Die belarussische Demokratiebewegung kämpft im Exil dafür, dass belarussische Themen von der internationalen Staatenwelt gehört werden und nicht unter den Tisch fallen. Zudem ist sie bemüht, sich zu ordnen und ihre eigenen Strukturen zu demokratisieren. Zu diesem Prozess gehörten beispielsweise auch die Wahlen zum Koordinationsrat, die Ende Mai 2024 stattfanden. Der Koordinationsrat sollte eine Art parlamentarische Vertretung von Oppositionsgruppierungen aus Politik oder Zivilgesellschaft werden. Allerdings zeigte die extrem niedrige Wahlbeteiligung, dass viele Belarussen sowohl im Exil als auch im Land selbst offensichtlich andere Probleme haben, auf die die Opposition aber kaum Einflussmöglichkeiten hat. Zudem positionieren sich Belarussen in vielfacher Hinsicht anders als die Demokratiebewegung um Swetlana Tichanowskaja.
An wen richtet sich die belarussische Opposition also mit ihren Forderungen, wen will und kann sie vertreten und was bedeutet der schwierige Spagat zwischen den Interessen der Belarussen im Land und derjenigen im Exil, die als besonders progressiv gelten, für die Zukunft der Demokratiebewegung? Diesen Fragen widmet sich Artyom Shraibman in seiner Analyse.
Belarussen positionieren sich in vielfacher Hinsicht anders als die Demokratiebewegung um Swetlana Tichanowskaja / © Fredrik Sandberg/TT Anna Lind-Priset/Imago
Gleich vorweg: Verschiedene Gruppierungen innerhalb der belarussischen Opposition geben unterschiedliche Antworten auf die Frage, wessen Meinung sie vertritt. Sie haben zuweilen den Anspruch, je nach Thema unterschiedliche Zielgruppen zu repräsentieren. Wenn es etwa um die Forderung fairer Wahlen, die Befreiung politischer Gefangener und das Ende der Repressionen geht, dann wollen die demokratischen Kräfte immer noch jene Mehrheit repräsentieren, die offensichtlich im Jahr 2020 für Tichanowskaja gestimmt hat.
Geht es um den Krieg in der Ukraine, so versuchen die demokratischen Kräfte, im Namen der überwiegenden Mehrheit der belarussischen Gesellschaft zu sprechen, die – im Unterschied zu den Russen – gegen den Krieg sei. Aus analytischer Distanz betrachtet ist das jedoch manipulativ. Tatsächlich vertritt zugänglichen Umfrageergebnissen zufolge nur ein geringer Prozentsatz der Belarussen die Meinung, belarussische Truppen sollten im Krieg eingesetzt werden. Doch ist die Zahl jener Belarussen, die Russland unterstützen, ebenfalls hoch: Zwischen 30 und 40 Prozent der Belarussen (je nach Formulierung der Frage) finden es gut, wie die russische Armee in der Ukraine vorgeht und dass sie belarussisches Territorium als Aufmarschgebiet nutzt. Einerseits ist das nicht sehr viel, wenn man die Vernichtung der Meinungsfreiheit in Belarus und den enormen Einfluss der russischen Propaganda bedenkt. Aber von einem „antimilitaristischen Konsens“ kann man in dieser Situation nur sehr bedingt sprechen, und zwar, was den Einsatz belarussischer Soldaten im Krieg betrifft. In vielen Aspekten dieses Themas sind die Belarussen gespalten und alles andere als einig.
Wen die demokratischen Kräfte adressieren
Wenn man der Frage genauer nachgeht, wie ein Ende des Kriegs aussehen könnte, dann vertreten die Tichanowskaja nahen Demokraten mit ihrer Meinung nur eine Minderheit der Belarussen. Mehr als die Hälfte der Befragten wünscht sich ein sofortiges Einfrieren des Konflikts an den aktuellen Frontlinien, und ein weiteres Viertel wünscht sich einen Sieg Russlands. Weniger als 15 Prozent der Städter (die Umfragen werden in der urbanen Bevölkerung durchgeführt) sagen offen, dass der Krieg mit einem klaren Sieg der Ukraine enden soll. Und sogar wenn man den häufig zitierten Faktor Angst ausklammert, bleiben die eindeutig proukrainischen Ansichten der Opposition trotzdem klar in der Minderheit1.
