Gesellschaftskritik verpackt in Mainstream-Ästhetik – das ist die Richtung, die der junge Regisseur Juri Bykow seit mehreren Jahren konsequent verfolgt. Seine Geschichten erzählt er fesselnd mit konzentrierten Plots und klar kalkulierten Wendepunkten, es sind Thriller aus dem russischen Hinterland. So auch Major (2013), in dem Bykow eine russische Kreispolizeibehörde ins Zentrum der Handlung stellt.
Während man im russischen Kulturministerium historische und patriotische Stoffe bevorzugt, entfalten Regisseure wie Bykow ihr Schaffen im Schatten solcher Großproduktionen.1 Auf diese Weise entstehen Werke über das konkrete, alltägliche Leben im neuen Russland, das längst aus einer postsowjetischen Periode herausgetreten ist.
Bykow ist herausragend in seiner Generation, begann seine Karriere nach einem Schauspielstudium zum Ende der 2000er Jahre und wurde sogleich auf dem wichtigsten Festival des Landes, dem Kinotawr, für den besten Kurzfilm ausgezeichnet. In seinen spannungsgeladenen Geschichten ist Nervenkitzel kein Selbstzweck und nicht zur bloßen Unterhaltung gedacht. Vielmehr geht Bykow hart ins Gericht mit politischen und sozialen Strukturen, die das Verhalten seiner Figuren maßgeblich bestimmen. Major ist sein zweiter abendfüllender Film. Einfache Antworten oder moralische Botschaften nach einem Gut-Böse-Schema darf man hier nicht erwarten – dafür tiefe Einblicke in die russische Gegenwart.
Ein Fahrer rast in den frühen Morgenstunden mit seinem Wagen über eine Landstraße. Er ist auf dem Weg zur nächstgelegenen Kreisstadt, wo seine Frau in einer Klinik in den Wehen liegt. Es herrscht klirrende Kälte, ein Dunstschleier verhüllt die Landschaft, die Fahrbahn ist völlig vereist. An einer Bushaltestelle überquert ein siebenjähriger Junge die Straße, der Fahrer ist viel zu schnell unterwegs und kann nicht mehr ausweichen. Der Junge stirbt.
Die Kräfte für eine Aufklärung des Unfalls sind sichtbar ungleich verteilt: Der Fahrer ist ein junger, aufstrebender Polizeimajor, und ein Eingeständnis seiner Schuld hätte nicht nur für seine Karriere fatale Folgen, sondern würde einen Skandal bedeuten, den niemand in der Polizeidienststelle gebrauchen kann. Die Mutter des Jungen, vor deren Augen sich das Unglück ereignet hat, entstammt dagegen einer Arbeiterfamilie. Sie und ihr Ehemann bleiben hart und weigern sich, für den Major zu lügen.
Die Polizei als Symptom des Gesellschaftssystems
Die Handlung wird rund um die verantwortliche Kreispolizeibehörde angeordnet. Jedoch geht es Bykow nicht um den Polizeiapparat als solchen, sondern allgemein um die Machtverhältnisse und das soziale Gefüge in einer Gesellschaft, die sich nach dem Zerfall der Sowjetunion neu formieren musste. Genauso wenig wird das Verhalten des Einzelnen zur Diskussion gestellt, sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, die ein konkretes Verhalten hervorbringen. Den Gravitationspunkt der dynamisch voranschreitenden Handlung bilden bei Major die beiden unterschiedlich agierenden Hauptprotagonisten: der junge, titelgebende Major Sobolew (gespielt von Denis Schwedow) und sein Vertrauter Korschunow (gespielt von Juri Bykow selbst). Während Korschunow alles dafür tut, um die Schuld seines Kollegen zu vertuschen, schert Sobolew plötzlich aus, versucht, seinem Gewissen zu folgen und seine Schuld einzugestehen. Dadurch wird er jedoch nicht zum Helden, sondern entfesselt eine Welle der Gewalt.
