Viktor Scheiman ist eine der mächtigsten und unheimlichsten Figuren der belarussischen Politik. Er zählt zu den Hauptorganisatoren der politischen Repressionen der letzten 25 Jahre und war treuer Schildknappe Alexander Lukaschenkos, den er seit den ersten Tagen seiner Präsidentschaft begleitete. Am 15. Juni 2021 wurde die „Graue Eminenz“ jedoch überraschend von seinem Amt als Leiter des einflussreichen Verwaltungsamtes des Präsidenten der Republik Belarus entbunden.
Viktor Wladimirowitsch Scheiman ist Berufssoldat. Er war an den Kampfhandlungen der sowjetischen Truppen in Afghanistan beteiligt. 1990, als die Perestroika ihren Höhepunkt erlebte, war er Major und wurde als Volksabgeordneter in den Obersten Sowjet der Belarussischen Sozialistischen Sowjetrepublik gewählt. Dort lernte er Alexander Lukaschenko kennen, der ebenfalls Abgeordneter war. Diese ersten fünf Jahre verhielt er sich still, trat selten auf und vermied den Zusammenschluss mit jeglichen Fraktionen oder politischen Gruppen. Bereits damals war er kein Politiker, der die Öffentlichkeit suchte.
Lukaschenkos Vertrauter
Einer breiteren Öffentlichkeit wurde Scheiman erst 1994 bekannt, als er als Mitglied von Lukaschenkos Wahlkampfteam direkter Zeuge jenes Ereignisses wurde, das später als „Attentat von Liosno“ in die Geschichte der belarussischen Präsidentschaftswahlen einging. Auf das Auto, in dem sich der Präsidentschaftskandidat Lukaschenko zusammen mit Iwan Titenkow und Viktor Scheiman befand, wurde angeblich geschossen. Die Ermittler und der Großteil der Medien kamen allerdings zu dem Schluss, dass das Attentat fingiert war, ziemlich ungeschickt obendrein, eventuell unter Beteiligung von Scheiman. Dennoch dürfte die Geschichte Lukaschenko bei den Wahlen zusätzliche Stimmen eingebracht haben.
Nach der Wahl zum Präsidenten ernannte Lukaschenko Scheiman zum Staatssekretär des Sicherheitsrates der Republik Belarus. Dieser Rat koordinierte die Arbeit aller Sicherheitsbehörden.
1995 wurde der beliebte Innenminister Juri Sacharenko gefeuert. Lukaschenko war besorgt, die Polizei könnte aus Solidarität zu ihrem Minister rebellieren und sich gegen ihn wenden. Deswegen wurde Scheiman unverzüglich zum Innenminister ernannt und blieb zwei Monate auf dem Posten, bis ein neuer Minister gefunden war. Damit zeigte Lukaschenko erstmals öffentlich, wer zu seinen engsten Vertrauten unter den Funktionären gehörte.
Todesschwadron
Mit Scheimans Namen verbindet man das sogenannte Todesschwadron. Diese Spezialeinheit zur Ermordung von Menschen entstand Mitte der 1990er Jahre. Zunächst war sie auf die Bekämpfung der organisierten Kriminalität ausgerichtet; „kriminelle Größen“, die Mitte der 1990er Jahre bedeutenden Einfluss erlangt hatten, verschwanden damals nicht selten spurlos. Bei einer Parlamentsrede am 4. August 2020 schwelgte Lukaschenko in Erinnerungen und erzählte von den ersten Jahren seiner Präsidentschaft: „Ich verlangte, dass man mir eine Liste der Banditen auf den Tisch legt und sie beseitigt […]. Und tatsächlich haben wir Minsk in einem halben Jahr von allen Banden gesäubert […]. Allein Scheiman und noch ein paar Männer, die mit Pistolen in der Hand durch die Stadt liefen und fuhren, um diese Arschlöcher zur Strecke zu bringen.“1
Und dann kamen die Oppositionspolitiker an die Reihe. Am 7. Mai 1999 verschwand der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko spurlos. Im selben Jahr verschwanden am 16. September der ehemalige Vizepremier Viktor Gontschar und sein Freund Anatoli Krassowski.
