Wer in Russland ein Unternehmen gründet oder betreibt, gerät immer stärker unter Druck: Die Zahl an Strafverfolgungen von Unternehmern in Russland ist im vergangenen Jahr um 20 Prozent gestiegen. Zu diesem Ergebnis kommt jedenfalls Business-Ombudsman Boris Titow in einem Bericht, den er voraussichtlich Ende Mai dem Präsidenten vorlegen wird. Kreml-Sprecher Peskow ergänzte sogleich, dass der Bericht öffentlichen Zahlen anderer Unternehmensverbände wie der Russischen Union der Industriellen und Unternehmer (RSPP) widerspreche.
Das Online-Magazin Sekret Firmy dagegen klagt darüber, „wie man in Russland Unternehmen zerstört“. Viktor Feschtschenko beschreibt „das Ende einer schönen Epoche“ für Unternehmer anschaulich am Schicksal von dreien von ihnen.
Wie lange sie noch zu leben hat, weiß Jelena Boldyrewa selbst nicht. Sie hat eine Schwerbehinderung zweiten Grades, alle sechs Monate muss sie für eine Woche ins Krankenhaus, doch dort war sie schon seit vier Jahren nicht mehr – erst entließ sie der Ermittler der Staatsanwaltschaft von Armawir nicht aus dem Hausarrest, und jetzt sitzt Boldyrewa sogar in Untersuchungshaft.
Seit all diesen Jahren wird ihr, der Ehefrau eines Einzelhändlers, der Trockenwaren verkaufte, „Verbreitung von Rauschmitteln über den Verkauf von Lebensmittelmohn“ vorgeworfen. Dabei gab es keinen einzigen Schuldspruch. Nur zwei Freisprüche.
Boldyrewa ist eine von Millionen Unternehmern, die ihr Geschäft in Russland aufgegeben haben. Allein seit 2013 ist die Zahl der Unternehmer laut Berechnungen der Assoziation russischer Banken und des Soziologischen Instituts der Russischen Akademie der Wissenschaften (RAN) von 4,3 auf 2,8 Millionen gesunken.
Ein Staat, der will, dass möglichst viele seiner Bürger ihm nicht länger auf der Tasche liegen und in die Selbständigkeit gehen, müsste in einer solchen Situation Unternehmern das Leben maximal erleichtern und das Entstehen von Startups fördern.
Doch Russland geht eigene Wege: Die Silowiki sperren Unternehmer weiter hinter Gitter – in den vergangenen drei Jahren hat sich die Zahl der „Wirtschaftshäftlinge“ in den Untersuchungsgefängnissen fast verdoppelt.
Die schönen Zeiten sind vorbei
Jene schöne Epoche, als man ein eigenes Unternehmen gründen, Millionen verdienen und wenigstens halbwegs sicher sein konnte, dass einem ohne schwerwiegende Gründe niemand auf die Pelle rücken würde, ist vorbei.
Das Magazin Sekret Firmy [Firmengeheimnis – dek] ist drei bezeichnenden Geschichten von Unternehmern unterschiedlicher Größe und Ausrichtung nachgegangen, die vom Business in Russland enttäuscht sind.
I. Clubleben
In den 2000er Jahren gründeten die Russen Unternehmen noch freudiger als ein Jahrzehnt zuvor. Sie waren beflügelt durch den wachsenden Konsum, der auf den Aufschwung des Ölpreises folgte – er war zeitweise auf 143 Dollar pro Barrel gestiegen.
Doch im Weiteren wähnten sich die Silowiki und andere Staatsbeamte immer mehr von Strafen ausgenommen. Nach dem Fall YUKOS begannen Unternehmer zu ahnen, dass es ohne unabhängige Justiz keinen Rechtsschutz gibt für Unternehmen, egal welchen Kalibers: Wenn deine Firma einem Beamten oder einem seiner Verwandten gefällt, dann muss man sich entweder davon verabschieden oder sich verständigen.
Das „Tauwetter“ änderte nichts
Das „Tauwetter“ unter Medwedew und sein Slogan als Präsident mit dem iPhone: „Hört auf, das Business zu verschrecken“ konnten niemanden darüber hinwegtäuschen – die Haftbefehle gegen Unternehmer wurden nicht weniger, und in 96 Prozent der Fälle wird ihnen stattgegeben.
