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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Andrej Swjaginzew

„Mir schien, dass da ein großer Regisseur durch die Gänge unserer Fernsehanstalt läuft“1 - sagte im Jahr 2003 Dimitri Lesnewski, damals noch der Generaldirektor des privaten Fernsehsenders REN TV. Das Geld in den Film eines jungen Regisseurs zu investieren, der bisher nur Werbespots und kurze Novellen gedreht hatte, bedeutete ein gewisses Risiko. Der Regisseur und sein Filmteam, von den beiden Drehbuchautoren über den Kameramann bis hin zu den Darstellerinnen und Darstellern, waren zu dem Zeitpunkt weder in Russland, geschweige denn in internationalen Fachkreisen bekannt.

Lesnewski hat sich jedoch nicht geirrt: Durch die Gänge lief Andrej Swjaginzew, dessen Debütfilm Woswraschtschenije (dt. Rückkehr) schließlich mit einem der begehrtesten Preise des europäischen Festivalbetriebs – mit dem Goldenen Löwen der Filmfestspiele von Venedig – ausgezeichnet wurde. Seitdem hat Swjaginzew weitere vier Filme gedreht, bedeutende Preise bekommen – unter anderem den Golden Globe für seinen Film Lewiafan (Leviathan), Neljubow (Loveless) ist für den Oscar nominiert – und zählt heute zu den wichtigsten Regisseuren in Russland. 


Der 1964 in Nowosibirsk geborene Swjaginzew war Laie, als er sich 2002 an seinen ersten abendfüllenden Spielfilm wagte. Er hatte in den 1980er Jahren ein Schauspielstudium in seiner Geburtsstadt absolviert. Nach dem Umzug nach Moskau 1986 hatte er an der traditionsreichen Russischen Akademie für Theaterkunst (GITIS) studiert, in den 1990er Jahren als Theaterschauspieler gearbeitet und ab 1992 auch kleinere Rollen in Fernsehserien und Kinofilmen übernommen. Im Jahr 2000 hatte er zusammen mit seinem Kameramann Michail Kritschman drei kurze Novellen des Fernsehkrimis Tschornaja Komnata (dt. schwarzes Zimmer) gedreht. Unmittelbar darauf begann Swjaginzew mit den Dreharbeiten zu seinem ersten Kinofilm. Woswraschtschenije wurde ein internationaler Erfolg. Und die Richtung, die der Regisseur mit diesem Debüt-Film eingeschlagenen hat, verfolgt er bis heute. Swjaginzew positioniert sich eindeutig in der Tradition des europäischen Autorenfilms, was ihm in Russland immer wieder den Vorwurf einbringt, einem „elitären“ Kino und Kunstverständnis anzuhängen. 

Zwischen Swjaginzews Filmprojekten liegen Jahre: Nach Woswraschtschenije 2003 präsentierte er 2007 Isgnanije (dt. Verbannung), im Jahr 2011 Jelena und 2014 Leviathan. Sowohl Leviathan als auch der neueste Film Loveless (so der internationale englische Titel von Neljubow, 2017) liefen im Wettbewerb um die Goldene Palme bei den Filmfestspielen in Cannes und wurden mit dem Preis für das Beste Drehbuch (Leviathan) und mit dem Preis der Jury (Loveless) ausgezeichnet. Loveless war 2018 in der Sparte „Bester fremdsprachiger Film“ für den Oscar nominiert.

Beziehungsdramen im „großen Stil“

Wenngleich sich Swjaginzews Filme nicht auf Genre-Schablonen reduzieren lassen, handelt es sich dabei doch um Beziehungs- und Familiendramen. Die Handlung kann um das konfliktbeladene Verhältnis zwischen einem Vater und seinen beiden Söhnen (Woswraschtschenije) oder um Ehebruch und Vergeltung (Isgnanije) kreisen. Swjaginzews Filme sind aber gewissermaßen Beziehungs- und Familiendramen im „großen Stil“. 

Es sind Filme, die für die Kinoleinwand bestimmt sind – mit bildgewaltigen Kamera-Einstellungen, beeindruckender Musik und einer auf wesentliche Momente reduzierten Handlungsdramaturgie. Sie spielen zwar in der Gegenwart, doch die Sujets – menschliche Grundsituationen und archetypische Beziehungen – erscheinen zeitlos und universell. Dasselbe gilt auch für den Ort der Handlung. Swjaginzew setzt nördliche Landschaften effektvoll in Szene, ohne diese als spezifisch russisch zu kennzeichnen. Diese Tendenz, von Ort und Zeit zu abstrahieren, zeichnete bereits seinen Debütfilm aus und wurde in seinem zweiten Film Isgnanije noch einmal gesteigert. Doch das Resultat stieß auf Kritik, denn zu sehr schienen die überarrangierte Szenengestaltung, die metaphorisch aufgeladenen Landschaftsbilder und die mit religiös-biblischen Motiven durchsetzte Handlung an die überladene Bildästhetik der späten Filme des russischen Autorenfilmers Andrej Tarkowski zu erinnern.2

Gesellschaftskritik

Den Vorwurf, ein Epigone Tarkowskis zu sein, konnte Swjaginzew mit seinem dritten Spielfilm Jelena jedoch entkräften, indem er die Handlung an die gesellschaftliche Realität Russlands zurückband. Es wird die Geschichte einer Ehefrau und Mutter erzählt, die aufgrund innerfamiliärer Konflikte und Loyalitäten zur Mörderin wird. Der Film bezieht sein Spannungspotenzial aus dem Klassenkonflikt, der heute mitten durch die russische Gesellschaft geht. Die Handlung spielt in Moskau, und die beiden Hauptschauplätze sind bezeichnend für die sozialen Gegensätze des postsowjetischen Russlands: einerseits ein luxuriöses Appartement im Zentrum der Stadt, andererseits eine beengte Wohnung in einem typisch sowjetischen Plattenbau weit ab von den Zentren des neu erworbenen Wohlstands. 
 
