Nachdem in der ersten Woche nach der Präsidentschaftswahl vorwiegend Lukaschenko-Gegner mit weiß-rot-weißen Flaggen auf den Straßen zu sehen waren, fragten viele Leute schon, wo denn Lukaschenkos Anhängerschaft von 80 Prozent Wählerstimmen sei. Doch schließlich mobilisierte auch die Gegenseite unter der rot-grünen Flagge. Auf einer der ersten Demos stand der Präsident persönlich auf der Rednerbühne und dankte den Anwesenden dafür, dass sie gekommen waren. Kritische Stimmen vermuten, dass Mitarbeiter von Staatsbetrieben zum Teil gezwungen worden waren, mitzudemonstrieren oder in organisierte Busse nach Minsk zu steigen. So wurden in oppositionellen Telegram-Kanälen Anordnungen und Videos veröffentlicht, die ein solches Vorgehen nahelegen, unabhängige Medien berichteten auch über Geldprämien. Tatsächlich waren mit geschätzt 3000 Teilnehmern letzten Endes deutlich weniger Menschen versammelt, als bei der Demonstration der Anhänger Tichanowskajas – zum „Marsch der Freiheit“ waren an demselben Sonntag, 16. August 2020, mindestens 100.000 Menschen ins Minsker Stadtzentrum gekommen. In einem ähnlichen Größenverhältnis zueinander gehen die Kundgebungen beider Seiten im ganzen Land bis heute weiter.
Der russische Journalist Alexander Tschernych hat sich für Kommersant am 19. August unter der Anhängerschaft beider Flaggen umgeschaut und sich mit Menschen unterhalten, die sich in Alter, Geschlecht und familiärer Situation ähneln – nur eben unterschiedlicher Meinung sind.
Ich bin extra eine Stunde vor Beginn vor Ort, trotzdem kann ich keine Busse mit herangekarrten Arbeitern entdecken. Doch die Eingänge zum Park werden von Milizionären abgesperrt, die sorgfältig jeden kontrollieren, der gekommen ist, um Alexander Lukaschenko zu unterstützen. Beim Shukow-Denkmal ist eine Bühne aufgebaut, aus den Boxen dringt vorsintflutliche Popmusik, und hinter den Parkbänken ist eine riesige rot-grüne Flagge aufgespannt. Im Park haben sich erst knapp 40 Leute eingefunden, aber von Minute zu Minute werden es mehr. Vor der Bühne stehen zwei Frauen um die 40 mit einem selbstgebastelten Plakat: „Für Batka!“. Als ihnen langweilig wird, beginnen die Frauen, ihren Slogan zu skandieren, die anderen Anwesenden stimmen munter mit ein. Als ich mich umschaue, gerät mein Weltbild ins Wanken: Eine ganz junge Frau skandiert lauthals mit – normalerweise unterstützen solche Swetlana Tichanowskaja.
„Ich bin hier, denn das ist meine Meinung als Bürgerin. Ich liebe mein Land und will keine globalen Veränderungen, wie sie die Opposition zu provozieren versucht. Ich bin für Batka“, erklärt sie mir ruhig.
„Und was denken Sie darüber, dass Demonstranten zusammengeschlagen wurden?“
„Ich denke, vieles von dem, was Sie im Internet gesehen haben, ist überzogen“, antwortet die junge Frau kühl. „Ich für meinen Teil kenne niemanden, der zu Schaden gekommen ist.“
Mein nächster Gesprächspartner sieht in etwa so aus, wie man sich einen typischen Lukaschenko-Anhänger vorstellt: ein älterer Mann mit prächtigem grauem Schnurrbart und großen, schwieligen Händen. Neben ihm steht seine Frau mit weißem Mundschutz. Bevor sie mit mir sprechen, erkundigen sie sich streng nach meiner Akkreditierung, aber glauben mir dann aufs Wort.