Ende der 2000er Jahre entstand der bekannte Butyrka-Blog von Olga Romanowa und Alexej Koslow. Jana Jakowlewa rief nach ihrer Inhaftierung im Chemiker-Fall die Menschenrechtsorganisation Business-Solidarnost ins Leben und unterstützt seitdem Unternehmer, die strafrechtlich verfolgt werden.
Schwarze Pelzrobe, vier Goldringe und ein repräsentativer Nissan
Der Moskauerin Natalja Malinowskaja schienen all diese Zusammenstöße weit weg, jenseitig. Sie hatte nur positive unternehmerische Erfahrungen. Jetzt ist sie 32, hüllt sich in eine schwarze Pelzrobe, trägt vier Goldringe und fährt einen repräsentativen schwarzen Nissan.
2009 hat sie gemeinsam mit ihrem Ex-Mann das Unternehmen Nowy Gorod [Neue Stadt – dek] geleitet. Sie schufen Werbeflächen und errichteten außerdem die Skihalle Snesh.com, ein Volleyballzentrum in Odinzowo und den Eispalast Arena Balaschicha. Der Vertrag mit LUKOIL über das Design ihrer Tankstellen brachte 50 Millionen Rubel [damals rund 1.140.000 Euro] im Jahr ein.
Die jungen Millionäre verheizten das Geld in Clubs, bis sie sich alle Hörner abgestoßen hatten, aber Malinowskajas Traum vom eigenen Nachtclub blieb. 2009 entdeckte sie geeignete Räume in Balaschicha, in einer ehemaligen Textilfabrik. Inhaber war die Firma Russki Trikotash, die Kleidung der Marke Twojo (Deins) herstellten.
Von Seiten der Firma wurde der Vertrag von Ilja Ussolzew unterzeichnet, dem Generaldirektor der OOO Baumwollspinnwerk Balaschicha, nebenamtlich lokaler Abgeordneter der Partei Einiges Russland.
Beim ersten, recht freundlichen Gespräch erwähnt er Beziehungen zu den staatlichen Machtorganen
Malinowskaja erinnert sich noch an ein Foto in seinem Büro, auf dem Ussolzew Wladimir Putin die Hand schüttelt. Und beim ersten, recht freundlichen Gespräch habe der Abgeordnete beiläufig Beziehungen zu den staatlichen Machtorganen erwähnt.
Der Club Sawod [Fabrik – dek] ging erfolgreich an den Start. Das Partyvolk pilgerte von Moskau nach Balaschicha, auf der Bühne standen die Band Vintage und kleine Stars der 90er Jahre. Unter der Woche fanden im Club Bankette, Firmen- und Geburtstagsfeiern statt. Wie Malinowskaja versichert, habe der Bürgermeister von Balaschicha den Laden regelmäßig an hochrangige Besucher empfohlen.
Aber es nützte nichts. Im August bestellte Ussolzews Assistent Malinowskaja zu sich und schlug ihr vor – so ihre Worte –, seine eigene Security aufzustellen, die nicht so sehr für Sicherheit sorgen sollte als vielmehr dafür, Drogen unter die Besucher bringen.
„Damals hatte ich noch nicht die Angewohnheit, alles, was mir gesagt wird, mit dem Diktiergerät aufzunehmen“, bedauert die Unternehmerin, die diese Aussage nun nicht mehr beweisen kann. Auf eine Gesprächsanfrage von Sekret hat Ussolzew nicht reagiert.
Malinowskaja lehnte ab – und einen Monat später bekam sie die Rechnung: Die Inhaber des Gebäudes drehten ihr den Strom ab. Ussolzew verlangte zunächst 30.000 Rubel [damals rund 680 Euro] von ihr (sie zahlte, der Strom blieb aus), dann 70.000 Rubel [damals rund 1600 Euro] (sie lehnte ab), dann 300.000 Rubel [damals knapp 6800 Euro] (sie lehnte ab).
