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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Der Hitler-Stalin-Pakt

Am 23. August 1939 landete das Flugzeug des deutschen Außenministers in Moskau. Nur ungern hatte Joachim von Ribbentrop seine Sommerfrische bei Salzburg verlassen, um einen Vertrag zu unterzeichnen, an dem seiner Meinung nach sowieso nichts mehr zu rütteln war. Auch seinem Zustandekommen drohte nach dem Scheitern der britisch-französischen Gespräche in Moskau keine Gefahr mehr. Wozu also der Aufwand?
Für Stalin freilich war noch nichts entschieden. Er verlangte Ribbentrop in Moskau, um, wie Hitler rasch zusicherte, „das von der Regierung der Sowjetunion gewünschte Zusatz-Protokoll […] in kürzester Zeit substantiell“ zu klären. Nach sieben Stunden harter Verhandlungen lag das geheime Zusatzprotokoll vor: Darin einigten sich Deutschland und die Sowjetunion auf die Teilung Polens und Osteuropas, inklusive Finnlands. Nach weiteren vier Stunden unterschrieben Ribbentrop und Stalins Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow den deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag. Damit war der Weg zum Zweiten Weltkrieg in Europa frei.

Nach elfstündiger Verhandlung unterzeichneten Wjatscheslwaw Molotow (links) und Joachim von Ribbentrop (Mitte) im August 1939 den Hitler-Stalin-Pakt / Foto © gemeinfrei

Wenige Tage später, am 1. September, marschierte die deutsche Wehrmacht in Polen ein, und am 17. September folgte die Rote Armee aus Osten kommend. In den ersten 22 Monaten des Zweiten Weltkriegs waren das „Dritte Reich“ und die Sowjetunion Verbündete, die den europäischen Kontinent gewaltsam untereinander aufteilten. Als der Pakt knapp zwei Jahre später, am 22. Juni 1941, brach, herrschte Hitler über ein um 800.000 Quadratkilometer erweitertes Territorium, während Stalin sein Imperium nach Westen und in den Südosten um 422.000 Quadratkilometer ausdehnen konnte. Historische Freunde, wie die nationalsozialistische Propaganda behauptete und auch Ribbentrop selbst, der sich in Moskau „wie unter Parteigenossen“ fühlte, waren sie allerdings nie. Der stets von Misstrauen und Skepsis begleitete Hitler-Stalin-Pakt folgte eindeutigen geopolitischen Interessen, die weniger für Hitler, aber stets für Stalin Vorrang hatten vor den Imperativen der Ideologie. Diese Expansionsinteressen wurden im berühmt-berüchtigten geheimen Zusatzprotokoll vereinbart. Bis zur Reformära Michail Gorbatschows in den 1980er Jahren stritt die damalige Sowjetunion die Existenz des Geheimprotokolls vehement ab.    

Die Teilung Polens

Die im Geheimprotokoll vereinbarte Teilung Polens war das erste Ziel, das Deutschland und die Sowjetunion erreichten. Zynisch hatte Molotow das Land als „Bastard des Versailler Vertrages“ verunglimpft, dem im Herbst 1939 weder Großbritannien noch Frankreich – ungeachtet bestehender Garantieerklärungen – zur Hilfe eilten. Nach der erfolgreichen Besatzung errichteten Hitler und Stalin grausame Gewalt- und Terrorregime. Die Deutschen verwandelten das sogenannte Generalgouvernement in ein „Auffangbecken“ für tausende deportierte Juden und Polen. Im Generalgouvernement nahm der Holocaust, die Vernichtung der europäischen Juden, seinen Anfang. Stalin wiederum setzte die Sowjetisierung der gewonnenen Gebiete brutal in die Tat um. Von nun an gehörten Westbelarus und die Westukraine zu seinem Imperium. 

Beide Diktaturen verübten grausame Kriegs- und Massenverbrechen. Im Frühjahr organisierten die deutschen Besatzer die so genannte AB-Aktion, in deren Zuge tausende vermeintliche und tatsächliche Mitglieder des polnischen Widerstands verhaftet und hingerichtet wurden. Etwa zur selben Zeit erschossen Kommandos des sowjetischen NKWD weit über 20.000 polnische Offiziere in den berüchtigten Massenerschießungen von Katyn. 
Dass die Vollstrecker des Terrors nicht nur neben-, sondern häufig auch miteinander planten und agierten, gehört zu den vergessenen Kapiteln in der Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts. Mehrfach trafen SS-Schergen und teils hochrangige NKWD-Offiziere zusammen und besuchten sich gegenseitig in den Besatzungsgebieten. Gemeinsam berieten sie etwa im Dezember 1939 über Aktionen gegen den polnischen Widerstand, koordinierten groß angelegte Umsiedlungsaktionen und setzten 1940 eine deutsch-sowjetische Flüchtlingskommission in Kraft, deren Aufgabe es unter anderem war, illegale Flüchtlingsströme zu unterbinden. 