Ich denke, vieles von dem, was Sie im Internet gesehen haben, ist überzogen
„Wir sind hier, weil wir dieses Land aufgebaut haben“, beginnt der Mann. „Ich habe 43 Jahre lang in der Fabrik gearbeitet und bin stolz darauf. Ich will nicht, dass die aus dem Westen kommen und alles wegstehlen, was ich mein Leben lang aufgebaut habe. Nicht mit mir! Ich lasse nicht zu, dass hier das gleiche passiert wie in der Ukraine. Und wir sind ganz sicher nicht nur drei Prozent!“
„Wenn es nur einen würdigen Kandidaten gäbe ...“, seufzt die Frau. Aber dann bricht sie verlegen ab und weigert sich weiterzusprechen: „Mein Mann und ich sind derselben Meinung, reden Sie mit ihm.“
„Was haben Sie denn gegen Viktor Babariko, der nicht zur Wahl zugelassen wurde?“
Der Arbeiter mustert mich abfällig:
„Vielleicht liebt man bei euch in Russland die Banker. Aber ich werde nie im Leben für einen stimmen. Er produziert doch nichts, lebt wie die Made im Speck, während ich Tag und Nacht schufte. Und der soll über mich bestimmen? Nee, danke. Wäre da jemand Ernstzunehmendes, einer aus der Technik, aus der Produktion … Aber solche gibt’s bei uns in der Politik noch nicht.“
Ich will nicht, dass die aus dem Westen kommen und alles wegstehlen, was ich mein Leben lang aufgebaut habe
Ich wechsele das Thema:
„Haben Sie die Videos gesehen, in denen auf die Demonstranten eingeprügelt wird? Was denken Sie darüber?“
„Naja, wissen Sie … die OMON-Leute sind ja auch nur Menschen“, antwortet der Mann schon zweifelnder. „Man sollte auch mal für sie Partei ergreifen. Sie standen unter echtem Stress.“
„Ist Stress ein Grund, jemanden zusammenzuschlagen?“
„Ich habe verschiedene Videos gesehen ...“, weicht mein Gesprächspartner aus. Dann wechselt er selbst das Thema: „Meinen Sie etwa, dass es keine Provokateure gab? Die gab es ganz sicher – da hat der Westen seine Finger im Spiel. Die wollen Belarus zerstören, damit Russland alleine dasteht. Und sie hier ihre Raketen aufstellen können.“
„Finden Sie, Russland sollte sich einmischen?“
„Natürlich nicht mit Panzern, wie das bei euch sonst üblich ist“, grinst er. „Aber unterstützen – warum nicht? Wenigstens moralisch.“
„Wie könnte das aussehen?“
„Die sollen Lukaschenko Wirtschaftsexperten schicken. Vielleicht können die ihm ein paar gute Ratschläge geben. Wir lieben ja unseren Batka, aber er ist halt ein einfacher Mann. Er kommt vom Dorf, er ist kein Wunderkind, sondern ein echter Arbeiter. In wirtschaftlichen Dingen kennt er sich offenbar zu wenig aus.“
„Trotzdem wollen Sie nicht für einen Banker stimmen?“
„Einen Banker brauchen wir hier nicht. Aber Lukaschenko kann nicht alle Probleme auf einmal anpacken. Wenn ich das richtig sehe, hat Putin ein großes Team von Experten, die sich wirklich mit allem auskennen. Wahrscheinlich haben wir in unserem Land einfach zu wenig Fachleute.“
Die Russen sollen Lukaschenko Wirtschaftsexperten schicken. Vielleicht können die ihm ein paar gute Ratschläge geben. Wir lieben ja unseren Batka, aber er ist halt ein einfacher Mann
Mittlerweile haben sich mehrere Hundert Menschen im Park versammelt. Ich erkundige mich bei dem Ehepaar, ob sie es nicht merkwürdig finden, dass die Demonstrationen gegen Lukaschenko Tausende von Teilnehmern anziehen.
