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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Antisemitismus in der Sowjetunion

Der russische Angriffskrieg hat nicht nur große Flüchtlingsbewegungen in der Ukraine ausgelöst, auch aus Russland selbst sind Hunderttausende geflohen, die den Krieg ablehnen und Repressionen fürchten. Darunter sind viele Jüdinnen und Juden: Die israelische NGO Jewish Agency for Israel zählte allein im Jahr 2022 mehr als 43.600 Immigranten aus Russland – fünf Mal mehr als im Vorjahr. Der Oberrabiner von Moskau, Pinchas Goldschmidt, rief im Dezember 2022 die Juden in Russland zur Flucht auf und warnte vor einem wachsenden Antisemitismus: „Wenn wir auf die russische Geschichte zurückblicken, sah man, wann immer das politische System in Gefahr war, dass die Regierung versuchte, die Wut und Unzufriedenheit der Massen auf die jüdische Gemeinde umzulenken“, sagte er dem Guardian. Zuvor hatte Russlands Außenminister Sergej Lawrow Behauptungen seiner Regierung, die von einem jüdischen Präsidenten regierte Ukraine sei ein „faschistischer Staat“, damit gerechtfertigt, auch Hitler habe „jüdisches Blut“ gehabt und gesagt, „die schärfsten Antisemiten sind in der Regel Juden“. Unbekannte legten dem ehemaligen Chefredakteur des inzwischen geschlossenen liberalen Radiosenders Echo Moskwy einen Schweinekopf vor die Wohnung und klebten ein Wappen der Ukraine mit der Aufschrift „Judensau“ an seine Tür. Im Juni 2022 leitete das russische Justizministerium ein Verbotsverfahren gegen die Jewish Agency ein.

Noch 2018 hatte in einer Umfrage des unabhängigen Lewada-Zentrums im Аuftrag des Jüdischen Weltkongresses in Russland eine Mehrheit der Befragten Jüdinnen und Juden erklärt, der Antisemitismus sei im Vergleich zu Sowjetzeiten weniger geworden. Aber auch in der Sowjetunion wechselten sich Phasen, in denen Juden Hoffnungen mit dem sozialistischen Staat verbanden ab mit Perioden, in denen sie diskriminiert wurden und in großer Zahl das Land verließen.

Larissa Bogoras (1929–2004) ist uns heute zu Recht als eine unerschütterliche sowjetische Dissidentin und Menschenrechtsaktivistin bekannt. Mitte der 1960er Jahre engagierte sie sich für ihren damaligen Ehemann Juli Daniel, indem sie heimlich bei den Gerichtsverhandlungen mitstenographierte, bei denen der Schriftsteller angeklagt war. Im Januar 1968 informierte Bogoras mit einem Tamisdat-Appell die internationale Öffentlichkeit über einen Schauprozess gegen Alexander Ginsburg und drei weitere Dissidenten. Im August desselben Jahres protestierte sie auf dem Roten Platz mit sechs weiteren Personen gegen die militärische Niederschlagung des Prager Frühlings. 

Im Gegensatz zu ihren politischen Aktivitäten ist Bogoras Auseinandersetzung mit ihrer jüdischen Herkunft wenig bekannt. Anfang der 1970er Jahre schrieb sie einen Essay mit dem Titel Fühle ich mich dem jüdischen Volk zugehörig?. Darin kam sie zu dem Schluss, dass sie sich nicht als Jüdin fühle, ebenso wenig aber als Russin oder Sowjetbürgerin: „Ich bin eine Fremde in diesem Land. Vielleicht spüre ich das alles nicht so deutlich, aber ich bin mir dessen bewusst.“1 

Bogoras fünfseitiger Essay ist nicht nur ein besonderes individuelles Zeugnis einer Sowjetbürgerin jüdischer Herkunft. Er ist zugleich eine bemerkenswerte Analyse über den widersprüchlichen Umgang des Vielvölkerstaates mit seinen jüdischen Bürgerinnen und Bürgern, sowie über den Antisemitismus im Land, der zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Formen annahm. Anhand dieses Textes lassen sich die besonderen sowjetisch-jüdischen Erfahrungen zwischen politischem Aufbruch und anschließender Enttäuschung, staatlichem und gesellschaftlichem Antisemitismus, sowie dem ständigen Kampf um partikulare und universale Rechte nachzeichnen.