Auf dem Höhepunkt des Bündnisses 

Die verheerenden Folgen des Hitler-Stalin-Pakts gingen weit über Polen hinaus. Auf dem Höhepunkt im Frühjahr 1940 ermöglichte das Bündnis Hitlers „Blitzkriege“ in Westeuropa. Immense Wirtschaftslieferungen aus der Sowjetunion versorgten die deutsche Kriegsmaschinerie mit notwendigen Rohstoffen wie Erdöl und Eisen. Auf der Grundlage eines umfangreichen Wirtschaftsabkommens vom Februar sandte Deutschland im Gegenzug Fabrik- und Industrieanlangen nach Osten. Mit dem deutschen Einmarsch in Paris und der Kapitulation Frankreichs im Juni 1940 erreichte die nationalsozialistische Expansionspolitik in Westeuropa ihren Zenit. Ohne den Hitler-Stalin-Pakt wäre sie nicht möglich gewesen. 

Die scheinbar mühelosen Siege der Deutschen markierten gleichzeitig die Kehrtwende im deutsch-sowjetischen Bündnis. Stalin hatte sie mit wachsender Skepsis und Sorge beobachtet. Um sich seinen Teil der „Beute“ zu sichern, besetzte er die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, die seit 1939 mit lädierter Souveränität überlebt hatten. „Sie hatten keine Chance“, gab Molotow noch Jahrzehnte später zu: „Ein Land muss sich um die eigene Sicherheit kümmern. Als wir unsere Forderungen formulierten – man muss handeln, bevor es zu spät ist – schwankten sie noch. […] Aber schließlich mussten sie sich entschließen. Und wir brauchten die baltischen Staaten.“ 

Dass die Sowjetunion danach Ansprüche auf Bessarabien und die Nordbukowina erhob, provozierte eine handfeste bündnispolitische Belastungsprobe. Denn auch Deutschland stand diesen, zu Rumänien gehörenden Gebieten, nicht gleichgültig gegenüber: Es benötigte im Zuge der nationalsozialistischen Wirtschaftspläne in Südosteuropa das Wohlwollen Rumäniens, um auf dessen Ölfelder und Landwirtschaftsressourcen zugreifen zu können. Stalin entschied die Bessarabienkrise für sich. Danach aber konnten keine Freundschaftsschwüre mehr die tiefen Risse im deutsch-sowjetischen Bündnis übertünchen. Schon im Frühherbst 1940 streckten beide die Fühler nach anderen Partnern aus. Stalin empfing in Moskau einen Sondergesandten Londons. Hitler schuf mit dem Dreimächtepakt, den das Deutsche Reich, Italien und Japan am 27. September in der Reichskanzlei unterzeichneten, die Achse Berlin-Rom-Tokio. 

November 1940: Molotow in Berlin

Der Besuch des sowjetischen Außenkommissars in der Reichshauptstadt im November 1940 gilt gemeinhin als letzter Versuch der Verständigung und Wiederbelebung des Hitler-Stalin-Pakts. Dabei hatte Hitler den Entschluss zum Krieg gegen die Sowjetunion bereits getroffen. Die militärischen Vorbereitungen waren im Gange, die Führung der Wehrmacht war unterrichtet und schon im Sommer wurden Militäreinheiten aus dem Westen gen Osten und nach Finnland verlegt, wo sie für Moskau zu großer Besorgnis Anlass gaben. 
Vor diesem Hintergrund versuchte Hitler seinen Bündnispartner, die Sowjetunion, nach Asien und in einen Konflikt mit Großbritannien zu treiben. Denn als Ausgleich für die Aufgabe territorialer Ambitionen in Finnland und in Südosteuropa bot Hitler der Sowjetunion Indien an; ein „primitives Spiel“, das Molotow leicht durchschaute. Dass Stalin insbesondere auf Finnland beharrte – sein Anspruch war im geheimen Zusatzprotokoll verankert und von den Deutschen anerkannt worden – bestätigte den ideologischen Antibolschewismus, den Hitler nie abgelegt, sondern nur hintangestellt hatte. Die Sowjetunion als gleichberechtigten Partner und nicht als minderwertigen Erfüllungsgehilfen zu betrachten, war in seiner ideologischen Überheblichkeit unvorstellbar. Am 18. Dezember 1940 diktierte Hitler in der Weisung Nr. 21 den Überfall auf die Sowjetunion. Der Weisung zufolge sollte die Wehrmacht bis 15. Mai 1941 alle Vorbereitungen für einen Einmarsch abgeschlossen haben. 

