Die Spannungen zwischen Polen und der belarussischen Führung steigen, seitdem Alexander Lukaschenko Wagner-Söldnern in Belarus Unterschlupf gewährt hat. Was die polnische Regierung als Bedrohung empfindet. Zudem kam es kürzlich zu einer Verletzung des polnischen Luftraums durch belarussische Militärhubschrauber. Und seit Herbst 2021 schwelt ein massiver Konflikt aufgrund von Migranten an der polnisch-belarussischen Grenze.
Polen hat mittlerweile seine Truppenpräsenz an der Grenze zu Belarus verstärkt, was wiederum Wladimir Putin zu Drohungen veranlasste. Und zu einer Aussage, die in Polen als Affront aufgefasst wurde. Der russische Präsident meinte, dass die Polen nicht vergessen sollten, dass der Zugewinn vormals deutscher Gebiete im Westen infolge des Zweiten Weltkrieges „ein Geschenk Stalins“ gewesen sei. Dabei unterschlug Putin den Hitler-Stalin-Pakt, in dessen Folge die Sowjetunion 1939 die östlichen Gebiete der Zweiten Polnischen Republik besetzte.
Ist es wirklich denkbar, dass die Wagner-Truppen gegen ein NATO-Mitglied wie Polen eingesetzt werden könnten? Was steckt hinter den Drohungen und Aussagen Lukaschenkos, die wie gewohnt paradox sind? Alexander Klaskowski geht diesen Fragen in seiner Analyse für das belarussische Online-Medium Pozirk auf den Grund und sucht dabei nach einer stringenten Logik in den jüngsten Entwicklungen.
Nachdem Alexander Lukaschenko Polen mit der Wagner-Gruppe gedroht hatte, ruderte er nun zurück. Er betonte, Prigoshins Leute seien in Belarus unter Kontrolle, und den Suwałki-Korridor hätte Minsk „seit tausend Jahren nicht gebraucht“.
Diese neuen Erkenntnisse verlautbarte er am 1. August anlässlich eines Treffens mit Bewohnern des Agrostädtchens Beloweshski im Rajon Kamenez. Lukaschenko hielt sich dennoch nicht mit Drohgebärden zurück – die Rede war sowohl von den Wagner-Truppen als auch von Atomwaffen und sogar dem „friedlichen Atom“, einer möglichen Beschädigung des Belarussischen Kernkraftwerks (BelAES).
Wird der belarussische Führer zum Sündenbock gemacht?
Bei einem Treffen mit Wladimir Putin am 23. Juli in Sankt Petersburg hatte Lukaschenko ein breites Publikum, vor allem in Polen und Litauen, mit der Äußerung in Aufruhr versetzt, die nach Belarus verlegten Wagner-Einheiten würden ihn „langsam belasten“ und angeblich einen „Ausflug nach Warschau und Rzeszów“ planen. (In Rzeszów befindet sich ein wichtiger Umschlagplatz für Militärlieferungen in die Ukraine).
Offensichtlich wollte der belarussische Gast dem „großen Bruder“ in die Hände spielen, indem er eine psychologische Attacke an das ihm verhasste Warschau richtete, das Kyjiw aktiv unterstützt. Doch die Polen ließen sich nicht einschüchtern und drohten stattdessen damit, in Absprache mit Litauen und Lettland endgültig die Grenze zu Belarus zu schließen. Das wäre für das Regime kein unbedeutendes wirtschaftliches Risiko.
Unterdessen diskutierten unabhängige Analytiker, aber auch Politiker und Militär in den NATO-Staaten, ob Putin die nach Belarus verlegten Wagner-Gruppe dazu einsetzen könnte, einen wenn nicht offenen, so doch hybriden Krieg gegen Europa zu entfesseln. Um sich danach auf seine Tschekistenart die Hände in Unschuld zu waschen, indem er beteuert: Diese „Wildgänse“ unterstehen mir nicht, sie haben unlängst sogar einen Putsch angezettelt, weil sie keine Verträge mit Verteidigungsminister Sergej Schoigu schließen wollten. Deshalb hätte man sie auch zum „kleinen Bruder“ geschickt. Und die Waffen für ihren Feldzug auf Rzeszów hätten sie bestimmt auf dem belarussischen Waffenmarkt gekauft.
Natürlich weiß jedes Kind, dass es in Belarus keinen unkontrollierten Waffenmarkt gibt und geben kann, solange alles unter Lukaschenkos Fuchtel steht. Seine Weste würde also im Falle eines Wagner-Feldzugs gegen die NATO-Nachbarstaaten keinesfalls weiß bleiben.
