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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Die Massenerschießungen von Katyn

Im Frühjahr 1940 haben Erschießungskommandos des stalinistischen NKWD – des berüchtigten Innenkommissariats unter der Leitung von Lawrenti Berija – über 22.000 polnische Offiziere und Elitemilitärs getötet. Sie waren nach dem Einmarsch der Roten Armee in Polen interniert, in sowjetische Sonderlager gebracht und später verhaftet worden. Die präzise geplante Geheimdienstaktion wurde an mindestens drei Orten durchgeführt: in den Kellern der regionalen NKWD-Hauptquartiere in Kalinin und Charkow sowie in einem Waldgebiet unweit der westrussischen Stadt Smolensk. Die Gräber von circa 8000 Ermordeten entdeckten deutsche Wehrmachteinheiten im April 1941. Die von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels daraufhin inszenierte Kampagne gab dem Verbrechen seinen Namen: Katyn, so heißt ein Dorf in der Nähe des Erschießungsortes.

Heute steht Katyn als Chiffre für eines der schrecklichsten Verbrechen, die das stalinistische Regime im Zweiten Weltkrieg an der Bevölkerung Osteuropas verübte. In Polen ist Katyn das zentrale nationale Geschichtssymbol für das Leiden und Märtyrertum des polnischen Volkes und seiner nationalen Tragödien. Deren Schicksalshaftigkeit schien der Absturz der polnischen Präsidentenmaschine am 10. April 2010 bei Smolensk auf beklemmende Art und Weise zu bestätigen: Die Insassen der Maschine waren auf dem Weg zur Gedenkfeier anlässlich des 70. Jahrestages der Erschießungen.

Leugnung und Tabuisierung

Die Sowjetunion leugnete ihre Täterschaft jahrzehntelang und tabuisierte das Verbrechen. Mit allen Mitteln – von politischen Drohungen bis hin zur Verfolgung und Bestrafung einzelner Personen – versuchten alle sowjetischen Regierungen im Kalten Krieg, die Rede über Katyn zu verhindern. Sie erreichten das Gegenteil. Katyn war das zentrale Thema des polnischen Widerstands und der Dissidentenbewegung, die das staatskommunistische System in den 1980er Jahren zum Einsturz brachte.

Quasi als Antwort auf die Goebbelsche Propagandakampagne, beabsichtigte die Sowjetunion, Katyn als nationalsozialistisches Verbrechen dem Kriegsgegner anzulasten. Diese Unternehmungen, unter anderem während des Nürnberger Militärtribunals, trugen allerdings dazu bei, dass die Massenerschießungen in West- und Osteuropa bekannt wurden. Obwohl niemand – von den Richtern in Nürnberg, über Winston Churchill, John F. Kennedy, der polnischen Bevölkerung bis hin zu allen sowjetischen Regierungschefs selbst – der sowjetischen Version wirklich glaubte, gelang es zumindest, die Frage der Täterschaft in der Schwebe zu halten. Schließlich war die Ungeheuerlichkeit des deutschen Vernichtungskrieges so groß, dass immer auch die Deutschen an dem Verbrechen schuld sein konnten. Außerdem hatte Goebbels Propagandamaschine die sowjetische Täterschaft behauptet, und wer wollte sich schon mit Goebbels gemein machen, selbst wenn dessen Version plausibel war?

Narrative des Zweiten Weltkriegs

Nur ein einziges Mal – während des Koreakrieges von 1950 bis 1953 – initiierte das US-amerikanische Repräsentantenhaus eine Untersuchung, die, wenig überraschend, zu dem Ergebnis kam, dass die polnischen Offiziere vom NKWD getötet worden waren. Juristische Folgen hatte dieses Ergebnis nicht. Danach erlosch das Interesse des Westens an einer Geschichte, die im Kalten Krieg allenfalls die politische Verständigung mit Moskau erschwerte. Darüber hinaus aber drohte sie die etablierten Narrative des Zweiten Weltkriegs und seine Erinnerungsordnung durcheinander zu bringen.