Große Hoffnung

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges setzten viele nichtreligiöse Jüdinnen und Juden große Hoffnung auf den neuen sozialistischen Staat. Dieser Glaube an das Neue rührte aus der Lebenserfahrung unter zaristischer Herrschaft. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts fanden im Zarenreich immer wieder grausame antisemitische Pogrome statt und der Staat erließ zahlreiche antijüdische Gesetze. Viele derjenigen, die ihre jüdische Zugehörigkeit durch die jiddische Sprache und Kultur ausdrückten oder sich in ihrer Umgebung assimilierten, suchten deshalb einen politischen Ausweg in den revolutionären Bewegungen. Vom sowjetischen Staat erhofften sie sich eine Verbesserung der eigenen Lebenssituation, und tatsächlich schienen sich nach der Februarrevolution einige ihrer Erwartungen zu erfüllen: Sowohl die kurzzeitig existierende ukrainische Regierung, die provisorische Regierung in Petrograd als auch die darauffolgenden Bolschewiki verurteilten antisemitische Gewalttaten, die es zu jener Zeit besonders auf ukrainischem Territorium gab. Zudem schafften die neuen Regierungen die antijüdischen Gesetze ab.2  

Zur Gruppe jüdischer Revolutionäre gehörten auch Bogoras Eltern. Als Bürgerkriegsteilnehmer, Parteimitglieder und aktive Genossen profitierten auch sie zunächst vom neuen Staat.3 Nach der Revolution war es ihnen möglich, die kleinstädtische jüdische Umgebung Richtung Charkiw zu verlassen. Dabei ließen sie auch die jiddische Sprache und Kultur hinter sich. Bogoras verweist in ihrem Essay darauf, dass sie in ihrer Vorschulzeit ausschließlich ukrainisch sprach. Jiddisch hörte sie erstmals im eigenen Elternhaus, als während des Zweiten Weltkriegs ein aus der Westukraine evakuierter Bekannter ihre Mutter besuchte.

Anders als von einigen marxistischen Theoretikern vorhergesagt, verschwanden im realsozialistischen Staat die antisemitischen Vorurteile nicht. Larissa Bogoras erfuhr in der russischen Schule von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern, dass sie jüdisch war und sich dadurch in scheinbar unvorteilhafter Weise unterscheiden würde. In ihrem konkreten Fall vermischten sich die antisemitischen Vorurteile mit einer weiteren negativen Zuschreibung: Ihr Vater war während des Großen Terrors unter dem Vorwurf angeblicher „trotzkistischer Tätigkeit“ festgenommen worden. Damit teilte sie mit vielen anderen Mädchen das Schicksal, Tochter eines sogenannten Volksfeindes zu sein.

Russifizierung der Gesellschaft

Zeitgleich zum Terror betrieb die politische Führung in den 1930er Jahren eine Russifizierung der Gesellschaft. In den Anfangsjahren der Sowjetunion hatte sich die Idee der nationalen Selbstbestimmung auch positiv auf die Förderung der jiddischen Sprache und Kultur ausgewirkt. Jetzt wurden diese Schritte vollständig zurückgenommen. In den Gebieten Ostpolens, die gemäß den im Hitler-Stalin-Pakt getroffenen Vereinbarungen von der Sowjetunion okkupiert wurden, mussten die polnischen Jüdinnen und Juden ebenfalls eine brutale Sowjetisierung durchlaufen. Zynischerweise fand die sowjetische Führung erst unter der größten militärischen Bedrohung wieder zu einem etwas liberaleren Umgang mit den ethno-kulturellen und religiösen Minderheiten zurück:4 Wenige Monate nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde ein Jüdisches Antifaschistisches Komitee gegründet. Vorderste Aufgabe der staatlich kontrollierten Organisation war es, unter dem Eindruck der Judenvernichtung und des deutschen Ostfeldzuges jüdische Interessensvertretungen auf der ganzen Welt über die existenzielle Gefahr für alle Jüdinnen und Juden im östlichen Europa aufzuklären und diese als Unterstützer für die Sowjetunion zu gewinnen. Unter der jüdischen Bevölkerung des Landes führte die Gründung des Komitees abermals zu großen Hoffnungen, die nach dem Krieg jedoch erneut enttäuscht werden sollten. 
Antisemitische Stereotypen waren in der sowjetischen Gesellschaft auch zu Kriegszeiten weit verbreitet. Nicht zuletzt trug hierzu die von den Deutschen hervorgerufene rassistische Betonung der sogenannten Nationalitätenfrage bei. Obwohl zahlreiche Jüdinnen und Juden in der Roten Armee gegen Deutschland kämpften, bestand auf Seiten der nichtjüdischen Bevölkerung ein antisemitisch geprägter Blick fort. Jüdinnen und Juden wurden entweder als hilflose Opfer der deutschen Vernichtungspolitik oder als „Drückeberger“ wahrgenommen, die sich vor dem Krieg versteckten. Bogoras verweist diesbezüglich auf einen zeitgenössisch gängigen antisemitischen Ausspruch: „[Der Russe] Iwan kämpft für Abraham, doch [der Jude] Abraham versteckt sich in der zentralasiatischen Stadt Taschkent.“