Bereits 2021 hatte er vorgegeben, nichts mit dem Massenandrang von Geflohenen an der belarussischen Grenze zur EU zu tun zu haben, was ihn jedoch nicht vor Sanktionen gerettet hat. Wenn also jetzt Diversions- und Spionagegruppen (DRG) der Wagner-Armee von belarussischem Boden aus in Polen oder Litauen eindringen, dürfte die Reaktion um einiges härter ausfallen.
Denn für die Nachbarländer und den gesamten Westen wird absolut klar sein, dass diese Gruppen ihre Ausrüstung per Handschlag vom belarussischen Oberbefehlshaber bekommen haben, und dass es Prigoshins Truppen nur mithilfe des belarussischen Militärs, des Grenzschutzes und der Geheimdienste möglich gewesen sein kann, auf fremdes Territorium vorzudringen. So zu tun, als hätte man nichts damit zu tun, wäre vollkommen sinnlos. Mehr noch, Lukaschenko wäre der Sündenbock, während Putin tatsächlich den Ahnungslosen spielen könnte.
Derweil hat der belarussische Regent höchstwahrscheinlich keine Lust, die Folgen der Scharmützel seiner aggressiven Gäste mit der NATO auszubaden. Während der Kreml an imperialem Phantomschmerz leidet und globale Ambitionen hegt, will Lukaschenko vor allem, dass seine Alleinherrschaft auf seinem „Fleckchen Erde“, wie er Belarus nennt, unangetastet bleibt. Also versucht der belarussische Führer, die Atmosphäre auf seine Art ein wenig zu entschärfen und seine politische Eigenständigkeit zu demonstrieren.
„Sie sind es gewohnt, Befehle auszuführen“ – bloß wessen Befehle?
Lukaschenko entpuppte sich als großer Humorist. Am 1. August sagte er im Kreis Kamenez: „Das war ein Scherz, dass die Wagner-Leute untereinander tuscheln: Wir machen einen Ausflug nach Rzeszów.“ Dann gab er wiederum zu verstehen – in dem ihm eigenen paradoxen Stil – Prigoshins Leute seien wirklich kriegerisch eingestellt und führten gegen Polen Böses im Schilde. Dort solle man, so sagte er, „ruhig beten“, dass Belarus sie „aufhält und versorgt“. Andernfalls wären sie längst in Warschau und Rzeszów eingefallen, und die Polen hätten „ihr blaues Wunder erlebt“.
Was für eine Logik: „Ich habe diese terroristische Organisation an eure Grenzen geholt, und ihr sollt mir gefälligst dankbar sein“.
Lukaschenko ließ sich natürlich auch den Trumpf mit den Atomwaffen nicht nehmen und sagte beiläufig, mehr als die Hälfte der von Russland zugesagten Menge sei bereits geliefert und im Land verteilt („Guckt ruhig nach“). Darüber hinaus sei das Kernkraftwerk von Astrawez ein großer Sicherheitsfaktor: „Sollte es, Gott bewahre, beschädigt werden, dann wird das auch dort [in den NATO-Nachbarstaaten] schlimme Folgen haben“, sagte Lukaschenko.
Lukaschenko hat also wie immer nicht mit Drohungen gespart, diesmal aber die Akzente anders verteilt: Anstatt auf Angriff setzte er auf Verteidigung: „Wir steigen niemandem in den Garten, also klettert gefälligst auch nicht über unseren Zaun“. Mit anderen Worten: „Lasst mein Regime in Ruhe!“
Lukaschenko hat außerdem davon abgesehen, die westlichen Nachbarn übermäßig zu verteufeln: „Die Polen sind nicht dumm, diese Leute sind uns ähnlich, sie nehmen ihre Regierung gerade schon in die Mangel …“ Die Verlegung polnischer Truppeneinheiten an die belarussische Grenze bezeichnete er verächtlich als „Ränkespiel“. „500 Soldaten hier abgezogen, 500 Soldaten dort […]. Ich glaube nicht, dass sie uns wirklich einschüchtern wollen.“
Das steht einerseits im Widerspruch zum Mantra der belarussischen Generäle von der wachsenden Bedrohung durch die NATO und andererseits zu früheren Äußerungen Lukaschenkos, die polnischen Militaristen würden schon mit ihren Kettenraupen rasseln und nur darauf warten, halb Belarus einzukassieren.
In der Geschichte um Wagner stellte sich Lukaschenko nun als absoluter Herr der Lage dar und hob hervor, dass er die Situation unter Kontrolle habe: „Die Truppe befindet sich in Ossipowitschi, mitten in Belarus, und ist nirgendwohin unterwegs. Die Jungs sind es gewohnt, Befehle auszuführen.“
Die Frage ist nur, wessen Befehle sie ausführen werden, wenn der Tag X eintritt.
Wie eigenständig sind Prigoshin und Lukaschenko?
