Polen ist Belarus nicht nur geographisch nahe, sondern auch kulturhistorisch. Jahrhunderte waren die beiden Länder in der Polnisch-Litauischen Adelsrepublik verbunden. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs entschied sich Polen für eine demokratische Entwicklung und eine Orientierung gen Westen, während Belarus mit einem diktatorischen System dem postsowjetischen Raum vehaftet blieb und sich vor allem ab 1994 verstärkt Richtung Russland orientierte.
Trotz dieser offensichtlichen Nähe scheint das Ausmaß der Repressionen in Belarus für viele Polen unbegreiflich zu sein. Auch würden sie nicht verstehen, dass es womöglich den Belarussen zu verdanken sei, dass Russland sich nicht schon längst bis an die polnische Grenze ausgedehnt hat. Diese Beobachtungen erörtert der belarussische Journalist und Autor Sewjaryn Kwjatkouski auf der Online-Plattform von Nowy Tschas.
Aktuellen Ergebnissen des polnischen Sozialforschungsinstituts CBOS zufolge stehen 47 Prozent der Polen den Belarussen feindselig gegenüber. Dabei ist allerdings nicht näher benannt, um welche Belarussen es geht – diejenigen, die erst kürzlich nach Polen migriert sind oder Belarussen im Allgemeinen oder die Belarussen, die Lukaschenko unterstützen.
Das erste Mal begegnete mir Fremdenfeindlichkeit in Polen komischerweise in Białystok. Das ist merkwürdig, weil Belarussen in der Grenzregion eigentlich schon seit dreißig Jahren fest zum Landschaftsbild gehören. Es gibt dort viele Verbindungen zwischen den Menschen, sowohl familiär als auch durch den kleinen Grenzhandel. Ich musste damals für einige Tage ins Krankenhaus und rief beim Personal reges Interesse hervor – ein Schriftsteller und Journalist aus Belarus war dort zum ersten Mal. Es war der elfte Monat des russischen Angriffskriegs in der Ukraine und mehr als zwei Jahre seit Beginn der Massenrepressionen in Belarus.
Tatsächlich haben sich die Belarussen enorm verändert, aus der postsowjetischen Bevölkerung ist eine moderne Zivilgesellschaft geworden
„Und, was haben Sie vor – vielleicht weiter nach Deutschland?“ Zuerst dachte ich, dass man mich für einen Wirtschaftsflüchtling hält. Dann wurde mir klar, dass die Menschen hier über den Zustrom verschiedener Migrantengruppen besorgt waren. Die Ukrainer flüchten vor den Raketen, die Belarussen vor ... Aus den Gesprächen begriff ich, dass im Krankenhaus kaum jemand wirklich eine Ahnung hatte, was gerade einmal 40 Kilometer Richtung Osten passierte. Die polnischen Medien haben das Leben in Belarus in den vergangenen dreißig Jahren zwar ausführlich beleuchtet. Und natürlich beginnt und endet jeder Beitrag mit dem Wort „Lukaschenka“. Doch im Unterschied zu anderen Nachbarländern von Belarus wird in Polen auch rege über die belarussische Gesellschaft berichtet. Die polnischen Leser der Auslandsrubrik kennen im Zusammenhang mit Belarus also die Worte „Diktatur“ und „Repressionen“. Erzählt man von den belarussischen Realia, erhält man in der Regel mitfühlende Blicke und etwas wie „ja ja, wir wissen Bescheid“. Doch sind die Ereignisse von 2020 und das, was heute passiert, völlig verschiedene Epochen.
Tatsächlich haben sich die Belarussen enorm verändert, aus der postsowjetischen Bevölkerung ist eine moderne Zivilgesellschaft geworden. Vielleicht stehen deshalb vierzig Kilometer östlich von Białystok noch keine russischen Panzer. Im Herbst 2020 nannte die polnische Regierung die Zahl von einer halben Million Belarussen, die Polen bereit sei, als Geflüchtete aufzunehmen. Heute wissen wir, dass in den letzten drei Jahren insgesamt etwa 350.000 Belarussen ihr Land verlassen haben.
Unabhängig davon, welche Partei regiert, war Polen auf staatlicher Ebene der belarussischen nationaldemokratischen Bewegung gegenüber immer positiv eingestellt. Das liegt vermutlich daran, dass alles Belarussisch-Demokratische automatisch als anti-imperial und damit Polen verbunden wahrgenommen wird. Angenommen, von den 350.000 emigrierten Belarussen haben sich 200.000 in Polen niedergelassen. Zusammen mit den ukrainischen Geflüchteten ist das eine sehr große Zahl. Aber es sind weit weniger Menschen, als Polen anfangs erwartet, und auch als die Lukaschisten erhofft hatten. „Belarussen“ und „Lukaschisten“ – diese Unterscheidung treffen Belarussen jetzt in Gesprächen.