Trotz des ernüchternden Befunds von Korruption und Machtmissbrauch innerhalb der Behörden stellt Bykow die Polizeibeamten nicht als „Werwölfe mit Schulterklappen“2 dar. Dazu passt, dass der Film unter dem Slogan vermarktet wurde: „Major – prosto tschelowek“ – der Major ist auch nur ein Mensch, einer von uns.
Informelle Regeln
Korschunows Verhalten führt konkret vor Augen, was es bedeutet, wenn der Polizeiapparat nicht nach dem Gesetz, sondern nach einem System informeller Regeln und Normen funktioniert. In der russischen Gegenwartssprache existiert dafür der Ausdruck shit po ponjatijam, was wörtlich übersetzt „nach den Begriffen leben“ bedeutet. Entlehnt aus dem Jargon der sowjetischen Verbrecherwelt3 gibt die Wendung zu verstehen, dass im heutigen russischen Alltag, in Politik und Verwaltung, vieles nicht nach kodifiziertem Recht, sondern nach „anderen, informellen Regeln und Abmachungen“ funktioniert. Oben, an der Spitze der Provinzstadt, steht eine grauhaarige Autorität, die nicht nur über die Exekutive, sondern auch über alles andere wacht. Ihn suchen Korschunow und Sobolew auf, seine Entscheidung gilt: Die Mutter muss zum Schweigen gebracht werden.
Da sich die Machtvertikale nach oben hin fortsetzt, erscheint für alle Beteiligten als wichtigster Grundsatz, nicht negativ aufzufallen und nur keinen Staub aufzuwirbeln. Überregionale Instanzen könnten auf den Plan gerufen werden.
So handelt Korschunow absolut loyal – po ponjatijam – und setzt um, was ihm von oben aufgetragen wird: Um der Mutter das Einvernehmen abzupressen, benutzt er zuerst die Mittel der Rhetorik, dann die der Gewalt. Dabei wäre aus seiner Sicht doch alles ganz einfach und logisch: Den toten Jungen macht nichts wieder lebendig, aber der Major muss weiterleben und gemeinsam mit ihm steht das Leben und Wohlergehen seiner Nächsten – seiner Familie, Freunde und Kollegen – auf dem Spiel. Der entfachte Konflikt bringt schließlich die Bruchlinien hervor, die dem Zuschauer systematisch Einblick in die wirkmächtigen Strukturen des Systems gewähren.
Engagiertes sozialkritisches Kino
Es ist dieser Fokus bei Bykow – auf Gesellschaftsstrukturen und die Zwänge, die sich für den Einzelnen ergeben – der seine Filme als ein engagiertes sozialkritisches Kino markiert und die drei bislang realisierten Streifen wie eine Trilogie erscheinen lässt: Shit! (dt. Leben!, 2010), Major (dt. Der Major, 2013) und zuletzt Durak (dt. Der Idiot, 2014).4 Während sich Figurenkonstellation und Milieu ändern, steht immer die Frage nach der sozialen Verantwortung und damit nach einer Pflicht im Mittelpunkt, die nicht nur den Nächsten, sondern allen Gesellschaftsmitgliedern gegenüber besteht. Bykows Figuren aber stellen den Schutz der Familie, Freunde und Kollegen über alles. Der persönliche Einsatz für die Nächsten heiligt die Mittel, rechtfertigt Gewalt und Mord (Shit!, Major). Wer dieses System durchbricht, fällt ihm zum Opfer (Durak).