„Naja, größtenteils sind das junge Leute – die haben ihre Messenger, das Internet, sie können sich organisieren. Und sie haben sonst nicht viel zu tun. Für Lukaschenko sind eher die Älteren, mit dem Internet kennen wir uns nicht aus, und wir haben auch keine Zeit zu demonstrieren. Da kann sich seine Frau nicht mehr zurückhalten: „Unsere jungen Leute sind nicht arm, sie haben Autos und Handys – aber Lebenserfahrung haben sie keine. Als wir jung waren, haben wir auch vieles nicht verstanden. Anfang der 1990er sind mein Mann und ich auch zu Kundgebungen der Belarussischen Volksfront gegangen, haben Senon Posnjak zugehört und anderen Oppositionellen – wir hatten das Gefühl, dass sie vernünftige Dinge sagen …“
„Aber dann hat Gott uns das Hirn eingerenkt“, scherzt ihr Mann. „Wir haben etwas verstanden. Aber die Jugend denkt nicht genug nach, sie lässt sich von Emotionen leiten. Die Hormone spielen verrückt …“
„Sie wissen nicht, wie das ist, wenn man Lebensmittelmarken zum Einkaufen braucht. Aber wir erinnern uns noch gut daran“, ereifert sich die Frau. „Wir haben Vollzeit gearbeitet und hatten trotzdem nichts zum Anziehen, zum Essen. 20 Dollar haben wir verdient! Heute haben wir alles – obwohl wir Rentner sind, können wir in den Urlaub fahren, ins Baltikum zum Beispiel. Wenn man andere Länder betrachtet – uns hier in Belarus geht es auch nicht schlechter, kein bisschen. Die Jugend vermisst immer irgendwas – ich verstehe es einfach nicht, was wollen die denn noch? Es verbietet denen doch niemand den Mund hier, du kannst sagen, was du willst. Es nervt dich, dass man immer nur Lukaschenko im Fernsehen sieht? Dann sieh halt nicht fern! Wo ist das Problem?“
„‚Freiheit! Wir wollen Freiheit!‘“, äfft der Mann [die Oppositionellen] nach. „Welche Freiheiten wollen die denn? Ich kann um drei Uhr nachts durch ganz Minsk laufen und bin völlig sicher – das ist für mich Freiheit. Das ist sehr viel wert. Diese Freiheit hat man bei Weitem nicht in jedem Land.“
„Glauben Sie nicht, wir hätten nicht versucht, sie zu verstehen, wir haben ihre Meinungen im Internet gelesen. Alle sagen sie: ‚Wenn Lukaschenko bleibt, verlassen wir das Land.‘ Meine Guten, was glaubt ihr denn, wer da auf euch wartet? Was wollt ihr denn dort machen? In Polen Erdbeeren ernten?“
Ich kann um drei Uhr nachts durch ganz Minsk laufen und bin völlig sicher – das ist für mich Freiheit
Vor der Bühne steht eine junge Frau, elegant gekleidet, kurze Haare. Sie hält ein Plakat hoch: „Wir wollen eure Veränderungen nicht!“. Die Buchstaben sind mit bunten Wachsmalstiften gemalt. In ihrer Nähe rennt ein kleines Mädchen herum, wedelt fröhlich mit einem rot-grünen Fähnchen.