Russische Panzer stehen noch nicht an der Grenze zu Polen, weil die Lukaschisten es nicht geschafft haben, die Struktur der Gesellschaft zu ihrem Vorteil zu verändern. Was ist dort, hinter der Wand? Diesem Zaun, der gegen die gezielt organisierten Migranten aus Asien gebaut wurde. Dort, hinter der Wand, werden täglich Menschen verhaftet. Dutzende Menschen werden gleichzeitig eingesackt. Architekten, Ärzte, Anwälte, Arbeiter aus verschiedenen Betrieben werden angeklagt. Kinderreiche Eltern, alte Menschen, Minderjährige werden zu Haftstrafen verurteilt.
Man spricht von etwa 50.000 Menschen, die eine Untersuchungshaft durchlaufen haben, und etwa 5000, die aufgrund von Strafsachen verurteilt wurden und einsitzen. Über die Anführer der Bewegung von 2020 gibt es kaum Informationen, von einigen gibt es nicht einmal die Auskunft, ob sie noch am Leben sind. Ja, in Belarus gibt es keine Erschießungen auf offener Straße wie bei den deutschen Nazis, aber die Folter der „Politischen“ in den Gefängnissen nähert sich dem Niveau der stalinschen Lager.
Im August 2020 war im Süden von Minsk, bei der Stadt Sluzk, bereits ein Konzentrationslager eingerichtet worden, es bestand drei Tage lang. Die Proteste waren so massiv, dass die Lukaschisten einfach nicht wussten, wie sie die große Anzahl an Festgenommenen bewältigen sollten. Doch vor dem Konzentrationslager schreckten sie zurück. Bis zum heutigen Tag. Auf sechs Millionen erwachsene Staatsbürger kamen in den ersten vier Monaten der revolutionären Ereignisse 2020 mehr als eine Million Menschen, die äußerst aktiv daran teilnahmen. Nehmen wir noch jene hinzu, die die Familien der Verhafteten finanziell oder logistisch unterstützten, und die, die Menschen in ihren Wohnungen versteckten. Und wie viele fühlten mit, auch wenn sie nicht teilnehmen konnten!
Heute mit einer politischen Einstellung in Belarus zu bleiben – das ist auch ein Akt des Widerstandes
Weder Politologen noch Soziologen haben Zweifel daran, dass dort, östlich von Białystok, die absolute Mehrheit der Menschen Lukaschenko nicht unterstützt. Und es ist keine gleichgültige, sondern eine aktive Haltung. Und sie bedeutet, dass diese Mehrheit auch den Krieg Russlands gegen die Ukraine nicht akzeptiert. Zum Zeitpunkt der russischen Invasion in der Ukraine am 24. Februar 2022 hatte die Repressionswalze in Belarus bereits totalen Charakter angenommen. Man konnte für alles hinter Gitter kommen: für einen roten Streifen an weißen Socken, für eine weiß-rot-weiße Fernseherverpackung auf dem Balkon, für rote und weiße Schneeflöckchen im Fenster. Die weiß-rot-weiße nationale Flagge war zum Symbol des Freiheitskampfes geworden. Mit Beginn des großangelegten Krieges gingen die Menschen in Belarus auf die Straße, um die Ukraine zu unterstützen, auch wenn sie wussten, dass sie festgenommen und gefoltert würden (mit Schlägen, Hunger, Kälte, Chlorwasser auf dem Zellenboden).
In der erzwungenen Emigration hatte ich Gelegenheit, mit Ukrainern zu sprechen, die den Bombardements entkommen waren. Wenn wir, die Belarussen, ihnen erzählten, was die Lukaschisten selbst mit jenen machen, die nur Administrativstrafen absitzen, stehen den Menschen, über denen Bombensplitter hinweggeflogen sind, die Haare zu Berge. Heute mit einer politischen Einstellung in Belarus zu bleiben – das ist auch ein Akt des Widerstandes. Unter den Belarussen zweifelt kaum jemand daran, dass sie Ereignisse von 2020 den Beginn der russischen Invasion in der Ukraine verzögert haben, da Putin ruhiges Hinterland brauchte. Doch auch heute, 2024, ist Belarus kein zuverlässiger Aufmarschort für potenzielle Interventionen im Baltikum oder Polen.
Im Krankenhaus von Białystok antworte ich auf die Frage, ob ich nicht weiter in den Westen ziehen wolle, dass Belarus doch sehr nah sei und ich dorthin müsse. Jetzt gilt es nur noch zu verstehen, wie das gehen kann. Aber das ist nicht nur eine belarussische, sondern eine kollektive Frage an alle, die verstehen, dass Russland, und mit ihm Lukaschenko, gestoppt werden müssen.