Die Ermittler kamen den potenziellen Tätern auf die Spur. Am 21. November 2000 wurde dem Innenminister Naumow ein Bericht seines Stellvertreters Nikolaj Lopatkin vorgelegt, in dem es heißt: „W. W. Scheiman erteilte Pawljutschenko die Anordnung, den ehemaligen Innenminister J. N. Sacharenko physisch zu vernichten […] Die Aktion der Ergreifung und des anschließenden Mordes wurde von Pawljutschenko – SOBR-Chef und Chef der Ersten Kompanie der Spezialeinheit – und vier seiner Männer ausgeführt […]. Analog dazu führte Pawljutschenko am 16. September 1999 die Ergreifung und Ermordung von W. I. Gontschar und A. S. Krassowski aus.“2
Vom Verdächtigen zum Generalstaatsanwalt
Was folgt, ist ein regelrechter Kriminalroman: Der Verdächtige Dimitri Pawlitschenko (so die korrekte Schreibweise seines Namens) wird verhaftet. Nach einem Verhör sprechen Generalstaatsanwalt Oleg Boschelko und KGB-Chef Wladimir Mazkewitsch bei Lukaschenko vor und bitten um die Erlaubnis, Scheiman festzunehmen. Als Scheiman erfährt, dass der SOBR-Chef verhaftet wurde, kann er sich ausmalen, dass ihm dasselbe droht. Also schickt er eine Spezialeinheit zum Untersuchungsgefängnis des KGB, um Pawlitschenko rauszuholen. Mazkewitsch kontert mit einer eigenen Spezialeinheit. Im Zentrum der Hauptstadt kommt es beinahe zu einer bewaffneten Auseinandersetzung.
Der Ermittler Iwan Brantschel, der ebenfalls zum operativen Ermittlungsteam gehörte, erzählt: „Wir waren vier Mal da, um den Präsidenten davon zu überzeugen, dass Pawlitschenko und Scheiman Verbrecher sind. Erfolglos.“3 Lukaschenko befiehlt, Pawlitschenko zu ihm zu bringen, doch nach einem kurzen Gespräch mit ihm erteilt er den Befehl, ihn gehen zu lassen.
Eine Erlaubnis, Scheiman zu verhaften, erteilt der Präsident nicht. Im Gegenteil: Am 27. November 2000 werden Generalstaatsanwalt Boschelko und KGB-Chef Mazkewitsch ihrer Posten enthoben und am Tag darauf wird Viktor Scheiman, der Hauptverdächtige in diesem Fall, zum Generalstaatsanwalt ernannt. Gleichzeitig wird die gesamte Infrastruktur für politische Ermittlungen vom Sicherheitsrat in die Generalstaatsanwaltschaft verlegt. Nun ist er dafür zuständig, den Anschuldigungen gegen sich selbst nachzugehen. Die Ernennung Scheimans zeugt davon, dass Lukaschenko den Fall so schnell wie möglich unter den Tisch kehren, alle Verdächtigen aus der Schusslinie nehmen und die Spuren verwischen wollte. Von da an verbindet Lukaschenko und Scheiman ein unsichtbares Band illegaler Handlungen.
Zwischenzeitlicher Karriereknick
2004 wird Scheiman de facto zum zweiten Mann im Staat, als er die Stelle des Leiters der Präsidialadministration bekommt. 2006 kehrt er auf den Posten des Staatssekretärs des Sicherheitsrates zurück, von dem er jedoch im Juli 2008 per Beschluss des Präsidenten wieder entfernt wird. Der engste Vertraute Lukaschenkos war in Ungnade gefallen. Offizieller Grund der Entlassung war eine Bombenexplosion am 4. Juli, Scheiman wurde Fahrlässigkeit vorgeworfen.
