Sergej Bruschko (1958–2000) gehörte zu den bekanntesten Fotojournalisten seiner Heimat Belarus. Mit seiner Arbeit dokumentierte er nicht nur die Zeit des großen Umbruchs in der Zeit von Perestroika und Glasnost, er prägte sie mit seinen charaktervollen Fotografien, die Geschichten aus jener Zeit erzählen – Geschichten von Leid, Angst, Unabhängigkeit, Hoffnung und von der Kraft des Aufbruchs. Nikolaj Chalesin, der als Redakteur mit Bruschko zusammenarbeitete und später das Belarus Free Theatre gründete, urteilt: „Jede seiner Arbeiten ist eine komplette Geschichte, jedes Porträt ein Charakter, jedes Foto stellt eine ganze Epoche dar. Ich bin nicht prätentiös – es war unser Schicksal, an einem solchen Wendepunkt zu leben, an dem alles wichtig ist.“
Bruschko prägte aber nicht nur den belarussischen Fotojournalismus, sondern auch den Lebensweg seines Sohnes. Dimitri Bruschko trat schließlich in die Fußstapfen seines Vaters und wurde selbst Fotograf und Bildredakteur. Er hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, die Arbeit seines Vaters nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. So hat er aus dem umfangreichen Archiv ein Buch mit Fotos von Sergej Bruschko zusammengestellt, von denen dekoder eine Auswahl zeigt. Zudem haben wir Dimitri Bruschko befragt – über die Arbeit seines Vaters, über den Unabhängigkeitskampf der Belarussen, über Zeiten, die alles verändern können.
Fischverkäuferin auf dem Bahnhofsvorplatz. Minsk, Januar 1992 / Foto © Sergej Bruschko
dekoder: Warum haben Sie das Buch, das dem fotografischen Werk Ihres Vaters gewidmet ist, Smena (dt. Wechsel) genannt?
Dimitri Bruschko: Zunächst ist Smena ein Zeichen der Anerkennung für die Redaktion der belarussischsprachigen Zeitung Tschyrwonaja Smena, eine der progressiven und liberalen Redaktionen in Belarus zu Zeiten der Perestroika. Mein Vater hat in jenen Jahren, von denen in dem Buch erzählt wird, dort gearbeitet. Im Alltag wurde die Zeitung zwar Tschyrwonka, die Rote, genannt. Für den Kontext jener Zeit, für eine Erzählung über die Epoche, die Belarus die Unabhängigkeit schenkte, ist jedoch das Wort Smena wichtiger. Denn es bedeutet im Belarussischen wie im Russischen „Wechsel“, „Veränderung“ und bezeichnet den Zustand des Wandels, den es Ende der 1980er Jahre und Anfang der 1990er Jahre im gerade neu entstandenen Belarus gab. Damals erfolgten Veränderungsprozesse im Aufbau des Staates, ein Generationswechsel in der Verwaltung des Landes wie auch im Wirtschaftssystem; das Land öffnete sich zum ersten Mal dem Westen. Diese Zeit lässt sich als eine Ära des Umbruchs bezeichnen, in der die belarussische Geschichte eine ganz neue Wendung nahm.
Wie ist die Idee zu dem Buch entstanden?
Ungefähr 2017 fingen die lukaschenkotreuen Propagandisten in den staatlichen Medien an, davon zu reden, dass das unabhängige Belarus 1994 aus den Ruinen der UdSSR entstanden sei. Aber niemand sprach von den Gründen für den Zusammenbruch des Imperiums und dass das Land die Unabhängigkeit schon 1991 erlangt hatte. Die Propagandisten versuchen bis heute, jede Erinnerung aus der Geschichte zu streichen, die nicht mit der Herrschaft Lukaschenkos verknüpft ist.
Ich habe versucht, Bücher und Projekte zu finden, die über die Jahre 1988 bis 1994 berichten könnten, habe aber kein einziges finden können. Ich fand da Ausschnitte aus alten Zeitungen und ein paar Kulturprojekte, aber damit lässt sich der Gesamteindruck nicht wiedergeben. Deshalb beschloss ich, einen Fotoband zu machen, und zwar kein Album aus wohlkomponierten Fotografien in perfektem Licht, sondern ein Buch über eine Zeit, in der ein ganz neues Land entstand und die mein Vater mit seinen Fotos dokumentiert hat. Ich wollte, dass die Sprache des Narrativs dem Zeitungsstil nahekam, weil die Zeitungen damals die Informationsquelle waren, die für die Menschen am leichtesten zugänglich war. Deshalb weist das Buch viele Gestaltungselemente einer Zeitung auf. Anstelle von Texten mit Erläuterungen zur Zeit der Perestroika wollte ich lieber eine Reihe von Interviews und Erinnerungen über die Ereignisse und den Geist jener Zeit. Selbst die Farbe des Papiers sollte an den warmen Ton von Zeitungspapier erinnern.
Wie wurde Ihr Vater zum Foto-Chronisten einer Zeit, die nicht nur für Belarus so folgenreich war? Hatte das damals mit Glasnost zu tun?