„Natalja, hier verlangen irgendwelche maskierten Leute, dass wir die Räumlichkeiten verlassen“
Am Morgen des 25. Oktober 2009 überwies Malinowskaja eine weitere Pachtzahlung auf das Konto des Russki Trikotash. Ein paar Stunden später bekam sie einen Anruf von ihren Mitarbeitern: „Natalja, hier verlangen irgendwelche maskierten Leute, dass wir die Räumlichkeiten verlassen.“
Malinowskaja, überzeugt, dass es sich um ein Missverständnis handeln müsse, bat sie keinen Widerstand zu leisten und alle hereinzulassen. Von da an blieb die Fabrik für Gäste geschlossen.
An jenem Tag fuhr sie zum Club, wo sie ein Versiegelung-Protokoll und einen Mahnbescheid wegen Zahlungsverzug ausgehändigt bekam. Malinowskaja rief sofort bei der Bank an und erkundigte sich, ob das Geld eingegangen sei. Dort bestätigte man ihr, dass die Summe bereits auf das Konto des Empfängers überwiesen sei.
Malinowskaja weinte vier Tage am Stück. Am fünften riss sie den Siegel ab und betrat den Club. Nach ihrem Besuch wurden die Türen zugeschweißt.
Zu dieser Zeit traf sich Malinowskaja mit Ussolzew. Sie erzählt, der Abgeordnete habe zu ihr gesagt, er wisse, auf welche Schule ihr Kind gehe, und es sei kein Problem, ein Kilo Heroin bei ihr finden zu lassen, außerdem stehe die Partei hinter ihm und so weiter.
Die Polizei weigerte sich, eine Anzeige aufzunehmen
Die Inhaber des Russki Trikotash drückten sich erfolgreich vor einem Gespräch. Bei der Polizei weigerte man sich, eine Anzeige gegen Ussolzew aufzunehmen, bezeichnete den Konflikt als „Streit unter Wirtschaftssubjekten“. Dann erstattete Malinowskaja Anzeige gegen Unbekannt mit der Bitte um Aufklärung, wer die Türen des Clubs zugeschweißt habe, in dem sich ihr Besitz befinde.
Die Registrierung des Dokuments war ein Problem für sich – die lokalen Beamten nahmen sich mal einen Tag frei, wurden krank oder fehlten am Arbeitsplatz. Doch eines Tages hatte Malinowskaja Glück: Einer der Beamten von Balaschicha hatte vor zu kündigen und somit nichts zu verlieren – er nahm die Anzeige entgegen und holte sogar eine Erklärung von Ussolzew ein.
Der Generaldirektor der Firma behauptete, der Vertrag mit Sawod sei aufgrund von Mietrückständen einseitig gekündigt worden. Bereits im Dezember waren die Räumlichkeiten gegen eine höhere Pacht als Malinowskajas an einen anderen Club vermietet, der teilweise Einrichtung und Möbel benutzte, die die Unternehmerin seinerzeit für das Sawod gekauft hatte.
Alle Höllenkreise der Bürokratie durchlaufen
Erst drei Jahre später konnte Malinowskaja die Einleitung eines Strafverfahrens gegen ihren Widersacher erwirken. So lange hatte sich die Staatsanwaltschaft von Balaschicha geweigert. Malinowskaja legte immer wieder Beschwerde ein, die Moskauer Gebietsstaatsanwaltschaft leitete den Fall zur Prüfung weiter, die Staatsanwaltschaft Balaschicha verlor die Papiere – so ging es endlos weiter.
Irgendwann verkaufte die Unternehmerin ihren gesamten Besitz: „Wenn man vor Gericht ziehen will, braucht man Geld.“
Nachdem sie alle Höllenkreise der Bürokratie durchlaufen hatte, wandte sich Malinowskaja an die Generalstaatsanwaltschaft, und erst mit ihrer Hilfe konnte sie ihr Anliegen durchsetzen.
Vor Gericht ist der Fall zwar noch immer nicht, doch die Chancen, dass es irgendwann mal so weit sein wird, stehen laut Malinowskaja jetzt deutlich besser.
Natalja Malinowskaja will nie wieder in Russland Geschäfte machen
Vor dem Hintergrund dieser Geschichte ist die ehemalige Unternehmerin zur Bürgerrechtlerin geworden. Sie unterstützt Unternehmer aus dem Moskauer Umland und einfache Bürger, studiert und will Rechtsanwältin werden. Sie besucht auch die Schule der Menschenrechtler der Organisation Rus sidjaschtschaja [Einsitzendes Russland – dek] von Olga Romanowa.