„Meine Tochter und ich haben das Plakat selbst gemacht, weil wir kategorisch gegen diese Art von Veränderungen sind“, erklärt mir die junge Frau bereitwillig. „Deren Motto ist das Lied von Viktor Zoi. Ich kenne es noch aus meiner Kindheit, aber damals war Belarus ein anderes Land. Jetzt haben die Menschen einfach alles, was sie brauchen. Die Veränderungen sind schon eingetreten, verstehen Sie? Lukaschenko hat so viel für das Land getan, er hat so viel erreicht! Was wollen sie noch? Mit einem solchen Präsidenten muss man sich weder schämen noch fürchten. In keinem europäischen Land gibt es oder wird es je einen solchen Präsidenten geben, der vor nichts Angst hat. Ich stimme zu – die Menschen sind wirklich zu spät für ihn auf die Straße gegangen. Aber man geht, wenn man gerufen wird, und der Präsident hat uns bislang nicht gerufen. Nun sind wir vielleicht eine Woche zu spät, aber jetzt wird alles anders. Wir werden beweisen, dass Lukaschenkos Anhänger weder Schafe noch Gesocks sind. Es ist kränkend, dass die Demonstranten so etwas sagen. Und es ist sehr kränkend, wie sie unsere heldenhafte Miliz verunglimpfen.“
„Aber die OMON-Leute haben doch tatsächlich Menschen verprügelt.“
„Haben Sie die Videos denn ganz gesehen? Man hat sie mit Betonplatten beworfen! Das sollen friedliche Proteste sein? Im Internet gibt es grad so viele Lügen. Bei mir im Kindergarten arbeiten Mädels, deren Ehemänner jetzt in Uniformen auf der Straße friedliche Menschen beschützen – sie haben einfach Angst um ihre Männer, haben Angst, auf die Straße zu gehen. Aber was soll’s, jetzt gehen wir für den Präsidenten auf die Straße, dann wird es für alle leichter. Gegen 19 Uhr haben sich im Park an die tausend Menschen versammelt.
Da hüpft ein junger Mann mit der Stimme eines professionellen Hochzeits- und Firmenfeier-Redners auf die Bühnes. Er heizt die Menge fröhlich an: „Heute haben wir uns hier versammelt, um Belarus zu verteidigen! Man versucht uns aktiv und gewaltsam zu spalten, einen Keil zwischen unsere Brüder und Schwestern zu treiben, zwischen Milizionäre und Lehrer, man will uns in Stücke reißen und zerstören! Sind wir bereit, uns diesem Wahnsinn zu widersetzen?“
„Ja!“, brüllt die Menge.
„Unterstützen wir unseren Batka?“
„Ja!“
„Dann erkläre ich das Mikrofon für eröffnet! Jeder, der will, kann sich in freier und demokratischer Reihenfolge hier nach vorn begeben!“
Wir werden beweisen, dass Lukaschenkos Anhänger weder Schafe sind noch Gesocks sind
Gemäß der „freien und demokratischen Reihenfolge“ treten bei dieser „Volkskundgebung“ ein Vertreter der Kommunistischen Partei auf, ein Mitglied der staatlichen Jugendunion, eine Sängerin des Musiktheaters und so weiter. Sie erzählen alle das Gleiche – loben Lukaschenko und behaupten, die Opposition handle im Interesse des Westens. Ich entferne mich von der Bühne. Weiter hinten im Park steht unter einem Regenschirm ein junges Pärchen – er langhaarig, sie in einem knallbunten Shirt mit Anime-Motiv.