Auch in anderen Fragen können die demokratischen Kräfte im Exil nicht behaupten, die Mehrheit der Belarussen zu repräsentieren, sondern eher nur die aktive prowestliche Minderheit. Hierzu gehören die europäische Integration, der Ausstieg aus allen Bündnissen mit Russland, der Status des Belarussischen als einziger Amtssprache und schließlich die Ausweitung der Sanktionen gegen Belarus bis hin zu einem Handelsembargo – wohl die unbeliebteste aller hier aufgezählten Ideen. Manchmal sieht es aus, als würde die Demokratiebewegung in manchen dieser Fragen zwar nicht unbedingt absichtlich die gesellschaftlich unbeliebtesten Lösungen bevorzugen, aber durchaus eine historische Mission verfolgen: heute strategische Ziele zu formulieren, um sie in Zukunft zur mehrheitsfähigen Meinung zu machen. Darin zeigt sich der Wille, eine ganz besondere soziale Gruppe zu vertreten – die „Belarussen der Zukunft“, die „nachziehen“, sich also der heutigen prowestlichen Minderheit und ihren Standpunkten annähern werden. Und zum Teil zielen die Aktivitäten der Opposition auch darauf ab, die Diaspora zu vertreten – sei es mit der Idee zu einem „Pass des neuen Belarus“, mit dem Aufbau alternativer staatlicher Organe im Exil oder dem Kampf für bessere Aufenthaltsbestimmungen der Belarussen im Westen.
Der Faktor Westen
Hinter diesem komplizierten Gespinst aus Positionen verbirgt sich ein weiteres Element, ein delikateres, über das man nicht laut spricht — die Interessen westlicher Länder, die der Opposition entweder Asyl gewähren oder über internationale Stiftungen ihre Arbeit finanzieren. Es gibt keine überzeugenden Beweise, dass westliche Akteure den demokratischen Kräften irgendwelche Positionen aufzwingen würden. Doch die belarussischen Exilpolitiker müssen die Interessen ihrer Partner durchaus berücksichtigen. Manchmal stehen diese Interessen den Vorstellungen der überwiegenden Mehrheit der Belarussen entgegen – zum Beispiel beim Thema Mobilität. Die Belarussen, die vor der Covid-Pandemie die Nation mit den meisten Schengen-Visa pro Kopf waren, wollen möglichst offene Grenzen zur EU. Aber die westlichen Nachbarn von Belarus reagieren auf die Provokationen, die Minsk an den Grenzen veranstaltet hat, und auf die Rolle von Belarus im Krieg mit Schließung von Grenzübergängen. Litauen versucht sogar, den Zustrom der Belarussen zu stoppen, indem es den Busverkehr teilweise einstellt.
Für die demokratischen Kräfte ergibt sich daraus ein Interessenkonflikt. Swetlana Tichanowskaja und ihre Anhänger müssen sich einerseits loyal verhalten gegenüber jenen Belarussen, die in die EU reisen möchten, und gleichzeitig rechtfertigen, dass ihre Nachbarländer die Grenzen zu Belarus schließen. Dieser Spagat führt dazu, dass innerhalb der Opposition Gruppen entstehen, die Tichanowskajas Mannschaft vorwerfen, sich zu wenig gegen den „eisernen Vorhang“ an der Westgrenze von Belarus einzusetzen. Gleich mehrere solche Koalitionen („Listen“) traten bei den Wahlen zum Koordinationsrat der Opposition am 25. bis 27. Mai mit dem Versprechen an, den internationalen Lobbyismus in Fragen der Mobilität zur obersten Priorität zu machen.
Das Ende der Ad-hoc-Koalition
In der Demokratie werden solche Probleme im Zuge von Wahlen gelöst: Parteien, die mit sich selbst beschäftigt sind und den Kontakt zur Masse der Wählerschaft verlieren, bekommen weniger Stimmen und büßen ihre Macht ein. Ein solcher Rotationsmechanismus fehlt bei den belarussischen Demokraten. Es ist schwierig, sich auf Wahlen zu verlassen, die nur im Ausland stattfinden können. Repräsentanten, die vom politisch aktivsten Teil der Diaspora gewählt wurden, sind möglicherweise noch weiter von den Interessen des Durchschnittsbelarussen entfernt als die derzeitige Regierung in Belarus. Insofern sucht sich jede politische Kraft selbst ihre Zielgruppe aus, deren Interessen sie vertreten will. Ob sie auf das richtige Pferd setzt, wird die Geschichte zeigen. Diese kennt sehr wohl Beispiele für eine triumphale Rückkehr politischer Emigranten aus dem Exil, die sich auf die Arbeit mit einem aktivistischen Kern konzentriert und die Verbindung zur Mehrheit ihres Volkes scheinbar schon verloren hatten. Solche Beispiele sind jedoch eher die Ausnahme von der Regel, die nahelegt, dass der Wandel in Belarus eher von neuen Kräften angetrieben werden wird, die innerhalb des Landes entstehen werden, sobald sich das nächste Fenster historischer Volatilität auftut.
Doch dieses Dilemma wirft noch eine andere Frage aus der politischen Philosophie auf: Wie weit soll sich die Exil-Opposition überhaupt von den Schwankungen der öffentlichen Meinung in ihrem Heimatland beeindrucken lassen? Die Koalition jener, die 2020 Tichanowskaja unterstützt haben, ergab sich in vielerlei Hinsicht aus der Situation. Das war keine Revolte einer konkreten Gesellschaftsschicht, einer demografischen Gruppe oder von Anhängern einer bestimmten Ideologie. Vielmehr war es ein Ausbruch allgemeiner Empörung angesichts Gewalt, Lügen und Wahlfälschung vonseiten des Staates. Das angestaute Verlangen nach respektvoller Behandlung hatte sich mit dem Überdruss an Lukaschenko gepaart. Doch es war eine Koalition völlig unterschiedlicher Menschen, die sich zu einem konkreten Zeitpunkt als Reaktion auf konkrete Handlungen des Regimes gebildet hatte.