Ein ähnlich aktuelles, gesellschaftskritisches und noch dazu politisch brisantes Sujet zeichnet auch Swjaginzews vierten Spielfilm Leviathan aus. Ausgezeichnet mit dem Preis für das beste Drehbuch in Cannes und einem Golden Globe für den besten fremdsprachigen Film kam Leviathan sowohl in Europa als auch in den USA in den regulären Kinoverleih.3 Im Film verliert die Hauptfigur alles, was im Leben von Bedeutung ist – das Haus, die Ehefrau, den Sohn und schließlich auch noch die eigene Freiheit. Das Sujet ist aber nur die Oberfläche. Auf die Vielschichtigkeit des Films lässt bereits der Titel schließen, der sowohl auf das biblische Buch Hiob als auch auf die staatsphilosophische Schrift Leviathan von Thomas Hobbes verweist. Swjaginzew gelingt es, eine komplexe Verknüpfung zwischen den historischen Texten und seiner Filmhandlung herzustellen, indem er die Hauptfigur an den Machtstrukturen einer nördlichen russischen Provinzstadt scheitern und sie einen wahrhaft biblischen Leidensweg durchschreiten lässt.

Hetzkampagne

Die im Film explizit geäußerte Kritik an der weltlichen und kirchlichen Macht und ihren Institutionen stieß in Russland auf heftige Gegenreaktionen. An der über die russischen Medien ausgetragene Hetzkampagne gegen den Regisseur, die durch die Auszeichnung des Films bei den Golden Globe Awards im Januar 2015 angeheizt wurde, nahmen Kirchenvertreter wie auch Politiker teil. Nicht zuletzt meldete sich auch der russische Kulturminister Wladimir Medinski in der Debatte zu Wort und warf Swjaginzew vor, er hätte einen konjunkturbedingten Film gemacht und würde nicht seine Helden, sondern vielmehr Ruhm, rote Teppiche und Statuetten lieben.4 Und diese seien wesentlich leichter zu bekommen, wenn der Schauplatz des Films Russland und nicht etwa ein Vorort von Paris, Süditalien oder der US-Bundesstaat Colorado sei, wo sich eine vergleichbare Geschichte zugetragen hatte, die Swjaginzew als Inspirationsquelle diente.5

Es wäre gewagt zu behaupten, es gäbe keinen Zusammenhang zwischen dem Skandal, den der Film in Russland auslöste, und der Aufmerksamkeit, die ihm von den westlichen Medien zuteil wurde. Swjaginzew selbst jedoch betonte immer wieder die allgemein menschliche Dimension seines Film, mit dem er für die Einmaligkeit des menschlichen Lebens als einzigen wahren Wert und einzige Wahrheit eintreten würde: „Die Heimat, das ist der gewaltige Ozean, der große und weite Kreis des Weltalls und der kleine Kreis des nahen Umfelds – deine Familie und deine Freunde, die dir geistig nah sind.“6


1.Zit. nach: Kičin, V. (2003): Triumf v Venecii
2.Vgl. dazu die Diskussion in der von Aleksandr Gordon moderierten TV-Talkshow Zakrytyj pokaz (dt. Geschlossene Vorstellung), gesendet im Ersten Kanal am 21.03.2008.
3.Dies gelingt heute russischen Filmproduktionen kaum – mit Ausnahme der Filme von Alexander Sokurow, wie Faust (2011) oder Francofonia (2015).
4.Das Interview mit Medinski, das auch deutsche Rezensenten des Films wiederholt und zum Teil verzerrt zitierten, erschien am 15. Januar 2015 in der Zeitung Izvestija: Vladimir Medinskij: «Leviafan» zapredel'no konjunkturen. Rezensionen in der deutschsprachigen Presse finden sich unter anderem in der Neuen Zürcher Zeitung: Im Zeichen des Wals, in der Süddeutschen Zeitung: Hiobs Traum oder in der Zeit Online: Ungeheuer Russland und Welt ohne Gnade.
5.In vielen Interviews erzählte Swjaginzew, dass das Drama Leviathan von der Geschichte des amerikanischen Unternehmers Marvin John Heemeyer inspiriert wurde, der nach einem langjährigen Streit mit den Behörden als Rache auf seinem gepanzerten Bulldozer 13 Gebäude zerstörte und schließlich sich selbst tötete. Vergl: Vedomosti: Otečestvo istinnoje i mnimoje, ili Mnenije eščė odnogo zritelja. Eine deutsche Übersetzung erschien auf dekoder.org: Das wahre und das vermeintliche Vaterland.
6.dekoder.org: Das wahre und das vermeintliche Vaterland
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)