„Ich sag’s dir gleich: Wir sind nicht vom Staat angeheuert, wir sind freiwillig hier, uns hat niemand die Pistole auf die Brust gesetzt“, lacht das Mädchen. „Weißt du, wir haben’s einfach satt. Die Oppositionellen schreien, dass sie mehr sind als die, die für Lukaschenko gestimmt haben. Also haben wir beschlossen, auch nicht mehr zu Hause zu sitzen.“
„Warum habt ihr Lukaschenko gewählt?“
„Ich halte nichts von den Ideen der Opposition. Ich höre sie seit meiner Kindheit – immer dasselbe.“
„Was genau gefällt euch nicht?“
„Sie wollen …“ (Die junge Frau überlegt.) „Ja, ehrlich gesagt, hab ich gar nicht verstanden, was sie jetzt wollen. Wir warten alle auf ein konkretes Programm. Bisher gibt es Ankündigungen, dass sie uns von Russland entkoppeln, und es soll nur noch eine Sprache geben. Die bei uns im Land praktisch niemand richtig kann. Na, und so schwammige Versprechen, dass wir alle in die EU kommen. Am Beispiel von Georgien und der Ukraine sehen wir, dass das immer nur leere Versprechen sind – in der EU sind die ja immer noch nicht. Und ich persönlich habe große Zweifel daran, dass das mit unserem Land je der Fall sein wird.“
Die Bäume schützen mich nicht vor dem Regen. Ich schlendere durch den Park, schlüpfe unter die Schirme der Kundgebungsteilnehmer und höre von ihnen immer dieselben Argumente. „Uns haben sie schon in den 1980ern versprochen, dass wir leben werden wie die Deutschen – das war eine glatte Lüge.“ „Die Sowjetunion ist zerfallen, und das Land ist für ungefähr 15 Jahre in einen Abgrund gestürzt. Und jetzt sollen wir schon wieder herumexperimentieren?“ „Andere Leader sehe ich in unserem Land nicht.“ „Ich will keinen Bruch mit Russland.“ „Gewalt wurde nur da angewendet, wo die Polizei angegriffen wurde.“
[ --- Wenig später auf dem Platz der Unabhängigkeit --- ]
Auf dem Platz versammelt sich jeden Abend die Opposition, unter der Woche sind es rund 10.000 Menschen. Beim Lenin-Denkmal werden Reden gehalten – und das hier ist wirklich ein „Volksmikrofon“: Einer erzählt von seinem Verwaltungsarrest, ein anderer ruft zur Unterstützung der streikenden Arbeiter auf, ein Dritter bittet einfach darum, den Namen seines Dorfes zu skandieren, „wo Lukaschenko genauso unbeliebt ist wie hier“. Die Menge stimmt fröhlich ein: „Ko-lo-di-schtschi!“ Hin und wieder erklingt an verschiedenen Ecken des Platzes aus tragbaren Boxen Viktor Zois Peremen! Ich nähere mich einem Rentnerpaar, das fast genauso aussieht wie meine Gesprächspartner auf der Lukaschenko-Kundgebung. Ich fasse für sie die wichtigsten Aussagen ihrer Altersgenossen zusammen und bitte sie um ihre Meinung dazu. Der Mann, ein Bauingenieur, seufzt.
„Was soll ich sagen … Viele Menschen unserer Generation reduzieren ihre Bedürfnisse auf das Minimum. Sie geben sich mit den kleinsten Freiheiten zufrieden. Wie die Schafe: ein bisschen raus auf die Weide, fressen, und zurück in den Stall. Sie haben es ja gut da, werden gehegt und gepflegt. Allerdings auch regelmäßig geschoren.“