Repression gegen „Kosmopoliten“

Mit dem Beginn des Kalten Krieges nahmen Stalin und seine Gefolgsleute die zaghaften innenpolitischen Liberalisierungstendenzen aus der Kriegszeit zurück. Ebenso war der Spätstalinismus von staatlich orchestrierten antisemitischen Kampagnen geprägt: Im November 1948 wurde das Jüdische Antifaschistische Komitee verboten und anschließend zahlreiche ehemalige Mitglieder der Organisation verhaftet und ermordet. Die Verfolgung war Teil einer Kampagne gegen sogenannte „Kosmopoliten“. Die Kontakte ins Ausland, die während des Krieges noch gefördert wurden, wertete der Staat jetzt als Beleg für illoyales Verhalten gegenüber der Sowjetunion. Wenige Monate vor Stalins Tod begann mit der sogenannten „Ärzteverschwörung“ eine weitere antisemitische Kampagne: Ein erfundenes Komplott von mehrheitlich jüdischen Medizinern, deren Verfolgung erst mit dem Tod des grausamen Diktators im März 1953 endete.5  

Stigmatisierungen

Diese antisemitischen Kampagnen waren für sowjetische Jüdinnen und Juden eine Zäsur. Der sowjetische Staat, der sich bei seiner Gründung gegen den Antisemitismus des Zarenreichs gewandt und zumindest seit Juni 1941 den Nationalsozialismus erbittert bekämpft hatte, ließ selbst jüdische Intellektuelle ermorden: Eine Wendung, die in der jüdischen Bevölkerung zu einer Angst vor der Unberechenbarkeit der Staatsführung und einem irreparablen Vertrauensverlust führte. 

Zwar sollte sich ein vergleichbarer Ausbruch staatlicher antisemitischer Gewalttaten nicht wiederholen, bestehen blieben jedoch weniger offensichtliche Ausgrenzungsmechanismen. Jüdinnen und Juden wurden von hohen Parteiämtern und Direktionsposten ferngehalten und bei der Vergabe von Studienplätzen und der Besetzung von Professuren benachteiligt. Der Eintrag „jüdisch“ unter Punkt fünf im sowjetischen Pass zog fast immer negative Folgen im Alltag und Berufsleben nach sich. Ebenso gab es wiederkehrende antireligiöse Kampagnen, die auch das Judentum betrafen, sowie einen staatlich geförderten Antizionismus. Dass darüber hinaus auch der alltägliche Antisemitismus fortbestand, verdeutlicht ein Beispiel aus Bogoras Dissidententätigkeit: Als sie mit ihren sechs Mitstreiterinnen und Mitstreitern im August 1968 auf dem Roten Platz gegen die militärische Niederschlagung des Prager Frühlings demonstrierte, beschimpften die umstehenden Passanten sie nicht nur pauschal als antisowjetisch, sondern auch als Juden.6 

Bogoras 1973 veröffentlichte Reflektionen über die eigene jüdische Herkunft passen in die frühen 1970er Jahre. Sowjetische Jüdinnen und Juden suchten in dieser Zeit nach Strategien im Umgang mit der Diktatur und der fortwährenden Diskriminierung. Viele ertrugen die Situation wie sie war und versuchten das eigene Leben so gut es ging fortzusetzen. Andere orientierten sich „zurück“ zum Judentum und gründeten im Untergrund jüdische, oftmals zionistische Gruppierungen. Ziel ihrer Mitglieder war es entweder, jüdisches Leben in der Sowjetunion aufzubauen oder nach Israel auszuwandern.7 Dagegen verwies die Menschenrechtsaktivistin Bogoras auf eine dritte Strategie: Für sie stand der universale Wert der Gleichheit über jeglicher national-kultureller Zugehörigkeit. Sie kämpfte dafür, nicht als Jüdin, sondern als Mensch wahrgenommen zu werden. Sie kämpfte für eine Gesellschaft, in der die nationalen und religiösen Zugehörigkeiten keine Rolle bei der Bewertung des Gegenübers spielen sollten: ein gesellschaftliches Ideal, das bis heute auf der ganzen Welt unerreicht ist. 

