„Worin liegt die Kraft, Bruder?“ („W tschom sila, brat?“) – so lautete im krisengeschüttelten Russland der 1990er Jahre die Schlüsselfrage. Alexej Balabanows Kultfilm Brat (dt. Der Bruder) fragt nicht nur, er gibt auch die schon damals, in prä-postfaktischen Zeiten, gefährliche Antwort: „In der Wahrheit liegt die Kraft.“
Auf den „Bruder“ Danila Bagrow (gespielt von Sergej Bodrow jun.), der diese Antwort auch jenseits des Films verkörpern sollte, trifft man noch zwei Jahrzehnte nach dem Filmstart 1997 allüberall. Auf dem Petersburger Alexander-Newski-Platz blickt er als Graffito von einem Trafohäuschen, und in Wahlkampagnen ertönen seine alles andere als politisch korrekten Sentenzen quer durch die politischen Lager.
Dieser „Kumpel“, so die umgangssprachliche Verwendung von „brat“, ist die ideale Identifikationsfigur, ein Junge aus der Provinz, einer wie du und ich. Der Wahrheitskämpfer Danila und sein Programm spielen in Politik, Produktbranding und als geflügelte Worte bis heute eine wichtige Rolle im kulturellen Gedächtnis.
Die Ausgangsbedingungen für den schillernden Kultfilm und seinen Helden waren denkbar schlecht. Die Filmindustrie steckte Mitte der 1990er Jahre in ihrer tiefsten Krise. Die Menschen gingen angesichts der prekären Umstände kaum noch ins Kino, und wenn, dann wollten sie US-amerikanische Action sehen. Nicht zuletzt galt der Regisseur Balabanow bis dahin als Autorenfilmer ausschließlich für „Eingeweihte“.1 Doch nun lieferte sein hybrides, sehr erfolgreiches Autoren-Genrekino, das mit Brat im Jahr 1997 seinen Anfang nahm,2 in geradezu idealtypischer Weise die Schablone für ein neues russisches Kino, das zur nationalen Identitätsbildung beitragen sollte.
Die Geburt eines neuen Volkshelden
Brat ist das Beispiel für ein „nationales Kino“ mit „neuen Volkshelden“, die den Vergleich mit dem amerikanischen Film nicht zu scheuen brauchen. Dieser „neue Filmheld“ geht nicht aus der Geschichte des Landes hervor. Vielmehr ist er scheinbar völlig „unschuldig“ und „rein“. Er ist nicht etwa das groß gewordene Kind der sowjetischen Leidensgeschichte, das zum Beispiel Andrej Tarkowski in Iwans Kindheit (1962) in aller tragischen Brutalität an den Folgen des Krieges zu Grunde gehen ließ.
Zwar kommt auch Danila Bagrow aus dem Krieg, er ist ein jugendlicher Heimkehrer aus dem heute „ersten“ genannten Tschetschenienkonflikt (1994 bis 1996). Doch ist er kein traumatisierter Kindersoldat, sondern ein so sympathischer wie reflexionsfreier Killer, der sich selbst ermächtigt. Aus dem Kaukasus bringt er nur die Camouflage-Jacke und das Handwerk des Tötens mit und entfaltet im unförmigen Strickpulli, seiner Version des Superheldenkostüms, eine enorme Anziehungskraft.
Als „Dummerjahn“, dem für die russische Kultur typischen Iwanuschka-Duratschok, ist Danila in seiner Unmittelbarkeit, „Unschuld“ und psychologischen Flachheit das ideale Sprachrohr der nationalen Befindlichkeit in den Jahren der Transformation. Sie findet ihren Ausdruck in Danilas xenophoben Statements und in der Wahl der Mittel, mit denen er seine Wahrheit skrupellos und gewalttätig etabliert.
Danilas Zaubermärchen der Transformationszeit
Brat erzählt die Geschichte eines Jungen aus dem Volk, der sich auf die Suche nach seiner Bestimmung in der neuen Gesellschaft macht und dabei zielstrebig und ohne Skrupel, dafür aber „instinktiv“ und mit durchschlagender Gewalt vorgeht. Von den Autoritäten seines provinziellen Herkunftsortes – örtliche Miliz und Mutter – in die Welt geschickt, soll er sich eine Arbeit suchen, um nicht wie der kriminelle Vater in einem Straflager zu verschwinden.
Danila macht sich also auf den Weg zum angeblich erfolgreichen Bruder Viktor nach Petersburg. Bald schon kann er zeigen, was seine eigentliche Mission ist: Er übt im Machtvakuum der 1990er Jahre stellvertretend für die „Erniedrigten“ Selbstjustiz, ahndet Regelverstöße und beschützt die „Seinen“. Entsprechend einfach ist seine Welt gestrickt. Die anderen, denen er eine Lektion erteilen will, sind die „Nicht-Brüder“ („Ich bin nicht dein Bruder, schwarzärschige Zecke“), die Nicht-Russen („Ich hab’s nicht so mit den Juden“) und „Amerika“ („… auch bald am Ende“).
Für den Bruder und Ersatzvater allerdings, der in Petersburg keineswegs einer ehrlichen Arbeit nachgeht, sondern der Handlanger einer „kriminellen Autorität“ ist, macht sich Danila ganz ohne Moral die Hände nicht nur symbolisch schmutzig. Der kindliche Protagonist mit dem gleichbleibend harmlosen Gesichtsausdruck verwandelt sich in einen kaltblütigen Killer, der unverwundbar, professionell und frei von Emotionen für Ordnung sorgt.
