer „Institutionenfalle“: Stabilität sei ein Zweck an sich geworden, der jede Reforminitiative ersticke.4 Auch auf gesellschaftlicher Ebene wirkte ein ungeschriebener Pakt: Die Bürger kamen zwar in den Genuss wirtschaftlicher Verbesserungen, mussten im Gegenzug aber massive Einschränkungen bei ihren Mitspracherechten sowie im Bereich der politischen Freiheiten  hinnehmen.

Die Stabilisierungspolitik hatte noch einen weiteren Preis. Im Austausch für politische Loyalität konnten zentrale Akteure in Wirtschaft und Politik ungestört ihr Vermögen in sogenannten „Offshore-Standorten“ wie Zypern und den British Virgin Islands unterbringen. Diese Steueroasen werden genutzt, um dem Zugriff des russischen Staates zu entgehen und um durch Korruption erzielte Gewinne zu „waschen“. Im Jahr 2011 lagerte laut offiziellen Statistiken russisches Kapital in Höhe von 106 Milliarden US-Dollar außerhalb der Landesgrenzen.6 Das entsprach etwa fünf Prozent des Bruttoinlandsprodukts.

Indem er stets die kausale Verbindung von Zentralisierungspolitik und wirtschaftlichen Verbesserungen herausstellte, gewann Putin aus der Stabilitätsdoktrin erhebliches politisches Kapital. Seit jedoch in der Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 das rasante Wirtschaftswachstum zum Erliegen kam und Putins Beliebtheit vorübergehend abnahm, legitimiert sich das System zunehmend durch den Rekurs auf äußere Feinde – etwa beim Vorgehen gegen ausländische Nichtregierungsorganisationen und im Krieg im Südosten der Ukraine.


1.Sutela, Pekka (2010): Die russische Wirtschaft von 1992 bis 2008, S. 302, in: Pleines, Heiko / Schröder, Hans-Henning (Hrsg.): Länderbericht Russland, Bonn, S. 289-314
2.Rogov, Kirill (2011): The ‚Third Cycle‘: Is Russia Headed Back to the Future?, S. 126, in: Lipman, Maria / Petrov, Nikolay (Hrsg.): Russia in 2020, Washington, S. 125-148
3.Sutela, Pekka (2010):  Die russische Wirtschaft von 1992 bis 2008, S. 303, in: Pleines, Heiko / Schröder, Hans-Henning (Hrsg.): Länderbericht Russland, Bonn, S. 289-314
4.Gelman, Vladimir (2011): Institution Building and ‚Institutional Traps‘ in Russian Politics, S. 224f., in: Lipman, Maria / Petrov, Nikolay (Hrsg.): Russia in 2020, Washington, S. 215-232
5.Umfrage des Levada-Zentrum, zitiert nach Rogov (2011), S. 130
6.Ledyaeva, Svetlana / Karhunen, Päivi / Kosonen, Riitta / Whalley, John (2013): Foreign Investment from Offshore Jurisdictions into Russia: An Analytical Overview, in: Russian Analytical Digest Nr. 140, S. 2-6
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Die 1990er Jahre waren in Russland ein Jahrzehnt des radikalen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs. Demokratischer Aufbruch einerseits und wirtschaftlicher Niedergang andererseits prägten die Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion.

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Das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert.

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Vor 25 Jahren, am 17. August 1998, erklärte der russische Staat unter der Führung Jelzins seine Zahlungsunfähigkeit nach einer Zeit des wirtschaftspolitischen Chaos. Dieses Ereignis markierte eine Wende in der russischen Finanzpolitik und es trug zur Popularität Putins bei – da er im Gegensatz zu Jelzin den gesellschaftlichen Bedarf an Stabilität und relativem Wohlstand bedienen konnte.

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Jegor Gaidar (1956–2009) war einer der wichtigsten Reformer der 1990er Jahre und gilt als Vater der russischen Marktwirtschaft. In der russischen Gesellschaft ist Gaidar sehr umstritten: Während seine Befürworter ihm zugute halten, dass er die Rahmenbedingungen für das private Unternehmertum in Russland schuf und das Land vor dem totalen wirtschaftlichen Kollaps bewahrte, lastet ihm der Großteil der Bevölkerung die Armut der 1990er Jahre an. Nach Gaidars Tod wurde ihm zu Ehren eine Stiftung gegründet: Diese fördert unter anderem (Wirtschafts)Wissenschaftler und engagiert sich für eine liberale Grundordnung. 

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)