oder: Warum dekoder für die deutsche Bildungs- und Medienlandschaft so wichtig ist
Übersetzen ist wortgewordene Empathie, so meine Erfahrung. Und deswegen schreibe ich als Übersetzungsredakteurin diesen Text. Darin geht es allerdings wenig ums Übersetzen, sondern darum, warum es dekoder geben muss und was das mit Empathie zu tun hat.
Ende Februar war ein dekoder-Klubabend im Körber-Forum. Die Russland-Veranstaltung Fremde Freunde begann mit einer sehr persönlichen Runde der drei Gäste auf dem Podium. Für mich wurde hier seit langem mal wieder die historische Perspektive im Verhältnis zu Russland aufgespannt, die ich selbst miterlebt habe: Von dem Zeitpunkt an, als alles aufging, als ein Weg von Deutschland und Russland zueinander begann, der Hoffnung verkörperte. Wir alle waren nach Russland losgezogen mit, womit eigentlich? Aufbruchsgeist war es damals, mittlerweile nenne ich es Verantwortung, Erbe – immer mehr lernend, auch darüber, wie viel Grausamkeit Deutschland in Russland angerichtet hat (schätzungsweise 27 Millionen Kriegstote in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg).
„Konstruktives Rumhängen“ nannte der Wissenschaftler Karl Eimermacher in der ARD-Dokumentation Krieg und Frieden kürzlich das, was ich jahrelang mit russischen (vor allem) Künstlern betrieben habe, in Petersburg, um Petersburg und um Petersburg herum. Die Russen sagten oft, wir Deutschen würden zu viel über die Vergangenheit, über Politik nachdenken, jaja, Rike, sei beruhigt, wir gehen wählen (schon damals: „Mal ehrlich, wen sollen wir denn wählen?“). Sie lebten ihre neuen Möglichkeiten wie herumhüpfende junge Hunde, wir zusammen waren ein prächtiger Haufen.
Dann fing irgendwann das an – auch daran erinnerte ich mich an dem Abend im Körber-Forum – dass der Begriff Demokratie und Demokratisierung für Russen mit dem zunehmenden Chaos an Wohlklang einbüßte. Und – noch in den 1990er Jahren – war erst leise, dann immer lauter zu hören „Eure Demokratie, das ist nichts für uns Russen, das wollen wir auch gar nicht, wir machen unsere eigene Sache“ ... Und das, was da immer lauter wurde, wurde dann Putin und Putin und immer mehr Putin. Wurde das, was er am 1. März 2018 vor der Föderationsversammlung als Stand der Dinge in Russland vortrug.
https://www.youtube.com/watch?v=UHFlwUafs8M
Als ich dieses Video sah, da dachte ich: Das ist das, was gemeint ist, wenn in der offiziellen Rhetorik vom Stolz gesprochen wird, der Russland in den 1990er Jahren genommen wurde, und das kollektive Gedächtnis, das da applaudierend sitzt in geschlossenen Reihen. Jetzt erstrahlen beide in Kobaltblau, nicht mehr junge Männer mit Raketenballerspielen.
Am nächsten Abend sah ich einen deutschen Spielfilm über die Leningrader Blockade, mit der die Deutschen von September 1941 bis Januar 1944 die Stadt eingekesselt haben, sie aushungern wollten und es nicht geschafft haben – selbst das böseste Monster macht Piter nicht dem Erdboden gleich.
Als ich nach Russland kam, 1988, wusste ich als westberliner Abiturientin nichts über die Leningrader Blockade. Ich wusste auch nicht, dass ein Großteil der Juden auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion ausgerottet worden war. Ich dachte, der Holocaust hätte in Berlin stattgefunden. Vielleicht war ich einfach nur schlecht in Geschichte. Aber das glaube ich nicht, denn ich war schon immer aufmerksam, wenn es um menschliche Grausamkeit ging. Ich glaube einfach, dass der Kalte Krieg die menschlichen Geschichten aus dem Osten nicht durchdringen ließ. Und dass deswegen hier bis heute wenige verstehen, was da war.
Und genau das ist derzeit das Problem, das wurde mir wieder einmal klar, die bekannten Puzzleteile fügten sich:
Ein riesiges Land durchlebt unermessliche Grausamkeit, lebt weiter.
Dann passiert Großes – es kommt die Freiheit des Wortes in einem unfreien, immer schon unfreien Land. Dann merkt es nach ein paar Jahren ... Überforderung, Kollaps. Und dann kommt einer, der Stabilität verspricht. Und so lebt man dann. Kommt zurück zu einem Stolz, den man doch verdient hat, glaubt das alles. Und spielt wieder Krieg und Drohung. Denn das kann man.
Mein bester Freund aus Petersburg hat letzte Woche einen Wahlwerbesong gepostet: Wählerei, Wählerei, bei diesen Kandidaten die reinste Wichserei. Das ist eine Cover-Version des bekannten Songs der Gruppe Leningrad aus dem Jahr 2007. Die Cover-Version hat nur einen Namen, Balalaika und Gitarre, keinen Text: Slow ne nado, ohne Worte, fügte mein Freund hinzu.
https://www.youtube.com/watch?v=GEDz5X7_Qjc&feature=share
Über die letzten Tage ging mir wieder auf, was die eigentliche Qualität im Miteinander ist – und das ist Empathie. Die brauchen wir nicht nur beim Übersetzen. Und auch da bedeutet sie keine Abwesenheit von substantieller Recherche und Kritik.
Wir von dekoder haben ausreichend konstruktiv herumgehangen in Russland, um etwas zu verstehen, was Bücher nicht bringen, und wir haben unser Handwerk gelernt, jede und jeder seines und ihres, und zwar gut. Und das wird derzeit wieder sehr gebraucht, ich wiederhole: Video #15
Mit Bildung und Völkerverständigung ist dekoder als gemeinnützig anerkannt – und das sind keine Phrasen, sondern Lebensmittel in einer Welt, die immer komplexer wird.
Übersetzt schön viel, was auch immer, es trainiert eine wichtige Fähigkeit!
Eure
Friederike Meltendorf
Übersetzungsredakteurin