Das Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war von tiefgreifenden Umbrüchen gezeichnet, aufgrund derer es in das kollektive Gedächtnis als die wilden 1990er eingegangen ist. Mit dem Begriff werden weniger die neu erlangten Freiheiten, sondern eher negative Erscheinungen wie Armut und Kriminalität assoziiert.
Der im russischen Sprachgebrauch verwendete Terminus lichije 90-ie (wörtlich „flott“, „schneidig“) bezeichnet die wilden und stürmischen 1990er Jahre des postsowjetischen Russland. Die radikalen Veränderungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft bedeuteten nicht nur neue Rechte, Freiheiten und Möglichkeiten, sondern vielfach Rechtlosigkeit und Armut. Laut dem Historiker Jörg Baberowski profitierten „[...] von den Segnungen dieser Reformen [...] nur die Mächtigen und Einflussreichen, die sich aneigneten, was einmal dem Staat gehört hatte. In blutigen Verteilungskriegen wurden wenige sehr reich und viele sehr arm. Der Traum von Wohlstand und Sicherheit verwandelte sich in einen Albtraum.“1
Zu der Armut, den Ängsten und der Unsicherheit kam eine normative Orientierungslosigkeit hinzu: Die sowjetischen Normen brachen praktisch über Nacht zusammen, während der zerfallende Staat keine neue Ideologie bieten konnte und ein normatives Vakuum entstand. Neben dem täglichen Überlebenskampf wurde das Streben nach Geld zur Ideologie der Eliten. Die schwachen staatlichen Strukturen ermöglichten alten Seilschaften und neuen Gewaltunternehmern2, unter Einsatz häufig illegitimer und auch illegaler Mittel, zu Reichtum zu gelangen. Kriminelle Übernahmen, Korruption und Auftragsmorde standen auf der Tagesordnung; alleine 1994 fielen den Verteilungskämpfen mehr als 600 Unternehmer, Politiker und Journalisten zum Opfer3, was dieser Zeit den Begriff Raubtierkapitalismus einbrachte.
Zugleich stehen die wilden 1990er für eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs und der Hoffnung auf eine Zukunft nach westlichen Standards und Waren, für die sich das Land nun öffnete: Das Staatsmonopol zerfiel, Zensurbeschränkungen wichen einer bis dahin unbekannten Meinungsfreiheit und zahlreiche neue Medien und Diskussionsforen entstanden, die, zumindest für eine kurze Zeit, einen öffentlichen politischen Diskurs ermöglichten. Es entwickelte sich eine urbane Kultur mit Cafés und Klubs und auch die Kunst blühte auf: Verstärkt wurden neuere Strömungen wie Performance oder experimentelles Theater aufgegriffen und auch oftmals die negativen und gewaltsamen Aspekte dieser Zeit verarbeitet. Der Film Brat (Der Bruder, 1997) von Alexej Balabanow, in dem sich ein junger Russe mit der Mafia anlegt, wurde nicht nur zum ersten großen postsowjetischen Kassenschlager, sondern zu einem Symbol dieser Zeit. Die spezifische Befindlichkeit des Jahrzehnts wird in zahlreichen literarischen Werken, so in Pelewins Generation P oder Swetlana Alexijewitschs Secondhand-Zeit verarbeitet.
Im Gegensatz zu den wilden 1990ern gelten die 2000er Jahre als ruhiges und stabiles Jahrzehnt, in dem unter Wladimir Putin ein spürbar steigender Wohlstand für die breite Bevölkerung einsetzte, der mit ihm persönlich in Verbindung gebracht wird. Die gegenwärtigen Machthaber greifen gerne auf die Abgrenzung wilde 1990er, Jelzin, Demokratie und Armut versus stabile 2000er, Putin, „souveräne Demokratie“ und Wohlstand zurück, um den zunehmend autoritären Kurs und die Freiheitsbeschränkungen zu legitimieren.