Die Konfrontation mit dem tragischen Schicksal der Katynopfer bedeutete die Auseinandersetzung mit einem Kriegskapitel, das sich den Eindeutigkeiten der deutschen und der sowjetischen Propaganda ebenso entzog wie denen der Kriegserinnerung. Katyn war ein Verbrechen aus der Zeit des deutsch-sowjetischen Bündnisses von 1939 bis 1941. Es geschah in jenen ersten 22 Monaten des Zweiten Weltkrieges, in denen der Hitler-Stalin-Pakt und nicht die Feindschaft der Diktatoren den Gang der Ereignisse bestimmte. Dass Katyn die Folge der „tödlichen Verstrickung“ (Sebastian Haffner) von Nationalsozialismus und Stalinismus war, geriet durch die jahrzehntelang offen gehaltene Täterfrage in den Hintergrund. Seit dem Überfall Hitlers auf die Sowjetunion im Juni 1941 ist diese Geschichte mehr verdrängt als vergessen worden.

Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg

Dass die Massenerschießungen von Katyn eine irritierende geschichtsrevisionistische Kraft besaßen, wusste bereits Michail Gorbatschow, der letzte Nachfolger Stalins und Generalsekretär der KPdSU. Inmitten der von ihm initiierten Glasnost-Politik – der schonungslosen Aufarbeitung der stalinistischen Gewaltgeschichte – bekannte Gorbatschow die lange verleugnete NKWD-Täterschaft. Er tat dies nicht etwa, weil es ihm in diesem Fall um eine aufarbeitende Auseinandersetzung mit der kommunistischen Gewalt- und Terrorgeschichte ging. Vielmehr befürchtete er, dass die alte Strategie der Leugnung im gesellschaftlichen Klima der 1990er Jahre mehr Schaden anrichten würde als ein Schuldbekenntnis. Gorbatschow hoffte, durch das Ende des Täterstreits im Fall Katyn eine gefährliche Debatte um sowjetische Kriegsverbrechen „im Keim zu ersticken“. Sie bedrohte den letzten sowjetischen Integrationsmythos vom Großen Vaterländischen Krieg. Aus diesem Grund rieten ihm Außenminister Eduard Schewardnadze, sein Berater Valentin Falin und der Chef des KGB, Wladimir Krjutschkow, „zu sagen, was wirklich geschehen ist“, um „die Sache zu beenden“ und keine „Diskussion des Hitler-Stalin-Pakts in Gang zu setzen“.
„Der Hintergrund dieser Kampagne ist klar – den Polen soll eingeredet werden, die Sowjetunion sei keineswegs besser, sondern eher noch schlechter als das damalige Deutschland; sie trage keine geringere Verantwortung für den Ausbruch des Krieges und sogar für die militärische Zerschlagung des damaligen polnischen Staates.“1 Gorbatschows Berater ahnten die grundstürzende Infragestellung des Mythos vom Großen Vaterländischen Krieg in einer Zeit, in der die Auseinandersetzung mit dem Stalinismus schon (zu) viele Gewissheiten erschütterte.

Von der russischen Regierung werden die Massenerschießungen heute nicht mehr geleugnet. Die Staatsduma definierte Katyn im Jahr 2010 als Kriegsverbrechen, sprach den Opferfamilien ihr Mitgefühl aus, und der gleichnamige Film des polnischen Regisseurs Andrzej Wajda wurde in russischen Kinos gezeigt. Allerdings war mit diesen Zugeständnissen nicht das Recht auf eine juristische Rehabilitation oder Entschädigung der Opferfamilien verbunden. Darüber hinaus relativieren politische Diskurse die Tat mit dem Hinweis auf den Polnisch-Russischen Krieg 1919/21, und tatsächlich haben einschlägige Autoren wie der Verschwörungstheoretiker Juri Muchin die NKWD-Täterschaft wieder infrage gestellt. Putin lässt sie gewähren, während das Gedenken an die Verbrechen des Stalinismus aus der öffentlichen Erinnerung verschwindet. Das Interesse an einer breiten historischen Aufarbeitung, die Katyn beispielsweise in den Kontext der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit in den ersten Weltkriegsmonaten stellt, ist – ähnlich wie zur Zeit Gorbatschows – auch heute nicht vorhanden.

Für die Geschichtswissenschaft gerät mit dem Blick auf Katyn als Ereignis der deutsch-sowjetischen Verflechtungsgeschichte eine kontrovers diskutierte Forschungsfrage in den Fokus. Warum trafen Stalin und sein Politbüro die Entscheidung zur Erschießung in den ersten Märztagen des Jahres 1940 und nicht schon unmittelbar nach der Verhaftung? Warum wartete Berija?

