Bei der Konferenz Neues Belarus, die kürzlich vom Büro Swetlana Tichanowskaja in Vilnius organisiert wurde, ging es zuweilen hoch her, was sicher auch Ausdruck einer vitalen demokratischen Kultur ist, die von der neuen belarussischen Diaspora gelebt wird. Seit geraumer Zeit steht die belarussische Oppositionsführerin in der Kritik, die aus den eigenen Reihen kommt. Auch um den Kritikern entgegenzukommen und verschiedene oppositionelle Initiativen und Gruppen besser zu repräsentieren, wurde ein fünfköpfiges Exilkabinett beschlossen, dem neben Pawel Latuschko vom Nationalen Anti-Krisenmanagement unter anderem auch Alexander Asarow, Chef der Initiative BYPOL angehören. Ob dieses Kabinett ein effektiveres Instrument ist, um Einfluss auf politische Entwicklungen in Belarus selbst zu nehmen, wird von Experten wie Alexander Klaskowski mitunter bezweifelt. Größere Einflussmöglichkeiten hat die Opposition indes in der Außenpolitik. „Faktisch ist Tichanowskajas Büro“, so urteilt der Politikanalyst Waleri Karbalewitsch, „zum alternativen belarussischen Außenministerium geworden, und zwar einem viel wirkungsvolleren als das offizielle Außenministerium unter der Führung von Wladimir Makei.“
Die große Politik für Alexander Lukaschenko sei indes vorbei, meint der belarussische Journalist Igor Lenkewitsch. Dem belarussischen Machthaber bleiben vor allem Treffen mit Wladimir Putin, mit dem ihn eine fatale Abhängigkeit verbindet. Vor dem Hintergrund des Besuches von Denis Puschilin, dem Anführer der selbsternannten Donezker Volksrepublik (DNR), in Belarus analysiert Lenkewitsch im belarussischen Online-Medium Reform.by, dass sich Lukaschenko außenpolitisch in eine ausweglose Position gebracht habe, die auch die Unabhängigkeit des Landes bedrohe.
Der Präsident der selbsternannten Donezker Voklksrepublik (DNR) Denis Puschilin war nach Brest gereist. Dort besuchte er gemeinsam mit dem Generalsekretär der Partei Einiges Russland, Andrej Turtschak, dem Botschafter der Russischen Föderation in Belarus, Boris Gryslow, und anderen Delegationsmitgliedern aus der Pseudorepublik die Gedenkstätte Brester Festung. Am Ewigen Feuer legte man Blumen nieder.
In seiner Erklärung nannte Puschilin Brest eine Stadt, die zum „Vorbild für Mut und Widerstand des russischen Soldaten“ geworden sei. Hier stellt sich die Frage: Warum nur „des russischen“? Die Brester Festung wurde schließlich von Soldaten verschiedener Nationalitäten der UdSSR verteidigt. Und an 1939 wagt man ja kaum zu erinnern. Dennoch setzte Puschilin den Akzent ausschließlich auf den „russischen Soldaten“. Zufall? Oder steht der „russische Soldat“ für das russländische Imperium? Hält Puschilin damit auch Brest, das Vorbild des russischen Heldenmutes, für russisch? Bedeutet das, dass Russlands ambitionierte Pläne territorial so weit reichen? Wie angemessen sind solche Äußerungen überhaupt in einem fremden Land?
Bis zu diesem Besuch hatte die belarussische Regierung von offiziellen Gesprächen mit Vertretern von DNR und LNR abgesehen, mit Ausnahme eines Austauschs in der Trilateralen Kontaktgruppe. Den Donbass hatte der Parlamentsabgeordnete Oleg Gaidukewitsch gemeinsam mit einer Delegation seiner Partei LDPB besucht. Der in Minsk nach der erzwungenen Landung des Ryanair-Fluges festgenommene Blogger Roman Protassewitsch gab an, in Minsk von Ermittlern aus der sogenannten LNR befragt worden zu sein. Dazu äußerte sich im August 2021 auch Lukaschenko. Das war alles. Sollte es weitere Kontakte gegeben haben, so wurde es vorgezogen, sie nicht an die große Öffentlichkeit zu tragen.