In Russland Geschäfte machen will sie nie wieder, und die Schuldigen in Fällen wie diesen sind für sie korrupte Beamte. Die Situation retten könnten ihrer Meinung nach faire Wahlen, auf Landes- und auf regionaler Ebene.
II. Plattmachen, bis zum Schluss
Über Skype spreche ich mit Alexej Sorkin, er lebt in Spanien. Als ich anfange zu fragen, unterbricht Sorkin das Gespräch: „Ich vertraue Skype nicht besonders, lassen Sie uns zu Viber wechseln.“ Vor zwei Jahren ist er aus Russland weggegangen, aus Angst um sein Leben, und Angst hat er noch heute.
Der 46-jährige Sorkin hat die militärisch-ingenieurtechnische Universität in St. Petersburg abgeschlossen, aber bei der Armee dienen wollte er nicht.
Es waren die 90er Jahre, Armeeangehörige fristeten ein ärmliches Dasein, und so begann er als Spediteur beim Konzern Orimi. Bis 2000 war er zum Direktionsleiter aufgestiegen, jedoch zerfiel das Unternehmen nach der Ermordung des Inhabers Dimitri Warwarin.
Sorkin machte sein eigenes Ding
Sorkin machte sein eigenes Ding und gründete die Firma Petro-Sorb-Komplektazija. Er hatte den Plan, Analysegeräte für Sprengstoffe herzustellen. Die Idee war ihm nach den Wohnhausexplosionen in Moskau gekommen – Sorkin hatte den Eindruck, dass die Ermittler nicht besonders sorgfältig arbeiteten.
Mit Sprengstoffen kannte er sich seit der Uni aus, und wie man eine Produktion organisiert, wusste er dank seiner früheren Arbeit. Es fehlten nur noch Kontakte zum Innenministerium, dem potentiellen Hauptabnehmer der Ware.
Sorkin verschickte ein paar Briefe – und es funktionierte, denn nach seinen Angaben hatte sonst niemand Analysegeräte in dieser Qualität und Bedienungsfreundlichkeit.
Der Unternehmer ist sich sicher: Die Silowiki waren damals noch an der Optimierung ihrer Arbeit und nicht nur an korrupten Machenschaften interessiert, deshalb reagierten sie positiv auf das Angebot.
Das Unternehmen machte 3,5 Millionen Dollar Umsatz. Aber irgendetwas ging schief
2011 war Sorkin zum größten Lieferanten von Alkoholmessgeräten aufgestiegen, stellte außerdem Analysegeräte her sowie stationäre Videoüberwachungsanlagen und Dashcams mit eigener Software. Das Unternehmen erreichte einen Umsatz von 3,5 Millionen Dollar, es operierte in 60 Regionen Russlands. Aber irgendetwas ging schief.
Ab 2009 fingen sie an, seine Firma von öffentlichen Ausschreibungen auszuschließen, aus merkwürdigen Gründen: Mal passte das Gewicht des Gerätes nicht, mal die Farbe eines Knopfes, mal die Bauweise (Dokumente, die den Ausschluss von Ausschreibungen belegen, liegen der Redaktion vor).
Ab 2011 kamen die technischen Anforderungen für Ausschreibungen dann aus dem Hauptsitz des Innenministeriums in die Regionen. Und alle waren laut Sorkin im Interesse bestimmter Unternehmen verfasst, die von der Führungsetage des Ministeriums kontrolliert wurden.
„Sorkins Firma plattmachen bis zum Schluss“
Im Büro tauchten immer öfter Inspektoren auf. Bald erreichte den Unternehmer über bekannte Beamte die Verlautbarung einer leitenden Person im Innenministerium: „Sorkins Firma plattmachen bis zum Schluss.“
Im Frühjahr 2013 kam Sorkin aus seinem Petersburger Büro der Petro-Sorb-Komplektazija, als ihm gleich ein grauer Škoda ins Auge sprang, den er schon mal irgendwo gesehen hatte. Als er an seinem Auto war, überprüfte er sicherheitshalber den Unterboden. Er fand nichts, setzte sich ans Steuer und fuhr los zu einem Termin.