„Leider haben sich die Leute über die Jahre daran gewöhnt, erniedrigt zu werden, keine Wahlfreiheit, keine Redefreiheit zu haben. Vor allem ältere Leute, die schwere Zeiten erlebt haben“, sagt die Frau. „Ich kann mich auch an die 1990er Jahre erinnern. Aber seitdem sind ein paar Generationen herangewachsen, denen all das nicht mehr genügt. Die jungen Leute in Belarus sind sehr begabt und haben Talent, sie haben die Welt gesehen, andere Freiheiten – und wollen dieselben Möglichkeiten für das eigene Land. Sie sehen, dass unser System marode ist, unsere Wirtschaft in der Sackgasse steckt, dass unser Land Entwicklung braucht. Wir können nicht weitermachen mit dieser Kolchosediktatur. Ich bin Rentnerin, und ich persönlich schäme mich für unseren Präsidenten. Viele meiner Altersgenossen sind leider apolitisch. Sie wissen nur das, was ihnen im Fernsehen gezeigt wird. Sie haben bis heute keine Vorstellung davon, was dieser Tagen passiert, wie unsere Mitbürger verprügelt und gefoltert wurden. Aber das sollten sie wissen.“
Wir können nicht weitermachen mit dieser Kolchosediktatur. Ich bin Rentnerin, und ich persönlich schäme mich für unseren Präsidenten
„Für diese Menschen ist die Hauptsache, dass alles beim Alten bleibt. Dass die Straßen sauber sind. Aber wissen Sie, wie unser berühmter Viktor Schenderowitsch sagt: Die meiste Stabilität gibt es im Leichenschauhaus. Da ist es sauber, alles schön weiß, und alles bleibt, wie es ist. Wie soll ich meinen Landsleuten den Wert der Freiheit erklären? Den Wert der Meinungsfreiheit? Fragen Sie sie einmal, wann sie in ihrem heißgeliebten Fernsehen das letzte Mal eine alternative Meinung gehört haben. Die werden nicht mal verstehen, was Sie meinen. Für sie besteht Freiheit darin, gefahrlos durch die Straßen zu gehen, das ist für sie schon das höchste der Gefühle. Sie tun mir Leid.“
„Ehrlich gesagt weiß ich nicht, worüber ich mit solchen Leuten reden soll. Wir leben einfach auf unterschiedlichen Planeten. Der nächste Redner stellt sich ans Denkmal, ein ganz junger Mann. „Lukaschenko, du Bestie, ich hasse dich!“, schreit er. „Ich habe dich nicht gewählt! Du bist am Ende! Und alle deine Handlanger auch!“ Die Leute reagieren mit Applaus.
Die zigtausendköpfige Menge beginnt zu skandieren: „Sascha, du bist entlassen!“ Kein angenehmes Gefühl, wenn man selbst Sascha heißt ...
Relativ schnell finde ich auf dem Platz eine junge Frau mit einer kleinen Tochter. Daneben stehen zwei ihrer Freundinnen.
„Ich bin schockiert, dass die Jugend auch für Lukaschenko demonstriert“, lacht sie, als sie von ihrem Pendant bei der nachmittäglichen Kundgebung erfährt. „Ich hab gedacht, da sind nur solche … Sie wissen schon, so Frauen mit toupierten Frisuren …“
„Nein, es haben doch alle ein Recht auf ihre Meinung“, fällt ihr die Freundin entschieden ins Wort. „Ich kann verstehen, dass nicht alle bereit für Veränderung sind. Die Leute haben ihre Gehälter, ihre Renten – und sie machen sich Sorgen, dass sich das Leben zum Schlechteren verändert. Ich verstehe das. Und ich sage Ihnen ehrlich: Wenn Lukaschenko die Wahl tatsächlich gewonnen hätte, hätte ich das akzeptiert. Ich hätte überlegt, wie es für mich weitergehen soll, wohin ich auswandern soll. Aber gegen ein ehrliches Wahlergebnis hätte ich nicht protestiert. Ich respektiere das Gesetz und die Entscheidung des Volkes. Deswegen bin ich jetzt hier.“
Ich kann verstehen, dass nicht alle bereit für Veränderung sind. Die Leute haben ihre Gehälter, ihre Renten – und sie machen sich Sorgen, dass sich das Leben zum Schlechteren verändert
„Wieso glauben Sie, dass Lukaschenko diesmal nicht gewonnen hat?“