Perestroika

Angst vor Pogromen und einem neuerlichen gewalttätigen Ausbruch von Antisemitismus erfuhren die sowjetischen Jüdinnen und Juden abermals während der Perestroika. Der amerikanische Politikwissenschaftler Zvi Gitelman wies seinerzeit darauf hin, dass die knapp eineinhalb Millionen sowjetischer Jüdinnen und Juden durch die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen zwar mehr kulturelle und religiöse Freiheiten genossen als zu jeder anderen Zeit seit 1948. Zugleich verstanden sie ihre Lebenssituation aber auch als so gefährdet wie nie zuvor seit dem Spätstalinismus.8  

Die neu errungene Rede- und Pressefreiheit hatte auch zu einer Reihe von antisemitischen Verlautbarungen und Publikationen geführt; russische Nationalisten und Rechtsextremisten gründeten eigene Parteien. Für diese Gruppierungen benennt Gitelman vier Hauptnarrative des Antisemitismus: (1) jüdische Illoyalität zur Sowjetunion und im Speziellen zu Russland, (2) jüdische Dominanz in höheren Positionen, (3) jüdische Privilegien, die sich exemplarisch durch ein spezielles Recht zur Emigration ausdrücken würden, sowie (4) die Vorstellung davon, dass Jüdinnen und Juden die Wurzel allen gesellschaftlichen Übels seien. Vier antisemitische Motive, die sowohl Kontinuitäten in die russländisch-sowjetische Vergangenheit, als auch in die russische Gegenwart aufweisen. 

Dass die Angst vor Pogromen innerhalb der jüdischen Bevölkerung während der Perestroika so verbreitet war, hat auch mit der jüdischen Erfahrung zu tun, dass in Umbruchs- und Krisenzeiten aufgrund der Schwäche des Staates Pogrome ausbrechen. Glücklicherweise geschah zu Beginn der 1990er Jahre nichts dergleichen. Dessen ungeachtet war der grassierende Antisemitismus ein wesentlicher Grund für die große jüdische Auswanderungswelle aus dem sich im Zusammenbruch befindenden Riesenreich. 

Bogoras blieb und kämpfte auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in Russland für die universalen Menschenrechte und eine Gesellschaft, in der die nationalen und religiösen Zugehörigkeiten keine Bedeutung mehr haben sollten. Bereits zu Beginn der 1970er Jahre hatte sie betont, dass sie sich keine andere Heimat als Russland vorstellen könne: „Ich bin an die Farben, den Geruch und das Rauschen der russischen Landschaft gewöhnt, ebenso wie an die russische Sprache und den Rhythmus der russischen Poesie. Alles andere ist für mich fremd. Selbst die Krim ist für mich exotisch.“9


1.Bogoraz, Larisa (1973): „Do I feel I belong to the Jewish People?“, in: Voronel, Alexander/Yakhot, Victor (Hrsg.): I am a Jew. Essays on Jewish Identity in the Soviet Union, New York, S. 60–64, hier S. 64 ↑
2.vgl. Slezkine, Yuri (2006): Das jüdische Jahrhundert, Göttingen und Jacobs, Jack (2018): Auf ein Neues: Juden und die Linke, in: Börner, Markus u. a. (Hrsg.): Judentum und Arbeiterbewegung: Das Ringen um Emanzipation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Berlin/ Boston, S. 7–31 ↑
3.bzgl. Larissa Bogoras Eltern siehe: Daniel, Aleksandr (2004): Larisa Bogoras ist tot – eine Biographie 
4.vgl. Nesselrodt, Markus (2019): Dem Holocaust entkommen: Polnische Juden in der Sowjetunion, 1938–1946, Berlin/ Boston 
5.vgl. Grüner, Frank (2008): Patrioten und Kosmopoliten: Juden im Sowjetstaat 1941–1953, Köln u. a. 
6.vgl. Gorbanevskaya, Natalia (1972): Red Square at Noon, New York u. a., S. 27–41 
7.vgl. Ro’i, Yaacov (Hrsg., 2012): The Jewish Movement in the Soviet Union, Washington 
8.vgl. Gitelman, Zvi (1991): Glassnost, Perestroika and Antisemitism, in: Foreign Afffairs 70 (1991) 2, S. 141–159 
9.Bogoraz, Larisa (1973): „Do I feel I belong to the Jewish People?“, in: Voronel, Alexander/Yakhot, Victor (Hrsg.): I am a Jew. Essays on Jewish Identity in the Soviet Union, New York, S. 60–64, hier: S. 63 

 

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