Der Škoda hielt sich in einiger Entfernung, aber Sorkin ahnte, dass er verfolgt wird. An einer Ampel konnte er im Auto seinen ehemaligen Mitarbeiter Jewgeni Kuryschew ausmachen. Zusammen mit ein paar anderen Angestellten hatte der erst vor kurzem zum Konkurrenten Alkotektor gewechselt.
Sorkin ist sich sicher, dass das Unternehmen mit den höchsten Führungsleuten im Innenministerium verbandelt ist, er kann sogar konkrete Namen nennen.
Der Geschäftsmann berichtet, er habe sich mit ihnen wegen des Ergebnisses einer Ausschreibung rechtlich angelegt, und sie hätten ihm daraufhin seine Mitarbeiter abgeworben, um Zugang zu Unternehmensunterlagen zu bekommen.
Geräte in Millionenwert gestohlen
Die Mitarbeiter selbst hätten dann eine identische Firma gegründet, Alkotektor – ein Unternehmen, das Alkoholmessgeräte und Anlagen zur Videoüberwachungsanlagen herstellt. Innerhalb eines Jahres habe sie Ausschreibungen des Innenministeriums im Wert von 120 Millionen Rubel [damals rund 2,7 Millionen Euro] gewonnen, und die gelieferten Geräte – so Sorkin – hätten die ehemaligen Mitarbeiter schlicht aus seinem Lager gestohlen.
Die Alkotektor-Mitarbeiterin, die meinen Anruf entgegennahm, teilte Sekret mit, die Geschäftsführung sei auf Dienstreise und habe keine Zeit für Gespräche. Außerdem „wolle der Generaldirektor nicht über Sorkin sprechen“. Auf die Frage „Warum?“ antwortete die Mitarbeiterin: „Wenn Sie die Situation im Ganzen verstehen würden, dann müsste ich Ihnen das gar nicht erklären.“ Diese Äußerung wollte sie nicht näher ausführen.
Bei der Polizei sagte man ihm: „Sie wurden ja nicht umgebracht“
Als Sorkin klar geworden war, dass man ihn beschattete, fuhr er zum Polizeihauptrevier von St. Petersburg und erstattete Anzeige. Dort sagte man zu ihm: „Sie wurden ja nicht umgebracht“, und weigerte sich, die Anzeige aufzunehmen.
Der Unternehmer bekam es jetzt richtig mit der Angst zu tun. Er kannte die leitenden Köpfe im Innenministerium ziemlich gut und zweifelte nicht, dass sie bis zum Äußersten gehen würden. Aus diesem Grund zog er Anfang 2014 nach Spanien, wo er seit längerem ein Haus besaß.
Etwas mehr als ein Jahr lebte Sorkin im Ausland. In dieser Zeit hat man ihm 50 Prozent seines Unternehmens Petro-Sorb-Komplektazija weggenommen, einen neuen Direktor eingesetzt, das Konto geplündert und die Firma faktisch in den Bankrott getrieben. Aber Sorkin gibt die Hoffnung nicht auf, sich die Firma zurückzuholen, und erhebt Klagen beim Schiedsgericht in St. Petersburg.
Ein weitere Art zu kämpfen besteht für ihn in der Unterstützung der Opposition. Nach der Ermordung von Boris Nemzow kehrte er nach Russland zurück, um der Demokratischen Koalition bei den Wahlen in Kostroma zu helfen. Er arbeitete die gesamte Kampagne hindurch und reiste im Oktober zurück nach Spanien, um einige Wochen später wieder nach Russland zu fahren.
Ein Signal, dass seine Anwesenheit in Russland nicht erwünscht ist
Während Sorkin in Spanien war, wurde das Büro seiner neuen Firma durchsucht. Er hatte eine neue Firma mit zwei Büros in St. Petersburg und Spanien gegründet, die lokale Immobilien an Russen verkaufte. Es schien nicht weiter schlimm, es wurden nur Papiere zum Thema Petro-Sorb-Komplektazija entwendet. Aber er fasste dies als Signal auf, dass seine Anwesenheit in Russland nicht erwünscht ist. Deshalb hat er bis auf Weiteres nicht vor, in die Heimat zu reisen.