„Wir waren Wahlbeobachterinnen und haben alles mit eigenen Augen gesehen. Wir haben gezählt, dass 175 Menschen in der Schule waren – aber im Protokoll stehen 310. Raten Sie mal, wem diese Stimmen zugerechnet wurden. Die Lehrerinnen saßen da und schauten zu Boden. Ich weiß, dass ich belogen werde. Mein Kind muss in einem Land leben, in dem alles von Lüge durchdrungen ist. Ja, viele Leute haben Angst vor Veränderung. Aber bei uns gibt es noch viel mehr Leute, die etwas verändern wollen, weiterkommen wollen, stolz auf ihr Land sein wollen. In den Tagen des Protests habe ich zum ersten Mal an mein Land geglaubt, habe daran geglaubt, hierbleiben zu können.“
„Sie sagen, meine Altersgenossin ist stolz auf den Präsidenten? Aber ich finde das völlig abnormal, wenn ein Staatsoberhaupt direkt dazu aufruft, jene zu bestrafen, die eine andere Meinung haben. Lukaschenko hat den Rechtsraum komplett verlassen. Er verstößt sogar gegen die Gesetze, die sein eigenes Taschenparlament aufgestellt hat. Er hat gegen das Wahlgesetz verstoßen, seine OMON-Truppen gegen das Strafgesetz. Warum merken das seine Anhänger nicht?“
„Sie sind der Meinung, die OMON-Leute hätten sich nur verteidigt.“
„Gut, nehmen wir an, sie haben sich verteidigt. Aber es ist das Eine, einen Angreifer mit dem Schlagstock abzuwehren, ihn zu neutralisieren. Und etwas ganz anderes ist es, zu mehreren auf jemanden einzuprügeln, der auf dem Asphalt liegt und keinen Widerstand leistet. Warum wird das nicht aufgeklärt? Eigentlich gibt es bei uns einen Paragrafen zur Überschreitung der Notwehr. Das Gesetz muss für alle gelten.“
„Wir haben mit diesen Menschen viel gemeinsam“, sagt ihre Freundin. „Wir sollten keine Feinde sein. Wir alle wollen in einem friedlichen, starken, prosperierenden Land leben. Wir alle wollen, dass sich alle an die Gesetze halten. Aber sie müssen einsehen, dass es ihr Lukaschenko war, der jetzt auf brutale Weise gegen das Gesetz verstoßen hat, nur um an der Macht zu bleiben.“
Wir sollten keine Feinde sein. Wir alle wollen in einem friedlichen, starken, prosperierenden Land leben
Um das Experiment abzuschließen, suche ich in der Dämmerung lange nach einem passenden jungen Paar. Aber als ich endlich fündig werde, scheuen sie sich und wissen nicht recht, was sie sagen sollen. Dafür antwortet ein Freund von ihnen bereitwillig:
„Ich glaube schon, dass auf der anderen Seite ehrliche Menschen stehen. Aber ich habe das Gefühl, dass sie nicht ausreichend informiert sind. Als würden sie sich nicht besonders dafür interessieren, was im Land geschieht. Sie sehen, dass die Leute protestieren, aber wollen sich keine Gedanken machen, warum ihre Mitbürger auf die Straßen gehen, was sie auszusetzen haben, was sie verändern wollen. […] Tatsache ist, dass jetzt sie die Opposition sind und nicht wir. Übrigens, was haben die da drüben zur Polizeigewalt gesagt?“
„Sie glauben nicht, dass die Gesetzeshüter so handeln.“
„Das heißt, sie haben eigentlich auch Angst“, sagt die Frau bestimmt.
„Ja, im Grunde ist das eine Abwehrreaktion“, stimmt ihr Freund zu. „Wenn um einen herum etwas Furchtbares passiert, will man erst mal die Augen verschließen und das Offensichtliche nicht wahrhaben. Vielleicht verschwindet es ja dann.“
Auf dem Unabhängigkeitsplatz ist es dunkel geworden, die Leute schalten die Taschenlampen auf ihren Smartphones ein. Tausende von Lichtern strahlen schön auf die weiß-rot-weißen Fahnen. Die Demonstranten verabschieden sich und versprechen einander, morgen Abend wieder hier zu sein. Jemand dreht wieder Zoi auf, alle singen vergnügt den Refrain von Peremen mit. Der Strophe mit der Zeile „Vielleicht kriegen wir Angst davor, was zu ändern“ schenkt keiner mehr Beachtung.