Aber es ist offensichtlich, dass die Explosion nur einen Vorwand für die Entlassung darstellte. Die wahren Gründe lagen woanders: Wenn das Oberhaupt eines autoritären Regimes einem seiner Untergebenen zu sehr verpflichtet ist, erwachsen diesem daraus unweigerlich Probleme. Ein Alleinherrscher steht nicht gern in der Schuld, egal bei wem. Im Idealfall haben alle Beamten ihren Aufstieg ihm zu verdanken. Dann sind sie zuverlässig und ihm treu ergeben.
Zur selben Zeit bekam Scheiman einen starken Konkurrenten, den Assistenten des Präsidenten in Angelegenheiten der nationalen Sicherheit: dessen Sohn Viktor Lukaschenko. Die Kontrolle über die Sicherheitsdienste fiel nun zunehmend in seine Hände. Denn natürlicherweise vertraute das Staatsoberhaupt seinem neuen Schützling mehr.
Außerdem hatte Scheiman durch seine lange Zeit in hohen Positionen zu viele Beziehungen, zu viele Menschen waren von ihm abhängig, sein systemisches Gewicht wuchs. Auch das missfiel Lukaschenko.
Zudem war 2008 das Jahr der ersten Versuche, die belarussischen Beziehungen mit dem Westen aufzubessern. Im April 2004 hatte die Parlamentarische Versammlung des Europarates eine Resolution verabschiedet, in der gefordert wurde, Scheiman aus der Regierung zu entlassen und ein Verfahren gegen ihn wegen Beteiligung an der Ermordung der genannten Oppositionspolitiker einzuleiten. Die EU verhängte Visa- und Finanzsanktionen gegen ihn. Womöglich war die Entlassung Scheimans ein Versuch Lukaschenkos, die Beziehungen mit dem Westen von Null zu beginnen.
Leiter des Verwaltungsamtes des Präsidenten
Aber der Status der Ungnade dauerte nicht lange an. Bereits 2009 wurde bekannt, dass Viktor Scheiman zum Assistenten des Präsidenten in Sonderfragen ernannt wurde. Als besonders vertrauenswürdige Person wurde er mit geheimen, sensiblen Aufträgen betraut. Unabhängige Medien mutmaßten, dass es sich um Waffenhandel und ähnliche Angelegenheiten handelte, die der Öffentlichkeit besser verborgen bleiben sollten.4 Beispielsweise betreute er die belarussischen Unternehmungen in Venezuela und später in Afrika.
Im Januar 2013 ernannte Lukaschenko Viktor Scheiman schließlich zum Leiter des Verwaltungsamtes des Präsidenten. Hier ist erklärungsbedürftig, um was für einen Posten es sich genau handelte. Denn das Eigentum des Präsidenten, das vom Verwaltungsamt des Präsidenten kontrolliert wird, bildet eine besondere, in der modernen Welt unbekannte Form des Eigentums, wie es sie wohl nur im belarussischen Modell gibt. Am ehesten ist sie mit den
Apanage-Ländereien mittelalterlicher Monarchien vergleichbar.
Doch anstatt sich, wie in anderen Staaten üblich, um die routinemäßigen Aufgaben der technischen Versorgung des Präsidenten und der Präsidialadministration zu kümmern, widmet sich das Verwaltungsamt des Präsidenten dem Handel. Zunächst hatte es sich die einträglichsten Immobilien in der Hauptstadt angeeignet, um sie als Büroräume zu vermieten. Bald kontrollierte es immer mehr profitable Unternehmen sowie den Import und Export bestimmter Güter (bspw. den Export von Holz aus dem Naturschutzgebiet Beloweschskaja puschtscha). Ebenfalls unter seine Kontrolle fallen die Getreide-, Kohle-, Holz-, Fisch-, Zucker-, Traktoren-, Tabak-, Alkohol- und Hotelindustrie, sowie ein Teil der Erdölindustrie. Außerdem handelt das Verwaltungsamt des Präsidenten mit Konfiskat, also mit ausländischen Waren, die vom belarussischen Zoll an der Grenze beschlagnahmt werden.