Mein Vater wollte, nachdem er die Schule mit Auszeichnung abgeschlossen hatte, Geologe werden. Ihm fehlte bei den Zensuren lediglich ein einziger Punkt, um es auf die Universität zu schaffen, deshalb ging er auf eine Fachschule, um Fotograf zu werden. Später kam er zu einer regionalen Zeitung in Soligorsk, wollte aber unbedingt zu einer großen Zeitung und schickte seine Fotografien an überregionale Zeitungen in der Belarussischen SSR.
Man wurde auf ihn aufmerksam und bot ihm bei der Tschyrwonaja Smena in Minsk eine Stelle an. Minsk war zwar die Hauptstadt, aber auch verschlossen: Man konnte dort nur dann arbeiten, wenn man Bewohner der Stadt war oder eine Genehmigung einer Komsomol-Organisation hatte, die den Neuankömmling dann mit einer Wohnung zu versorgen hatte. Mein Vater erhielt beim Komsomol eine Absage und musste sich mit Hilfe von Schmiergeldern eine Meldebescheinigung in Minsk besorgen. Danach erst konnte er eine Stelle als Fotokorrespondent antreten.
Als er seine Arbeit begann, war die Zeit von Perestroika und Glasnost schon angebrochen. Allerdings war es noch zu früh, von Meinungsfreiheit zu sprechen. Alle Zeitungen befanden sich im Besitz des Staates und unterlagen der Zensur. Man konnte nicht einfach mit einer Geschichte über Wohnungsprobleme von Arbeitern oder zu wenig Schuhen in den Geschäften kommen. Solche Berichte mussten mit den Gremien der Kommunistischen Partei abgesprochen werden, was nicht immer gelang. Mitunter konnte man sich selbst bei einem ideologisch abgesicherten Thema eine Rüge der Parteileitung einhandeln. Ich erinnere mich, wie mein Vater zum Gespräch mit den Parteibürokraten vorgeladen wurde. Und zwar wegen eines Fotos von den Feierlichkeiten zum Tag des Sieges am 9. Mai, auf dem ein mit Orden dekorierter Veteran zu sehen war, der Bier trank. Diese Aufnahme passte einfach nicht zum Bild des Siegers in der staatlichen Propaganda.
Ihr Vater hat auch die menschlichen Folgen von Tschernobyl in den Vordergrund seiner Arbeit gestellt. War es damals womöglich etwas Neues, die Menschen als Individuen zu sehen?
Mein Vater war ein logisch denkender Mensch und er verstand sehr wohl die Dimensionen der Tragödie, die die Republik ereilt hatte. Für ihn war das keine Katastrophe aus technischem Versagen, sondern ein menschliches Drama. Er hatte einen beträchtlichen Teil seines Lebens auf dem Land gelebt und kannte die Psychologie der Menschen dort recht gut. In Belarus waren [von Tschernobyl] vor allem Dörfer und ihre Bewohner betroffen. Das Schicksal wollte es, dass ihm gerade in dieser Zeit klar wurde, dass die Fotografie seine Berufung ist. Er verstand die Tragödie der Menschen, und er hatte die Möglichkeit, dieses Thema mit seinen Fotos zu bearbeiten, weil er damals einen Ausweis als sowjetischer Fotokorrespondent in der Tasche hatte. Als Anhänger humanistischer Fotografie hat er dieses Thema einfach aufgreifen müssen.
War Ihr Vater jemand, der die Unabhängigkeit von Belarus unterstützt hat?
Natürlich hatte er seine Meinung zu den Ereignissen, die er fotografierte. Er war ein Verfechter der belarussischen Unabhängigkeit und dachte, dass nur die Bürger des eigenen Landes es zu einem prosperierenden Staat aufbauen können. Diese Ansicht mag vielleicht etwas naiv erscheinen, aber bei der Wahl zwischen Romantik und Pragmatismus hat er sich für das Erstere entschieden. Bei der Präsidentschaftswahl 1994 gab er seine Stimme Stanislaw Schuschkewitsch; er dachte, dass nur ein kluger und anständiger Mensch das Land lenken sollte. Die nächste Präsidentschaftswahl im Jahr 2001 hat er nicht mehr erlebt, war aber überzeugt, dass Lukaschenko entweder die Wahl verliert oder nach seiner zweiten Amtszeit abtritt. Die Wirklichkeit zeigt, dass es für den Willen zu herrschen keine Grenzen des Anstands gibt.
Wurden Sie durch Ihren Vater dazu inspiriert, selbst als Fotograf festzuhalten, wie die Belarussen auch unter Lukaschenko für ihre politische Emanzipation gekämpft haben?