Es war kein anderer als der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der russischen Duma, General a. D. Andrej Kartopolow, der die Schließung des Suwałki-Korridors (der in Moskau als Achillesferse der NATO betrachtet wird) im passenden Moment als Mission der in Belarus abgestellten Wagner-Truppen benannte.
Wenn Lukaschenko jetzt also hervorhebt, dass er diesen Korridor eintausend Jahre lang nicht gebraucht hätte, dann tritt er in einen offenen Meinungsstreit mit den Moskauer Kriegstreibern, um seine politische Eigenständigkeit zu behaupten. Diejenigen, die eine Anti-NATO-Mission der Prigoshin-Truppe in Belarus postulieren, lassen diese Eigenständigkeit Lukaschenkos praktisch völlig außer Acht.
Diese Hypothesen weisen einige Schwachstellen auf. Erstens ist es zweifelhaft, ob Jewgeni Prigoshins Putschversuch eine scharfsinnige Inszenierung war, mit dem Ziel, die Wagner-Truppen nach Belarus zu verlagern, um dann einen Angriff oder Sabotageaktionen gegen die NATO-Länder durchführen zu können. Wie es in einem alten Witz treffend heißt: „Das ist zu subtil für unseren Zirkus“.
Eine ganze Reihe von Fakten, Anzeichen und Informationsleaks sprechen dafür, dass der russische Präsident während des Putschversuchs tatsächlich erschrocken und irritiert war. Infolgedessen trug er einen riesigen Imageverlust davon. Das wäre schon eine sehr subtile Inszenierung. Zur Vergeltung und um eine Wiederholung zu vermeiden, schwächt der Kreml offen Prigoshins Wirtschaftsimperium. Zudem ist unklar, inwieweit Putin seinem ehemaligen Koch aktuell überhaupt Befehle erteilen kann. Prigoshins Eigenständigkeit sollte keinesfalls schon abgeschrieben werden.
Er und der russische Machthaber versuchen zwar, ihren Konflikt auf ihre Weise aus der Welt zu schaffen, aber aller Voraussicht nach werden sie Feinde bleiben. Und welches Interesse sollte Prigoshin haben, seine Kämpfer in einen wahnwitzigen Sturm des Suwałki-Korridors oder in einen tödlichen Feldzug nach Warschau und Rzeszów zu schicken? Wenn unerwünschte Gäste so weit auf fremdes Territorium vordringen, wird aus ihnen sehr schnell Hackfleisch gemacht.
Schon eher möglich wären schnelle hybride Operationen im feindlichen Grenzgebiet (zum Beispiel ein wenig Unruhe in Terespol stiften), mit guten Überlebens- und Rückkehrchancen, doch welchen Nutzen hätten sie? Schließlich geht es hier um Söldner, die für ihre sehr spezielle Arbeit sehr gutes Geld gewöhnt sind. Auch Prigoshin selbst ist in erster Linie ein Geschäftsmann, keinesfalls ein Kamikaze. Für ihn ist es günstiger, seine „Adler“ für Projekte in Afrika zu schonen (wo alle möglichen Goldminen und Diamanten zu bewachen sind). Dass Afrika Priorität hat, sagte er selbst bei seiner berühmten Ansprache im Lager bei Ossipowitschi.
Lukaschenko sagte heute nun, er wolle einen Teil „dieser Jungs“ im belarussischen Militär behalten und „mit ihrer Unterstützung eine Vertragsarmee aufbauen“. Die belarussische Staatskasse ist jedoch kaum üppig genug, um die Wagner-Söldner nach deren üblichen Sätzen zu vergüten. Nehmen wir trotzdem einmal an, dass einige Söldner als Berufssoldaten in die belarussische Armee wechseln würden. Sich mit dem Rest der Gruppe aber die Anarchie ins Haus zu holen, die Wagner-Gruppe zu einer (wilden?) Raubkatze zu machen, die frei durch Belarus spaziert, und darüber hinaus noch die Schließung des Suwałki-Korridors zu bezahlen (plus im Nachhinein die Folgen dieses Abenteuers zu verantworten), das will Lukaschenko ganz sicher nicht. Putin teilte unterdessen mit, dass Prigoshins Gruppe in Russland keine Zuwendungen mehr erhalten würde. Wer trägt also eigentlich die Kosten für dieses Theater?
Sollten die Wagner-Truppen also wirklich in Polen und Litauen einmarschieren, dann würde das erstens bedeuten, dass der Kreml sie vollständig kontrolliert, zweitens, dass er ihre Aktionen bezahlt, und drittens, dass er Lukaschenko tatsächlich zu einem Diener ohne jegliche Entscheidungsgewalt gemacht hat.
Es bleibt spannend.