Musikclip-Ästhetik
Bevor es zu Action, Showdown und einem unerwarteten Ende kommt, flaniert der junge Protagonist durch die Stadt. Ein liebevoller Blick auf die Abseiten eines Petersburg der 1990er Jahre – getaucht in für Balabanow typisches Sepia. Bewaffnet ist der „Held seiner Zeit“ hier noch lediglich mit einem CD-Player, der Quelle für den musikalischen Drive des Films.
Danilas Streifzüge durch die Stadt zeigen die Metropole zerfallen und dreckig, verwandelt in einen Basar mit eigenen, kriminellen Gesetzen und erbarmungslosen Vollstreckern. Nicht zuletzt dieses Stadtporträt macht den Film heute, zwei Jahrzehnte nach seinem Erscheinen, zum „größten russischen Film über das Leben in der ersten postsowjetischen Dekade“.3
Die auffällige Rhythmisierung des Films durch Schwarzbilder, die wie sichtbar gemachte Pausen zwischen Songs einer Musik-Compilation die einzelnen Episoden voneinander abtrennen, verweist auf die Musikclip-Ästhetik, ebenso die Montagetechnik, für die der handlungsinterne musikalische Sound eine strukturelle Funktion hat. Szenen, die – wie ein Video-Clip auf die darin auftretenden Musiker – hier auf die musikbegleitete Bewegung des Protagonisten durch den Stadtraum fokussieren, wechseln in Brat mit Actionszenen, die ohne Musik auskommen.
Low-Budget als ästhetisches Programm
Der Film ist auch eine Reflexion über das Filmemachen unter völlig neuen Bedingungen. Nicht zufällig spielt die erste Szene auf dem Set einer Musik-Clipproduktion für Nautilus Pompilius, einer berühmten Band der russischen Rockszene. Brat kommentiert in der Machart und auf seiner Handlungsebene die zeitgenössische Medien- und Populärkultur, in der er sich wegweisend positioniert.
Balabanow realisiert Brat als Low Budget-Produktion bei CTB, einer Filmgesellschaft, die Sergej Seljanow 1992 unter Beteiligung Balabanows gegründet hatte, und die sich bald als eine der einflussreichsten Produktionsfirmen auf dem russischen Filmmarkt etablieren sollte.
Mit minimalen Mitteln und der kostenlosen Unterstützung von Freunden realisiert, kann Brat als Paradebeispiel für den Low-Budget-Film der ausgehenden 1990er Jahre in Russland gelten, wie er damals als Lösung diskutiert wurde.4
Die sich daraus ergebende Arbeitsweise, kurze Drehzeiten, unaufwändige Settings auf der Straße oder in den eigenen vier Wänden, minimaler Technikeinsatz, ein mobiles Team aus großteils Amateuren, die anstelle von Gage an den Einnahmen beteiligt werden sollten und ähnliches,5 erzeugt eine spezifische Ästhetik, die sich in der authentischen Ausstattung, dem Kolorit der Drehorte, der unverstellten Spielweise, der monochromen Farblichkeit und ganz besonders der Dynamik von Brat widerspiegelt.
Regisseur als Handlanger?
Überhaupt lässt sich der gesamte Film als Kommentar verstehen, wie unabhängiges Filmemachen unter den Bedingungen fehlender Filmförderung zu bewerkstelligen ist. In langen Close-ups ist Danila wiederholt bei seinen Vorbereitungen zu sehen, wie er aus einfachen Alltagsgegenständen, aus Streichhölzern, Plastikflaschen und Nägeln, sein Waffenarsenal herstellt. Um im Russland der 1990er Jahre zu überleben und zu prosperieren, hatte jeder, ob Filmemacher, Gangster oder Geschäftsmann, DIY-skills zu entwickeln.6
Dass ein solches Konzept nicht allein kreative Freiräume eröffnet und Erfolg bringt, sondern den Regisseur auch zum Handlanger von Fragwürdigem machen kann, wurde Balabanow nicht nur von der heftig streitenden Filmkritik sondern auch noch lange von der Forschung vorgeworfen.
Brat kommentiert diese ungute Verflechtung in einer Filmszene allerdings selbst und auf ironische Weise: Während der junge Killer mit Gehilfen in einer Wohnung auf das Opfer seines nächsten Auftrags wartet, steht plötzlich sein Idol Wjatscheslaw Butusow, der Frontmann von Nautilus Pompilius, vor ihm. Der sich hier selbst spielende Butusow hat sich in der Tür geirrt und lockt nun Danila in eine friedliche Parallelwelt im Stockwerk darüber. Dort feiern Filmleute und Musiker ein friedliches Fest.
Die Episode endet damit, dass Danila in seiner Welt von Mord und Totschlag die zufällige Geisel, einen kleinmütigen Regisseur und womöglich ironisches alter ego Balabanows, freilässt. Danilas Kompagnons hingegen werden Opfer seines „Wahrheitskonzepts“. Für den Filmemacher gibt es die Freiheit allerdings nur zu dem Preis, gemeinsam mit dem Killer Danila Tatortreiniger zu sein.
Text: Christine Gölz
Veröffentlicht am 01.03.2017
Original mit englischen Untertiteln:
Original ohne Untertitel: