Belarussische Freiwillige kämpfen schon seit 2014 auf Seiten der Ukraine, mittlerweile sind es so viele, dass sie ihre eigene Einheit unter der ukrainischen Armeeführung haben: das Kastus Kalinouski-Regiment.
Was bringt Belarussen dazu, sich diesem Kampf im Nachbarland anzuschließen und ihr Leben aufs Spiel zu setzen? Welche Konsequenzen hat dies für sie selbst, aber auch für ihre Familien in Belarus? Die ukrainische Journalistin Anhelyna Straschkulytsch hat einen freiwilligen Soldaten getroffen: Pawel Schurmei ist ein ehemaliger belarussischer Ruderer, der 2004 und 2008 für sein Land an den Olympischen Spielen teilnahm. Dem Online-Medium Ukraijanska Prawda hat Schurmei, der mittlerweile Kommandant des Kalinouski-Regiments ist, in Charkiw seine Geschichte erzählt.
Meine Mutter ist im August 2022 gestorben. Leider konnte ich mich nicht verabschieden
Die Frage, ob ich für die Ukraine in den Kampf ziehe oder nicht, stellte sich für mich im Februar 2022 gar nicht. Ich habe mich von klein auf für Geschichte interessiert. Die meisten Bücher, die ich darüber las, behandelten die Geschichte der UdSSR. Zum Großfürstentum Litauen, das Gebiet des heutigen Belarus, gab es nur ganz wenig im Sinne von: „Unterjocht von den polnischen und litauischen Feudalherren strebte das belarussische Volk einen Bund mit dem brüderlichen Russland an“.
Mit der Zeit bekam ich mehr Wissen und ich begriff, dass alles, was ich früher gelesen hatte, eine Lüge war. Die sowjetische Macht hatte versucht, die belarussische Geschichte zu vernichten. Wir sollten nur von unserem „großen Bruder“ wissen, der alles für uns entschied: unser Schicksal, unser Leben, unseren Weg.
Bereits zu Beginn der russischen Aggression im Jahr 2014 überlegte ich, mich der ukrainischen Armee anzuschließen, tat es aber nicht, weil ich mir um meine Mutter in Belarus Sorgen machte. Das war ja eine Einbahnstraße. Die belarussischen Freiwilligen, die sich der Verteidigung der Ukraine anschlossen, konnten nicht mehr nach Hause zurückkehren. 2022 konnte ich nicht mehr anders, als für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. Und nicht etwa wegen meiner ukrainischen Frau und die Familie – diese Horde muss einfach in die Schranken gewiesen werden. Die Russen waren schon in der Ukraine. Sind einfach einmarschiert, als wären sie da zu Hause. Haben Türen eingetreten, Menschen in die Knie gezwungen, ihnen Waffen an die Köpfe gehalten, Frauen, Mütter, Kinder vergewaltigt und umgebracht. Man hätte diese Wilden schon viel früher aufhalten müssen.
Ich war seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr in Belarus. Meine Mutter ist im August 2022 gestorben. Leider konnte ich mich nicht von ihr verabschieden. Ein paar Tage nach Beginn des großangelegten Kriegs bin ich aus den USA nach Polen geflogen und am 1. März in Warschau gelandet. Im dortigen belarussischen Zentrum versammelten sich Freiwillige. Belarussen im Warschauer Exil halfen mir, Ausrüstung und Medikamente zu besorgen. Polnische Sportruderer organisierten einen Kleinbus für mich, mit dem wir in die Ukraine fuhren. Bereits am Abend des 8. März kamen wir in Kyjiw an.
Wer seine Muttersprache nicht lernen will, lernt die Sprache der Unterdrücker
Am nächsten Tag verkündeten die belarussischen Freiwilligen die Gründung des Kastus-Kalinouski-Bataillons. Der Kommandant Jorik forderte alle auf, sich einen Kampfnamen auszusuchen. Hätte ich nicht Dzjadzka (dt. Onkel) genommen, hätte ich Babaj (dt. Waldgeist) geheißen. Aber das ist mir erst später eingefallen. Heiße ich also „Onkel“. Wenigstens nicht Tante. (lacht) Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen und hatte viele Onkel. Sie waren kaum älter als ich, aber ich nannte sie trotzdem Onkel. Daraufhin begannen sie auch, mich Onkel zu nennen. So ist dieser Spitzname entstanden.
Zu Beginn waren die belarussischen Freiwilligen zusammen mit einer Einheit der Territorialverteidigung von Asow in Kyjiw stationiert. Man wollte uns nicht sofort als Kanonenfutter in den Kampf schicken, sondern ließ uns zuerst ein mehrwöchiges Anfänger-Training absolvieren. Nur wenige von uns hatten militärische Erfahrung, aber wir gaben uns Mühe, alles so schnell wie möglich zu lernen. Ich habe gute physische Voraussetzungen dafür, mit einer schweren Waffe zu laufen. So wurde ich MG-Schütze. Ich bekam ein leichtes Maschinengewehr und wurde zu meinem ersten Einsatz nach Irpin geschickt – das war zwischen 20. und 30. März.
Wir verbrachten dort sechs Tage. In der Region Kyjiw erlebte ich etwas, das ich nie vergessen werde. Zusammen mit einem ukrainischen Soldaten sollte ich ein Gebäude bewachen, aber nach einer halben Stunde starb er vor meinen Augen. Er wurde in der Leistengegend verletzt und verblutete innerhalb weniger Minuten.
Ende März kehrten wir aus Irpin zurück. Am nächsten Morgen unterschrieben wir unsere Verträge für den Dienst in den Streitkräften der Ukraine. In unserer Einheit bemühen wir uns, belarussisch zu sprechen. Wer seine Muttersprache nicht lernen will, lernt die Sprache der Unterdrücker. Dass ein Teil der belarussischen Bevölkerung die Landessprache nicht spricht, ist die Folge der systematisch auf die Vernichtung der Identität abzielenden russischen Politik. Russland versucht, alles Nationale auszurotten, damit seine Panzer problemlos durch unser Land rollen können.
Lukaschenko ist ein Leibeigener Putins. Putins Regime hat Belarus okkupiert, und Lukaschenko hat seine Heimat verkauft, um an der Macht zu bleiben. Solange Lukaschenko an der Macht ist, wird die Ukraine in Gefahr sein. Denn am 24. Februar 2022 fuhren von Belarus aus Militärkolonnen in die Ukraine ein. Raketen wurden von belarussischem Boden aus abgefeuert. Am Anfang schrie Lukaschenko: „Kyjiw in drei Tagen“. Ich glaube, er hätte sich dem Krieg angeschlossen, wenn Putin schnell Erfolg gehabt hätte. Und er wäre zur Parade der Russen in Kyjiw gekommen. Aber als er sah, dass Russland vorerst scheiterte, mischte er sich lieber nicht ein und wartete ab, wohin das Ganze führen würde. Er versucht, auf mehreren Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen, aber das kann sich jeden Moment ändern. Zudem kann Russland ihn jederzeit gegen einen angenehmeren Leibeigenen austauschen. Lukaschenko ist ein Monster, das sich alle Optionen offenhalten will, um so lange wie möglich an der Macht zu bleiben. Und solange er an der Macht ist, ist die Ukraine nicht vor Panzern und Raketen aus dem Norden sicher. Das Training russischer Soldaten und die Stationierung russischer Atomwaffen auf belarussischem Gebiet sind zumindest dazu da, den Ukrainern, Europäern und der NATO Angst einzujagen. Und im schlimmsten Fall dazu, die Ukraine oder Litauen von belarussischem Gebiet aus mit taktischen Kernwaffen anzugreifen.
Wenn wir gefragt werden: „Wollt ihr Kalinouski-Kämpfer den Krieg etwa nach Belarus bringen?“, verneinen wir das natürlich. In der Ukraine sehen wir, was Krieg bedeutet, im Gegensatz zu Lukaschenko und seinen Generälen, die der Meinung sind, die alles nur für ein Spiel halten. Indem sie sich in Putins Leibeigenschaft begeben haben, haben sie Belarus in eine Lage gebracht, in der das Volk erleben kann, was Krieg bedeutet.
In Wahrheit war Lukaschenkos Position 2020 mehr als wackelig
Wenn die Belarussen denken, es hänge nicht von ihnen ab, riskieren sie, den Krieg am eigenen Leib zu erfahren. Nach der Präsidentschaftswahl in Belarus 2020 war das Volk irrtümlich der Meinung, die Situation im Land mit friedlichen Protesten ändern zu können. Die Menschen hofften, Lukaschenko und der ganzen Welt zeigen zu können, dass er keine Mehrheit hinter sich hat. Aber die Leute müssen kapieren, dass nichts im Leben gratis ist. Sie müssen endlich den entscheidenden Schritt tun. Der kann sie die Freiheit kosten, die Gesundheit, das Leben, aber ohne diesen Schritt wird nichts passieren. Die Ukraine ist an diesem Punkt angelangt. Ich weiß nicht, ob die Belarussen schon verstanden haben, dass in Belarus ohne Blutvergießen leider keinen Machtwechsel geben kann.
In Wahrheit war Lukaschenkos Position 2020 mehr als wackelig. Eine Woche nach den Wahlen stattete er einer belarussischen Fabrik einen Besuch ab. Die Arbeiter schrien ihm entgegen: „Hau ab! Du kannst uns mal!“ Lukaschenko reagierte schockiert: „Wie kann das sein? Wie könnt ihr so was sagen?“ Manche denken, dass Russland damals bereit war, seine Truppen nach Belarus zu schicken, um die Proteste niederzuschlagen. Aber dann wäre diese Geschichte ganz anders verlaufen. Die Belarussen müssen verstehen, wenn sie nach dem Prinzip leben: „Das hängt nicht von mir ab, das geht mich nichts an, das ist nicht meine Entscheidung“, dann werden die Entscheidungen tatsächlich von anderen getroffen.