Sorkin träumt von einer Rückkehr, sobald „Putins Regime gefallen ist“. Er hat keinen Zweifel daran, dass dieser Zeitpunkt in nicht allzu weiter Ferne liegt, und erhofft sich von einer neuen Regierung, dass sie alle Silowiki aus den Ämtern heben und ein unabhängiges Rechtssystem schaffen wird. Er selbst will dann den guten Namen seines Unternehmens wiederbeleben.
Solange das noch nicht passiert ist, will er keine Geschäfte in Russland machen. Sorkin ist der festen Überzeugung, dass Putin und die von ihm geschaffenen Beziehungsstrukturen mit der Wirtschaft die Wurzel allen unternehmerischen Übels sind.
III. Der Mohn-Fall
Eines Tages im Juni 2011 kam Jelena Boldyrewa – sie handelt mit Trockenwaren, darunter auch mit Mohn – aus der Steuerbehörde ins Großhandelslager von Armawir. Graue einstöckige Lagerbauten, aufgetürmte Paletten, Verpackungen, Kartons und Papiermüll lagen auf dem sonnenheißen Asphalt. Sie ging hinter die Verkaufstheke und zwängte sich dort in ein winziges Kabuff, wo ihr Mann Dimitri sie erwartete.
„Jemand von Set war gerade hier. Ich habe Instantnudeln und Makkaroni bestellt. Die haben gesagt, wenn wir noch ein bisschen mehr bestellen, geben sie uns neun Prozent Rabatt.“
„Wir haben doch eigentlich alles.“ Boldyrewa verstand nicht gleich.
„Naja, ich dachte, wir könnten mal was Neues probieren, die Produktpalette erweitern. Sie haben uns Gewürze angeboten, Mohn und so, da hab ich ja gesagt.“
„Mehr gibt es da gar nicht zu berichten. Wir haben einfach angefangen zu handeln“, erinnert sich Boldyrewa. Ich besuchte sie letzten September in Armawir. Während des Gesprächs briet Boldyrewa Kartoffeln: „Der Laden brachte uns 100.000 Rubel [damals 2500 Euro] Gewinn im Monat, zum Jahreswechsel waren es sogar mehr. Jetzt haben wir unseren Porsche Cayenne verkauft, leben von meinen und Mamas 9000 Rubel Rente [120 Euro] und von dem, was mein Sohn hin und wieder verdient. Wir ernähren uns hauptsächlich von den Nudeln, die noch im Lager übrig waren.“
Ein paar Monate nach dem ersten Mohneinkauf waren Mitarbeiter des Föderalen Dienstes für Rauschgiftkontrolle (FSKN) bei Boldyrewa im Lager aufgetaucht. „Sie waren höflich.“ Sie baten sie, am nächsten Tag mit ihren Papieren bei ihnen vorbeizukommen.
Das Angebot, sich „freizukaufen”, lehnte sie ab
Beim FSKN habe man Boldyrewa zunächst erklärt, dass im Mohn Spuren von Rauschgift enthalten sein könnten und der Handel damit deshalb verboten sei, man habe eine Verwarnung ausgesprochen und ihr dann angeboten, sich „freizukaufen“. Sie lehnte ab und man ließ sie gehen.
Bis zum Februar 2012 arbeiteten die Boldyrews weiter, als wäre nichts gewesen. Dann stürzte alles mit einem Mal ein. Zwischen dem ersten FSKN-Besuch und jenem im Februar fiel den Boldyrews langsam auf, dass in ihrem Laden im Großlager regelmäßig vier etwas merkwürdige Kunden auftauchten. „Sie sahen blass aus, wirkten irgendwie lahm, sprachen langsam.“
Die Unternehmerin ahnte, dass sie wahrscheinlich drogenabhängig waren, zumal sie Mohn kauften, aber sie wusste nicht, was sie mit ihnen machen sollte: „Hätte ich etwa ihre Blutwerte testen sollen? Oder vielleicht schreien: Verschwinde hier, du Junkie!?“
Am 6. Februar 2012 verkauften sie gerade fünf Päckchen an einen hiesigen Lagerarbeiter und Alki, als plötzlich bewaffnete Leute ihren Laden stürmen. „Hände auf den Tisch, Telefone aus, und unseren Mitarbeiter packten sie am Kragen und zerrten ihn in das Kabuff“, erinnert sich Boldyrewa.