Gute Auswege gibt es für das offizielle Minsk einfach nicht mehr
In einem Interview mit der französischen Nachrichtenagentur AFP sagte Lukaschenko, er sehe keine Notwendigkeit und keinen Sinn in der Anerkennung der besetzten ukrainischen Gebiete Donezk und Lugansk als unabhängige Staaten, ebenso verhalte es sich mit der von Russland besetzten Krim. „Sollten die Krim, Lugansk und Donezk Lebensmittel, Ziegel, Zement oder Unterstützung beim Wiederaufbau benötigen, werden wir sie unterstützen. Wenn es notwendig ist, werden wir sie anerkennen. Wenn das irgendeinen Sinn ergeben sollte. Doch welchen Sinn hat es heute, ob ich sie öffentlich anerkenne oder nicht?“, erläuterte Lukaschenko seine Position.
Hat sich die Situation seitdem geändert? Gibt es mittlerweile diesen Sinn? Eine Wahrscheinlichkeit besteht. Der Kreml könnte Druck auf Lukaschenko ausüben und die Erfüllung der Unionsverpflichtungen einfordern. Möglich ist auch, dass Moskau die ewigen Ausflüchte des offiziellen Minsk leid ist und nun entschieden hat, dass die Zeit für die Anerkennung gekommen ist. Aus praktischen Gesichtspunkten gibt es für Russland keinen besonderen Sinn, außer dass es Lukaschenko noch mehr die Hände binden würde. Die Anerkennung der Separatistenregionen auf ukrainischem Gebiet als eigenständige Staaten würde die Beziehungen zwischen Belarus und der Ukraine sowie deren Verbündeten nur noch zusätzlich belasten. Minsk zu nötigen, Puschilin zu empfangen, ist außerdem eine gute Option für Moskau, den Verbündeten auf seinen Platz zu verweisen.
Letztlich ist auch eine andere Variante denkbar: Es wird keine offizielle Anerkennung von DNR und LNR geben, da der Kreml „Referenden“ vorbereitet, die über den Beitritt der Separatistengebiete zur Russischen Föderation befinden sollen. Eine Anerkennung wäre dann gar nicht nötig. Es wird einfach mitgeteilt, dass die Vertreter der DNR angereist sind, um im Kontext des Hilfsangebotes der belarussischen Seite ihren Bedarf an Zement und Lebensmitteln zu formulieren.
Damit würde jedoch das Problem nur aufgeschoben. Denn es ergibt sich unvermeidlich die Frage nach der Anerkennung der Moskauer „Referenden“. Hier wird der Kreml seinem Verbündeten in jedem Fall die Daumenschrauben anlegen. Gute Auswege gibt es für das offizielle Minsk einfach nicht mehr. Es bleibt lediglich die Hoffnung auf Erfolge der ukrainischen Armee, die solche „Referenden“ verhindern würde.
Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei
Oder einfach abwinken und tun, was Moskau will? Den vom Kreml zugewiesenen Platz einnehmen? Denn die bloße Tatsache des Besuchs der DNR-Delegation stellt Belarus letztlich in eine Reihe mit dieser Pseudorepublik. Man kann sich ohne Ende hinter „de jure“ und „de facto“ verstecken und der Welt weismachen, dass man niemanden anerkannt hat, sondern nur den Bedürftigen hilft – das alles sind Argumente zugunsten der Armen. Die niemand glaubt. Die große Politik ist für Lukaschenko vorbei. Kamen früher noch die deutsche Kanzlerin, der französische Präsident oder der US-Außenminister nach Minsk, ist es heute nur Puschilin. Und gerade dieser Besuch definiert Belarus‘ aktuelle Position in der politischen Konstellation des Kreml.
So tummelt sich also die DNR in Brest, und Puschilin macht zweideutige Bemerkungen. Belarus ist gezwungen, einen Menschen zu empfangen, dem nicht nur die ukrainische, sondern auch die belarussische Unabhängigkeit keine Kopeke wert sind. Für den Brest höchstwahrscheinlich – wie auch Poltawa und Odessa – eine „russische Stadt“ ist. Den Moskau als Sturmbock für die Eroberung von Gebieten eines Nachbarstaates einsetzt, für die „Befreiung“ von Städten, „von russischen Menschen gegründet“. Die Glocke läutet, und dieses Läuten ist sehr besorgniserregend.