„Liquidiert sie selbst“

Die polnischen Offiziere, im Unterschied zu den einfachen Soldaten, konnten nicht in Arbeitslager deportiert werden. Im Winter 1940 hatte das NKWD mehrmals probiert, die Polen über ein bilaterales Umsiedlungsabkommen in das deutsche Besatzungsgebiet zu überführen. Obwohl das im November 1939 ausgehandelte Abkommen auf „Volksdeutsche“, Ukrainer und Belarussen beschränkt war, war dies in der Vergangenheit mehrmals gelungen. Beide Regime hatten das Abkommen auf diese Art und Weise genutzt. Im Frühjahr 1940 allerdings scheiterten die erneuten Verhandlungen, vor allem weil Deutschland bereits weitaus mehr Menschen (circa 130.000) aufgenommen hatte als die Sowjetunion (circa 12.000). Mit dem Hinweis, dass der Umsiedlungsvertrag am 1. März 1940 auslief, lehnte das Dritte Reich die Übernahme weiterer Gefangenen ab.

Diese Begründung war rechtlich nicht zu beanstanden und gleichzeitig ein bequemer Vorwand. Im Frühjahr 1940 planten die Besatzungsbehörden im Generalgouvernement eine große Vernichtungs- und Säuberungsaktion gegen den polnischen Widerstand, die berüchtigte „AB-Aktion“. Vor diesem Hintergrund hatten sie schlichtweg kein Interesse, noch mehr potentielle „Widerständler“, die in der Begründungslogik dieser Aktion ebenfalls „zu säubern“ gewesen wären, zu übernehmen. „Liquidiert sie selbst“ war der Subtext, mit dem die Deutschen ablehnten.2
Die Gefangenen auszutauschen war keine Option mehr, ebenso wenig, sie als Angehörige der polnischen Militärelite in der Sowjetunion am Leben zu lassen. Wenige Tage nachdem der deutsch-sowjetische Umsiedlungsvertrag offiziell ausgelaufen war, schlug Berija die Massenerschießungen vor. Kurz nach der Entscheidung begann der geheime Abtransport aus den Sonderlagern an die drei Erschießungsorte. Es gehört zu der an tragischen Momenten reichen Katyngeschichte, dass viele der Opfer zuerst tatsächlich glaubten, die Züge würden sie zurück zu ihren Angehörigen in das deutsche Besatzungsgebiet bringen.

Täterstreit

Drei Jahre nach den Erschießungen organisierte Joseph Goebbels seine Propagandakampagne. Der Wind des Krieges hatte sich gedreht, der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion hatte aus den Verbündeten erbitterte Feinde gemacht. Das Propagandaministerium karrte Tausende – einfache Wehrmachtsoldaten, internationale Pressegruppen, namhafte Schriftsteller, renommierte Gerichtsmediziner und Delegationen des Polnischen Roten Kreuzes – an den Tatort, wo ihnen die „grausame Hinterlassenschaft des jüdischen Bolschewismus“ vorgeführt wurde.

Aber wieder drehte sich der Krieg, und im Herbst 1943 eroberte die Rote Armee das Gebiet von den Deutschen zurück. Danach inszenierten Stalins Propagandisten und das NKWD ihre Version eines nationalsozialistischen Verbrechens und ließen ebenfalls internationale Besucher die Massengräber besichtigen, darunter die Tochter des damaligen US-amerikanischen Botschafters in Moskau: Kathleen Harriman bestätigte die offizielle Darstellung der Sowjetunion.
Der „Täterstreit“ hatte begonnen. Er verdeckte für viele Jahre, dass Katyn als eines der schrecklichsten stalinistischen Kriegsverbrechen zur Geschichte des Hitler-Stalin-Pakts gehört; eine Geschichte, die nach wie vor im Schatten der großen Weltkriegserzählungen liegt.


1.Falin, Valentin (1997): Konflikte im Kreml: Zur Vorgeschichte der deutschen Einheit und Auflösung der Sowjetunion, München, S. 108
2.Stanisław Mikołajczyk, ein Mitglied der polnischen Exilregierung in London, berichtete: „[Sie] wollten keine polnischen Offiziere mehr und schlugen den Russen vor, sie doch selbst zu töten.“ Zu den Details siehe: Weber, Claudia (2015): Krieg der Täter: Die Massenerschießungen von Katyń, Hamburg, S. 76-86
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)