Es wäre naiv anzunehmen, man könne diese bunte und spontane Koalition einer belarussischen Mehrheit ewig aufrechterhalten. Sogar in einem Land mit normalem politischem Wettbewerb müssen bei neuen Wahlen die Sieger der vorangehenden Wahlen wiederum versuchen, eine Mehrheit zu überzeugen, und den Menschen neue Gründe anbieten, warum sie ihnen auch in der aktuellen Situation ihre Stimme geben sollen. Doch in Belarus gibt es jetzt und wohl auch in nächster Zukunft keine politische Konkurrenz, keinen Kampf um die Macht durch Überzeugung von Mehrheiten. Das heißt, dass die Opposition allein schon aus technischen Gründen keine neue „Siegerkoalition“ bilden kann. Man kann zu jeder beliebigen Frage – von Sanktionen über Neutralität bis hin zur Wirtschaftspolitik – so populäre oder gar populistische Positionen einnehmen, wie man will – solange es im Land keinen politischen Wettbewerb gibt, wird die Opposition nichts davon haben.
Deswegen werden die Belarussen keine neuen Möglichkeiten zum politischen Handeln bekommen. Und das Fenster zu diesen Möglichkeiten wird nicht aufgehen, nur weil die Oppositionsführer im Exil anfangen, in ihren Reden beliebtere Thesen zu verkünden.
Das Dilemma unterschiedlicher Meinungen innen und außen
Wie paradox das auch klingen mag: Es ist unklar, welchen politischen Nutzen die Opposition daraus zieht, wenn sie den Ansichten der heutigen belarussischen Mehrheit folgt. Welche Risiken eine solche Herangehensweise für die Exilstrukturen darstellen würden, ist hingegen nicht schwer zu erahnen.
Erstens: Der Versuch, sich im Einklang mit der Mehrheit der Belarussen im russisch-ukrainischen Krieg neutral zu verhalten, zum sofortigen Waffenstillstand aufzurufen oder gegen die Sanktionen einzutreten, würde die Verbindung der Opposition zum proukrainischen und proeuropäischen Kern der demokratisch gesinnten Belarussen schädigen, die zu all diesen Fragen ganz klar Position beziehen. Genau jene oppositionell gesinnten Menschen arbeiten in politischen und zivilgesellschaftlichen Organisationen im Exil und in Redaktionen unabhängiger Medien und bilden die Diaspora, die von der Opposition eine Vertretung ihrer Interessen fordert. Anders gesagt, das Bemühen, dem durchschnittlichen Belarussen zu gefallen, würde beim prodemokratischen oppositionellen Kern auf Frustration und Ablehnung stoßen.
Zweitens würde eine Übernahme der in Belarus populärsten Ansichten in einer Situation des Kriegs und der scharfen Trennung in „Unsere“ und „Fremde“ eine effektive internationale Politik der Demokraten in Europa verunmöglichen. Eine Swetlana Tichanowskaja, die eine Aufhebung der sektoralen Sanktionen fordert, oder ein Pawel Latuschko, der zu Neutralität und einem sofortigen Waffenstillstand in der Ukraine aufruft, könnten nicht nur mit den ukrainischen, sondern auch mit den meisten westeuropäischen Beamten und Diplomaten nicht mehr normal reden. Sogar ihr Aufenthaltsrecht in Vilnius und Warschau könnte dann in Zweifel gezogen werden.
Ehrliche Abkehr von der Idee einer Exilregierung
Wahrscheinlich wird es mit der Zeit die organischste Entscheidung für die Opposition im Exil sein, sich in die Nische der moralischen Autoritäten zurückzuziehen, der Meinungsführer und internationalen Anwälte von Belarus, die nicht von der Konjunktur der aktuellen öffentlichen Meinung im Heimatland abhängig sind. Das würde ihnen erlauben, ungeschminkt ihre Überzeugungen zu verfechten, die Interessen ihrer heutigen Anhänger und der Diaspora zu vertreten und nicht mehr so tun zu müssen, als würde die historisch präzedenzlose Mehrheit von 2020 noch immer in allen Fragen den demokratischen Kräften folgen. Natürlich würde dies eine bescheidenere Positionierung bedeuten und eine Abkehr von der Idee einer „Exilregierung“ mit dem Anspruch, die Interessen aller oder der meisten Belarussen zu verteidigen. Doch eine solche Positionierung wäre wenigstens ehrlich – sowohl den internationalen Gesprächspartnern als auch ihren heutigen tatsächlichen Anhängern gegenüber.