In unserer Einheit sind viele Freiwillige, denen das Jahr 2020 im Bezug auf die Situation in Belarus und den russischen Einfluss auf Belarus die Augen geöffnet hat. Damals wanderten viele von ihnen in die Ukraine aus und schlossen sich später den Ukrainischen Streitkräften an. In meinem Leben gab es noch einen bezeichnenden Moment. Ich hatte in Belarus einen Freundeskreis, in dem ich einer der Jüngsten war. Viele meiner Freunde hatten in der Sowjetarmee gedient. Sie waren mit Lukaschenko immer unzufrieden, fanden aber Putin ganz in Ordnung. Nach 2014 fingen unsere Treffen oft friedlich an, es kam aber dann fast zu Schlägereien. Auch wenn sie es nicht ganz ernst meinten, nannten sie mich „Ukro-Yankee-Schwein“ und „Bandera-Jude“. Aber nach 2020 verstanden fast alle – acht bis neun von zehn Leuten – dass Putin noch schlimmer als Lukaschenko ist. Sie haben es am eigenen Leib erfahren.
Wissen Sie, wenn man überlegt, wieso man für den Nachbarn kämpfen soll, muss man sich bewusst machen, dass man selbst als Nächster dran ist. Es gibt eine Redewendung: „Jedes Volk hat den Führer, den es verdient“. Das trifft leider auch auf Belarus zu. Belarus ließ sich 1994, als nach dem Zerfall der Sowjetunion alle Stabilität, medizinische Versorgung und anständige Löhne forderten, von einem Kolchosendirektor die Ohren vollschwafeln: „Ich hole alles zurück. Ihr werdet alles haben.“ Tja, seit mehr als 30 Jahren „haben wir alles“ ...
In Belarus herrscht derzeit ein rechtsstaatlicher Bankrott
Die Familien der belarussischen Freiwilligen, die für die Ukraine kämpfen, sind in Gefahr. Sobald der belarussische Geheimdienst von so etwas erfährt, fängt es an mit Hausdurchsuchungen, die Familien werden verhört und strafrechtlich verfolgt, es werden Anklagen erhoben, Eigentum wird konfisziert, sie werden gezwungen sich vor der Kamera von ihren Familienmitgliedern loszusagen – und diese Videos werden im Fernsehen gezeigt. Sogar die Eltern oder die 70-, 80-jährigen Großeltern unserer Jungs und Mädels werden zu Verhören geladen.
Die Repressionen in Belarus sind brutal. Die Freiwilligen können Anrufe vom Handy des Vaters oder der Mutter bekommen, und dann zeigt man ihnen, wie diese gefoltert werden – wie man ihnen die Fersen verbrennt oder sie schlägt. Sie können mit den Menschen absolut alles machen, können sie sogar totschlagen, ohne dass ihnen etwas passiert. In Belarus herrscht derzeit ein rechtsstaatlicher Bankrott. Unabhängigen Rechtsanwälten wurde die Lizenz entzogen. Man kann sich keinen rechtlichen Beistand mehr holen. In Belarus ist es immer sehr brutal zugegangen, aber seit 2020 haben sich die Repressionen noch weiter verschärft.
Die belarussischen Freiwilligen stehen unter besonderer Beobachtung der Geheimdienste. Denn oppositionelle bewaffnete Verbände sind für Lukaschenko die Gefahr Nummer 1. Die belarussische Führung hat große Angst vor dem Kastus Kalinouski-Regiment. Deshalb haben Lukaschenkos Agenten es besonders im Visier. Im März 2023 wurde ich in Belarus angeklagt – „wegen Extremismus und der Teilnahme an den Kampfhandlungen auf der Seite der Ukraine“. Und Anfang Juni 2024 in Russland. Wie ich davon erfahren habe? Im März letzten Jahres bekam ich plötzlich Anrufe von meinen Bekannten, die mir gratulierten und sagten, ich sei nun ein Belarusse mit Gütesiegel. Bei uns gibt es einen Witz: Wenn du in Belarus vor Gericht kommst, hast du alles richtig gemacht.
Später begannen mir Journalisten zu schreiben und baten mich zu kommentieren, baten mich um Stellungnahmen und fragten, wie es mir gehe. Wie soll es mir schon gehen? Wir sitzen hier beisammen, unterhalten uns, und jeden Moment kann eine Rakete einschlagen. Was soll eine Anklage in Belarus oder Russland schon ändern? Manchmal scherze ich, dass ich gerade nicht persönlich nach Russland fliegen kann, deshalb schicke ich stattdessen eine Drohne.
Die Belarussen müssen verstehen, dass unsere Zukunft von uns selbst abhängt. Es hat keinen Sinn, darauf zu warten, bis die Ukraine, Europa oder Amerika unser Schicksal entscheiden. Wir sind selbst die Herren unserer Zukunft. Geholfen wird nur denen, die kämpfen.