Am nächsten Tag kamen sie in Vorbeugehaft
Am nächsten Tag nahm das Gericht die Boldyrews, den Lagerwachmann Molotkow und den Fahrer Gadshijew in Vorbeugehaft. Allerdings wurde Boldyrewa wegen ihrer Behinderung nach drei Wochen entlassen und unter Hausarrest gestellt.
Im Juni 2012 erklärte das Berufungsgericht der Region Krasnodar die Verfahrenseinleitung für rechtswidrig.
Im Dezember fällte das Gericht in Armawir die gleiche Entscheidung.
Es wurde festgehalten, dass die Boldyrews bei Großhändlern offiziell angekauften Lebensmittelmohn in Plastikverpackungen ohne Öffnungsspuren verkauft hatten und deshalb nicht wissen konnten, dass darin Rauschgiftsubstanzen enthalten waren. Die Angeklagten wurden gleich im Gerichtssaal auf freien Fuß gesetzt.
Nach dem Prozess suchten sie Arbeit in Moskau
Аnschließend machten sie sich auf zu Verwandten nach Moskau, um Arbeit zu suchen. Dort stand Boldyrewa regelmäßig um sechs Uhr in der Früh auf, stieg an der Station Timirjasewskaja in die Monorail und fuhr zu ihrer Arbeit als Kassiererin im Supermarkt Lenta an der WDNCh. Auch ihr Mann war dort untergekommen, als Wachmann.
„Unser ganzes Leben lang waren wir Unternehmer, und jetzt sind wir selbst Verkäufer“, seufzt sie. Nach der Entlassung hatten sie für die Wiedereröffnung ihres Geschäfts kein Geld. In Moskau verdienten sie 2000 Rubel [damals knapp 50 Euro] am Tag.
Eines Tages im Mai wurde Boldyrewa am Supermarkteingang von zwei Passanten in Zivil angesprochen: „Guten Tag, sind Sie Jelena?“ Im ersten Moment dachte sie, dass ihr eine Strafe wegen der fehlenden Anmeldung in der Hauptstadt blühe, aber sie hatte sich geirrt: „Wir würden gerne mit Ihnen über Ihren Fall in Armawir sprechen.“ Die ehemalige Unternehmerin atmete auf: „Ach so, na da wurde ich freigesprochen, alles in Ordnung, nach der Arbeit können wir reden.“ „Leider nein, wir müssen gleich aufs Revier fahren.“
In der Polizeidienststelle teilte man Boldyrewa mit, der Freispruch sei durch das Regionalgericht Krasnodar widerrufen worden. Dasselbe Gericht, das das Verfahren zuvor für rechtswidrig erklärt hatte. Am nächsten Tag wurden sie in mehreren Etappen nach Armawir geschickt. Ihren Mann sperrte man wieder ins Untersuchungsgefängnis, Jelena kam unter Hausarrest …
Jeder weiß alles über die Staatsanwälte und Ermittler hier
Bogdan Boldyrew setzt sich hinter das Steuer seines alten Lada 7 mit störrischem Schaltgetriebe, und wir fahren zusammen zum Großhandelslager Armawir. Er besitzt keinen Führerschein, denn der kostet Geld. Aber er kennt alle Verkehrspolizisten – die Stadt ist klein. Und genauso weiß jeder alles über die Staatsanwälte und Ermittler hier.
Er schildert mir die Legenden, die über die vier Junkies kursieren, die im ersten Prozess gegen seine Eltern mitgewirkt haben und bald nach dem Freispruch unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind, und erzählt, dass das FSKN-Gebäude in Armawir vor ein paar Jahren mit einem zwei Meter hohen Zaun abgeriegelt wurde, weil es zu viele gab, die mit den Mitarbeitern ihre offenen Rechnungen nach Knastgesetz begleichen wollten.
Laut Bogdan hat jeder dritte junge Mann in Armawir wegen Paragraph 228 (Drogenbesitz) gesessen – die jungen Leute werden eingesperrt, um gute Zahlen vorzuzeigen.