Das alles geht einher mit Steuer- und Zollerleichterungen, die sich auf präsidiale Beschlüsse stützen. Nach Schätzung des ehemaligen belarussischen Ministerpräsidenten Michail Tschigir ist das Verwaltungsamt des Präsidenten die größte Handelsorganisation des Landes.5 Seit Beginn ihres Bestehens gibt es den Verdacht, dass ein Teil der Einnahmen aus seinen überbordenden Aktivitäten nicht ins Staatsbudget, sondern in einen Sonderfonds des Präsidenten wandert.6 Allerdings lässt sich das nicht überprüfen.
Offenbar konnte so eine Behörde nur einem sehr zuverlässigen Menschen anvertraut werden. Und ein solcher war Scheiman. Er bekleidete den Posten acht Jahre, was sehr lange ist. Einige seiner Vorgänger wurden gefeuert, manche, wie Galina Shurawkowa, kamen sogar ins Gefängnis. Denn dieses Geschäftsmodell, das keinerlei Kontrolle unterliegt, ist ein fruchtbarer Boden für Korruption. Aber Scheiman konnte sich beherrschen.
Abtritt des „letzten Mohikaners“
Warum ist er nun zurückgetreten? Da Scheiman ein absolut verschlossener Mensch ist, der die Öffentlichkeit scheut und trotz hoher Staatsposten kaum Interviews gibt, kann man nur spekulieren.
Es sind verschiedene Versionen im Umlauf. Häufig ist die einfachste Erklärung der Wahrheit am nächsten. Unabhängige Medien berichten, Scheiman habe gesundheitliche Probleme, was nicht dementiert wurde. Angeblich hat er eine Krebserkrankung und unterzieht sich einer Chemotherapie. Lukaschenko sagte, Scheiman habe mehrfach darum gebeten, zurücktreten zu dürfen. Als letzte Amtshandlung rang Lukaschenko Scheiman noch ab, einige begonnene Projekte zu Ende zu bringen – etwa auf Kuba, wo er sich seit Anfang Juli aufhält.
Doch wie auch immer der Grund für Scheimans Rücktritt lauten mag, klar ist, dass sein Rückzug Wellen schlägt. Denn er ist nicht einfach ein hoher Beamter, sondern gewissermaßen ein Symbol der Unerschütterlichkeit des bestehenden Regimes. Der politische Analyst Juri Drakochrust äußerte in diesem Zusammenhang folgenden Gedanken: „Für viele war Scheiman ein ‚Symbol der Stabilität‘. Wenn dieses Symbol verschwindet, kursieren im System natürlich allerlei Gerüchte, Ängste, Unsicherheiten: ‚Wenn sogar Scheiman geht, stehen die Dinge wohl ziemlich schlecht.‘“7
Bekanntermaßen endet eine Epoche, wenn ihre markanten Figuren abtreten. Der Abtritt Scheimans, den Lukaschenko bei seinem Abschied als „letzten Mohikaner“ bezeichnete, legt nahe, dass sich möglicherweise auch die Epoche Lukaschenko dem Ende zuneigt.
ANMERKUNG DER REDAKTION:
Weißrussland oder Belarus? Belarussisch oder belarusisch? Die Belarus oder das Belarus? Nicht ganz leicht zu beantworten. Da es im Deutschen keine einheitlich kodifizierten Schreibweisen für diese Bezeichnungen und deren Adjektive gibt, überlassen wir es den Autorinnen und Autoren der Gnosen, welche Schreibweise sie verwenden. Die Schreibweise in redaktionellen Inhalten (wie Titel und Erklärtexte) wird von der dekoder-Redaktion verantwortet.