Vom Bündnis zur Feindschaft 

Die Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts endete am 22. Juni 1941. Noch Jahre später, mitten im Kalten Krieg, bedauerte Stalin den Bruch seiner Tochter Swetlana zufolge mit den Worten: „Zusammen mit den Deutschen wären wir unschlagbar gewesen“. Und er meinte wohl, unschlagbar, hätte Deutschland keinen Krieg gegen die Sowjetunion begonnen. Es war Hitlers fanatischer Wille, Stalin aus Europa zu vertreiben, einen ideologischen Kreuzzug gegen den Bolschewismus zu führen. Diesen setzte er als grausamen Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion in die Tat um. Aus den Verbündeten wurden erbitterte Gegner, die sich auf altbewährte ideologische Feindschaften stützen konnten. Stalin hätte diesen Krieg gern vermieden. Gegen territoriale Eroberungen hatte er nichts. Hitler aber wollte den Krieg, der im Mai 1945 nach unvorstellbarem Leid und Millionen Toten mit der Niederlage des „Dritten Reiches“ endete.

Der Hitler-Stalin Pakt und die Erinnerung

Das deutsch-sowjetische Bündnis bestimmte die ersten 22 Monate des Zweiten Weltkriegs in Europa. Ungeachtet seiner immensen historischen Bedeutung erscheint es oft wie ein Präludium, wie ein hinführendes Vorspiel zum „eigentlichen“ Krieg, der, so der Tenor vieler Geschichtsdarstellungen, erst mit dem erbitterten Kampf zwischen Hitlers „Drittem Reich“ und Stalins Sowjetunion begann. In der teleologischen Sichtweise läuft der Weltkrieg auf diesen Moment zu, in dem der Entscheidungskampf zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus aller Gewalt im Zeitalter der Ideologien Sinn verleihen sollte. Die Kriegsgegnerschaft zwischen Hitler und Stalin bestätigte die Grundspannung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und war für Zeitgenossen wie für die Nachgeborenen das sichere Terrain der Weltkriegserinnerung, während die Geschichte ihres Pakts ein damals wie heute beeindruckendes Unbehagen auslöst.

Die Geschichte des Pakts endete am 22. Juni 1941 – deutsche Gebirgsjäger überschreiten im Morgengrauen die Grenze / Foto © Bundesarchiv, Bild 146-2007-0127/CC-BY-SA 3.0

Nach wie vor wird die historische Bedeutung, die der Hitler-Stalin-Pakt für die Geschichte des Zweiten Weltkriegs hat, unterschätzt. Auf das „Dritte Reich“ bezogen fristet er ein Dasein als taktischer Schachzug, der Hitler den Feldzug gegen Polen gestattete, ohne an der Absicht, die Sowjetunion zu vernichten, auch nur einen Deut zu ändern. In der sowjetischen Lesart galt er als Versuch Stalins, den vermeintlich zwangsläufigen Überfall hinauszuzögern; eine Interpretation, die Stalin 1941 selbst erfolgreich in die Welt setzte. Die in den 1990er Jahren favorisierte Deutung lenkte den Blick auf die im geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte geopolitische Teilung Osteuropas. Für das nationale Selbstverständnis der sich aus dem sowjetischen Imperium lösenden osteuropäischen Staaten besaßen die damaligen Erinnerungsdebatten große Bedeutung. In dieser Zeit prägte der Pakt die Kontroversen um eine gemeinsame historische Erinnerung Europas. Die Forderungen nach der gleichberechtigten Anerkennung der Opfer stalinistischer Gewalt neben denen des Nationalsozialismus und nach einer europäischen Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt sind dabei gelegentlich als Angriff auf die Singularität des Holocaust missverstanden worden. Tatsächlich ging es in diesen Debatten nicht darum, die singuläre Bedeutung des Holocaust zu mindern. Sondern es ging darum, ein westeuropäisch zentriertes Geschichtsbild zu hinterfragen, das die grundstürzende Tragik Osteuropas im 20. Jahrhundert verkannte. Dass die dort vehement erhobenen Ansprüche den Eindruck stärkten, der Hitler-Stalin-Pakt sei eine vornehmlich osteuropäische Angelegenheit, gehört ebenfalls zu den Resultaten der Geschichtsaufarbeitung in den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg. Und nicht einmal die Einführung des 23. August als europäischer Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus konnte daran bislang viel ändern.


Weitere Lektüre
Von der Autorin ist aktuell zum Thema erschienen: Der Pakt: Stalin, Hitler und die Geschichte einer mörderischen Allianz, München 2019 
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)