Sie kämpft weiter. Etwas anderes bleibe ihr sowieso nicht übrig
Nach ihrer Rückkehr aus Moskau im Mai 2013 wurden die Boldyrews erneut freigesprochen. Das Gericht in Krasnodar lehnte den Entscheid wieder ab und gab den Fall zurück an das Gericht in Armawir. Letzteres hat bereits fünf Mal seine Nachuntersuchung angeordnet. Diese ganze Zeit über sitzen Boldyrew der Ältere, Molotkow und Gadshijew in U-Haft.
Im Gespräch mit mir berichtet Boldyrewa nüchtern, dass das Leben ihrer Familie von außen betrachtet zerstört sei, aber sie versuche weiterzukämpfen, еtwas anderes bleibe ihr ohnehin nicht übrig. Die Schuld an ihrer privaten Katastrophe gibt sie – genau wie Sorkin – Putin und der „Willkür, die er angezettelt hat“.
Im Dezember 2015 wurde der vorbeugende Hausarrest für Boldyrewa in eine Inhaftnahme umgewandelt. Nach Aussage ihrer Anwältin Ella Peschnaja habe die Gesundheitskommission die früher diagnostizierte Krankheit nicht feststellen können. Der Behinderungsgrad sei schließlich aufgehoben worden – weil der Ermittler sie nicht zwecks Nachweis zur Untersuchung habe gehen lassen.
Der Fall liegt nun wieder beim Gericht Armawir.
Epilog
Einen Monat nach seiner zweiten Inauguration hat Wladimir Putin das Amt des Beauftragten für Unternehmerrechte eingerichtet und mit dem Inhaber der Weinkellerei Abrau-Djurso Boris Titow besetzt.
Die Befugnisse dieses Beamten blieben allerdings eng begrenzt. Seine einzige Waffe sind Schreiben zur Unterstützung von Unternehmern, die genauso viel Gewicht haben wie Anfragen von Abgeordneten. Titows erfolgreichste Initiative war die Amnestie für Unternehmer im Jahr 2013, auf deren Grundlage 2466 Menschen vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen wurden.
Jana Jakowlewa von Business-Solidarnost meint, dass ein solcher Ombudsmann nicht konkreten Unternehmern helfen müsste, sondern die kriminellen Strukturen offenlegen, die sie erst ins Gefängnis bringen, doch dafür würden seine Kompetenzen nicht ausreichen.
Ein weiterer Bürokrat, aber keine Lösung
Wie auch immer, das Problem wurde nicht gelöst, sondern nur ein weiterer Bürokrat gerufen, der sich dem Krebsgeschwür des Verwaltungssystems annehmen sollte. Mittlerweile konzentriert sich Titow auf seine politische Karriere in der Partei Prawoje delo.
In einer Mitteilung an die föderale Versammlung sagte Putin, dass 2014 200.000 Strafverfahren gegen Unternehmer angestoßen worden seien, von denen nur 30.000 vor Gericht landeten.
Der Trend scheint offensichtlich: Die Verfahren dienen der Einschüchterung von Unternehmern. Und die Erpresser können so offensichtlich die Übernahme des Business oder Freikaufzahlungen erwirken, bevor der Fall vor Gericht kommt.
Aber der Präsident zog aus diesem Trend seine ganz eigenen Schlüsse und er schuf eine Gruppe zur Konfliktlösung zwischen der Unternehmerwelt und den Silowiki – im Grunde eine offizielle Struktur zur „Problemklärung“.
Ein „postfeudales“ Bezugssystem
Der Wirtschaftsexperte Andrej Mowtschan bezeichnete dieses Bezugssystem als „postfeudal“. Grob gesagt ist ein Unternehmen demzufolge etwas, das man zwar unterhalten darf, aber nicht vorbehaltlos besitzen. Und wenn eine einflussreiche Persönlichkeit ein Auge darauf geworfen hat, gibt es keine Rechtsmittel, die dich schützen könnten.
Die Verhaftung des Domodedowo-Inhabers Kamenschtschik, der massenhafte Abriss von Verkaufspavillons sowie – etwas breiter gefasst – die Verschlechterung des Investitionsklimas und das Ausbleiben von Reformen: Mit Blick auf all diese jüngsten Entwicklungen haben Unternehmer immer weniger Lust in Russland ein Geschäft zu gründen.