Die Fotografien meines Vaters waren für mich ein Geschichtslehrbuch, in dem es keine Propaganda gab. In den Archiven befindet sich nicht nur eine Auswahl seiner besten Fotografien, sondern auch Arbeiten, durch die man verstehen kann, was während der Perestroika und in den ersten Jahren der Unabhängigkeit tatsächlich vor sich ging. Im Grunde war sein Archiv eine Art Grundlage für meine Entwicklung, nicht nur als Fotograf, sondern auch als Mensch. Die Fotografien an sich geben noch keine direkte Antwort darauf, was gut und was schlecht ist. Sie bringen einen aber dazu, Fragen zu stellen und die Antworten in sich selbst zu suchen.
Was haben Sie sonst von Ihrem Vater für die Arbeit als Fotograf gelernt?
Ich erinnere mich an zwei Regeln meines Vaters, die ich auch bei meiner Arbeit zu beherzigen versuche. Erstens: Bei der Arbeit muss man einen kühlen Kopf bewahren, aber das Herz sprechen lassen – auf keinen Fall umgekehrt. Das hat mir geholfen, in den schwierigsten Situationen von 2020 zu überleben. Als ich nämlich nicht nur die dramatischen Ereignisse um mich herum fotografieren wollte, sondern auch sehen musste, wie ich mit meiner Ausrüstung heil aus den Demonstrationen in der Stadt herauskomme; die glichen eher Kämpfen, bei denen auch Jagd auf Journalisten und ihre Fotoausrüstungen gemacht wurde. Die zweite Regel lautete: Fotografiere die Gerüche. Damit die Bilder nach Gefühlen riechen, nach Freiheit, Angst oder nach Hoffnung.
links: John Lennon-Mauer – eine öffentliche Gedenkstätte, die von Fans des Musikers errichtet wurde. Sie war Teil des Bauzauns am Palast der Republik. In Minsk, Platz des Oktober, 1990 / rechts: Teenager, 1992 / Fotos © Sergej Bruschko
Kontaktabzüge von einigen Fotos, ausgewählt von Sergej Bruschko. Solche Sets wurden für die Speicherung, Kategorisierung und Archivierung von Fotofilmen erstellt / Foto © Sergej Bruschko
Juri Martynow, Inspektor für Jugendangelegenheiten der Polizeidirektion des Moskauer Bezirks in Minsk bei einem Rundgang durch seinen Bezirk, Februar 1992 / Foto © Sergej Bruschko
Eine Schlange nach Milchprodukten. Minsk, 1991 / Foto © Sergej Bruschko
Eine Schlange nach Zigaretten an einem Zeitungskiosk. Rogatschow, 1990 / Foto © Sergej Bruschko
Im Zentrum von Aschmjany, 1989 / Foto © Sergej Bruschko
Streik von Minsker Fabrikarbeitern auf dem Lenin Platz gegen den starken Preisanstieg, organisiert von Gewerkschaften. Minsk, April 1991 / Foto © Sergej Bruschko
Kundgebung der Partei BNF vor dem KGB-Gebäude anlässlich des Jahrestages der Hinrichtung belarussischer Schriftsteller im Jahr 1937. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
Frauen-Strafkolonie in Gomel, 1991 / Foto © Sergej Bruschko
Das erste Treffen eines Häftlings in der Strafkolonie Mogiljow mit seinem Sohn. Mogiljow, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
Aufnahmezentrum für jugendliche Straftäter. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
Einberufung und Musterung neuer Rekruten. Militärkommissariat der Oblast Minsk, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
Einberufung und Musterung neuer Rekruten am Oblast-Militärkommissariat, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
Einberufung und Musterung neuer Rekruten am Oblast-Militärkommissariat, Platz der Freiheit. Minsk, 1989–1993 / Foto © Sergej Bruschko
Ein Fahrer sammelt in einer Pfütze Wasser, um damit den Kühler seines LKW zu befüllen. Bezirk Slawgorod, 1994 / Foto © Sergej Bruschko
Der alleinerziehende Vater Alexander Kalitenja und seine fünf Kinder. Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
Sommerliche Torfbrände in der Nähe von Minsk, 1992 / Foto © Sergej Bruschko
Umsiedlung von Einwohnern aus dem strahlenverseuchten Dorf Weprin, Bezirk Tscherikow, Oblast Mogiljow, April 1990 / Foto © Sergej Bruschko
Ehemalige Bewohner der strahlenverseuchten Dörfer Rawitschi und Koshuschki im Bezirk Choiniki besuchen die Gräber ihrer Angehörigen und ihre Häuser zum Totengedenktag Radunitsa. Oblast Gomel, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
Ehemalige Bewohner der strahlenverseuchten Dörfer Rawitschi und Koshuschki im Bezirk Choiniki besuchen die Gräber ihrer Angehörigen und ihre Häuser zum Totengedenktag Radunitsa. Oblast Gomel, 1993 / Foto © Sergej Bruschko
Kontaktabzüge von der besten Fotos, ausgewählt von Sergei Bruschko. Solche Sets wurden für die Speicherung, Kategorisierung und Archivierung von Fotofilmen erstellt / Foto © Sergej Bruschko
Fotos: Sergej Bruschko
Bildredaktion: Andy Heller
Interview: Ingo Petz
Übersetzung: Hartmut Schröder
Veröffentlicht am: 04.10.2022