Fehlende soziale Verantwortung begründet für Bykow eine Art modernen Feudalismus: „Eine liberale Gesellschaft bedeutet, dass Jeder für Jeden Verantwortung übernimmt. Ein Bürger für den anderen. Feudal bedeutet dagegen, wenn es meine Familie gibt, meine Nächsten, meine Freunde – und so weiter, je nach Entfernung.“5 Dabei versteht Bykow seine Filme als Anstoß zur Veränderung: „Für mich ist es [gemeint ist Major] ein Film darüber, dass wir nicht länger allgemeinmenschliche ethische Werte ignorieren können. Die zivile, menschliche Pflicht dem anderen gegenüber ist wesentlich wichtiger als Clan- und Familienbeziehungen.“6
Anklänge an die tschernucha der 1980er und 1990er
Bykow kennt Milieu und Schauplatz seiner Filme gut, dreht bevorzugt im Gebiet von Rjasan rund 200 Kilometer südöstlich von Moskau, wo er seine Kindheit und Jugend verbrachte. Realitätsnähe ist ihm wichtig, zugleich verfolgt er eine klare filmische Stilistik.
So ruft die erste Szene auf der Polizeiwache Effekte der Tschernucha aus der Perestroika-Zeit auf, einer neonaturalistischen Darstellungsweise, die daran ging, die sozialen Abgründe der Gesellschaft zu ästhetisieren. Die Kamera bahnt sich bei Major den Weg durch die klaustrophobische Enge des Ganges mit seinen lackierten Wänden und abgewetzten Türen. Sie kann gar nicht anders, als nah an die sich dort tummelnden Menschen – Alkoholiker, Prostituierte, Kleinkriminelle – heranrücken. „Möge deine Frau tote Kinder zur Welt bringen!“, schleudert eine alte, faltige Frau einem jungen Polizeibeamten entgegen, der sie gerade vor ihrem gewalttätigen Sohn gerettet hat.
In den 1990er Jahren wurde diese Ästhetik mit dem im Entstehen begriffenen Genre-Kino kombiniert und fand Eingang in Thriller und Krimi. Die Schlussszene von Major mit dem Hauptprotagonisten, der per Anhalter in einen Laster steigt, verweist unverkennbar auf Alexej Balabanows Kultfilm Brat (dt. Der Bruder, 1997). Dabei ruft die Szene gerade dazu auf, die Unterschiede im Herangehen der beiden Regisseure zu formulieren: Während Balabanow eine adäquate filmische Darstellung der postsowjetischen Realität fand und das Verbrechen romantisierte, setzt Bykow die längst etablierten Mittel des Genrekinos ein, um seiner kritischen Stimme Gehör zu verschaffen.
Das verbindet ihn auch mit dem Sozialrealismus US-amerikanischer Low-Budget-Produktionen, wie zuletzt überzeugend in Hell or High Water von Regisseur David Mackenzie zu sehen. Dabei ist freilich einzuräumen, dass das filmisch vermessene amerikanische Hinterland auf eine weit reichere Tradition zurückgreifen kann, als dies bei der russischen Provinz der Fall ist.
Autorenfilmer in der Praxis
Gerade durch die mainstreamtaugliche, leicht verständliche Sprache heben sich Bykows Filme auch klar von Andrej Swjaginzews Sozialdramen ab, obwohl Letzterer in Leviafan (dt. Leviathan, 2014) einen durchaus vergleichbaren Stoff bearbeitet hat. Die ewigen Themen des Menschen – der „Kosmos gespiegelt im Wassertropfen“7 – sind Bykows Sache nicht. Entsprechend distanziert werden seine Filme auch von der liberalen russischen Kulturelite aufgenommen, der sie zu wenig künstlerisch, zu direkt, zu grob sind.8
Dabei zeugt der Weg, den der 1981 geborene Regisseur bislang verfolgt, von einer Eigenständigkeit und Kompromisslosigkeit, wie sie in der Blütezeit des europäischen Autorenfilms jedem Filmemacher zur Ehre gereicht hätte. Den Autorenfilmer verkörpert Bykow nicht zuletzt durch seine Vielseitigkeit; so übernimmt er Schlüsselfunktionen selbst – vom Drehbuch über die Montage bis hin zur minimalistischen Musik.9 Autorenfilm und Mainstream-Ästhetik schließen einander heute, wie Andrej Tarkowski dereinst noch glaubte, längst nicht mehr aus.
Text: Eva Binder
Veröffentlicht am 05.09.2017