Von allen Politikern, die im Zuge von Gorbatschows Perestroika und dem Zerfall der Sowjetunion ins öffentliche Leben von Belarus traten, ist Sjanon Pasnjak zweifellos die schillerndste Figur.
Nach der Krise und dem Zusammenbruch des totalitären kommunistischen Systems entstand die Nachfrage nach einem neuen, in der Sowjetunion bis dahin unbekannten Beruf: dem des öffentlichen Politikers. Pasnjak wurde dieser Nachfrage in vollem Umfang gerecht. Als kompromissloser Kämpfer für ein unabhängiges Belarus ist er in die Geschichte eingegangen. Wer ist dieser radikale Politiker? Was hat ihn geprägt? Welche Rolle spielt er im heutigen Belarus?
Sjanon Pasnjak wurde 1944 in einer katholischen Familie im Gebiet Hrodna geboren. Sein Großvater, Jan Pasnjak, war einer der Anführer der christlich-demokratischen Bewegung in West-Belarus, das in der Zwischenkriegszeit zu Polen gehörte. Pasnjaks Vater fiel im Zweiten Weltkrieg.
Bereits in jungen Jahren tat sich Pasnjak als Dissident hervor. Hier setzte sich offenbar die Familientradition des Großvaters fort, die der nationalen Wiedergeburt eine große Bedeutung beimaß und damit im Widerspruch zur offiziellen sowjetischen Politik der Verschmelzung aller Nationen um das russische Volk stand. Nach dem Schulabschluss studierte Pasnjak an der Minsker Hochschule für Theater und Kunst, von der er zwei Mal aufgrund „politischer Unzuverlässigkeit“ ausgeschlossen wurde. Er arbeitete als Fotograf und Archäologe, promovierte trotz allem in Kunstgeschichte. Nebenbei gab er Texte im Samisdat heraus. Seit den 1960er Jahren setzte er sich aktiv für den Erhalt der historischen Bausubstanz in Minsk ein, dessen Altstadt von der Sowjetmacht Stück für Stück zerstört wurde.
Der Erneuerer der belarussischen Nationalbewegung
Pasnjaks Sternstunde kam mit Gorbatschows Perestroika. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde sein Name zum ersten Mal bekannt, als er am 3. Juni 1988 in der Zeitschrift Litaratura i mastaztwa [dt. Literatur und Kunst] den Artikel Kurapaty – Daroha smerci [dt. Kurapaty – Straße des Todes] veröffentlichte, in dem es um die Erschießung tausender Bürger in einem Minsker Vorort während der Stalinära ging.
Zur Zeit der Perestroika war die Enthüllung der stalinistischen Verbrechen zur ideologischen Grundlage für die Diskreditierung des sowjetischen Systems überhaupt geworden. Die Befürworter von demokratischen Reformen nutzten die Tatbestände aktiv, um die Notwendigkeit eines Wandels zu begründen. Pasnjak verstand, dass seine Zeit gekommen war und es eine reelle Chance gab, seine Ideen in die Praxis umzusetzen. Also trat er aktiv in den politischen Kampf ein. Er wurde zu einem der Organisatoren der Belarussischen Volksfront (BNF), der wichtigsten Oppositionskraft in Belarus Ende der 1980er/Anfang der 1990er Jahre. Gorbatschows Perestroika eröffnete die Möglichkeit, verhältnismäßig freie Wahlen durchzuführen. Die Unionsrepubliken der UdSSR erhielten mehr und mehr Souveränität. Die reale Macht ging auf die Parlamente der Republiken über, die Obersten Sowjets. 1990 fanden in Belarus die Wahlen zum 12. Obersten Sowjet der BSSR statt, erstmals unter den neuen Bedingungen. Die BNF konnte mit rund 30 Abgeordneten ins Parlament einziehen, darunter auch Pasnjak, der in seinem Wahlkreis in Minsk gesiegt hatte. Er übernahm den Vorsitz der Oppositionsfraktion der BNF im Obersten Sowjet der BSSR. Die Fraktion setzte sich nicht nur für die rasche Umsetzung demokratischer Reformen ein, sondern auch für den Austritt aus der Sowjetunion und damit für die vollkommene Unabhängigkeit von Belarus.
Im Rahmen der von Michail Gorbatschow ausgerufenen Politik der Glasnost wurden damals die Parlamentsdebatten live im Fernsehen übertragen, wodurch Pasnjaks Name in Belarus weite Bekanntheit erlangte. Mehrere Jahre lang war er der unbestrittene Führer der Opposition, Symbol der antikommunistischen Bewegung und der nationalen Wiedergeburt.
Unter den Bedingungen der akuten politischen Krise und der Ratlosigkeit der kommunistischen Nomenklatura, die Belarus regierte, konnte die kleine Fraktion der BNF die Tagesordnung im Obersten Sowjet bestimmen und initiierte immer neue Schritte in Richtung Demokratisierung der Republik und der Unabhängigkeit von der UdSSR. Die Rolle der BNF und Pasnjaks bei der Demontage des totalitären Systems und der Proklamierung der belarussischen Souveränität kann nicht hoch genug bewertet werden. Als begabter Redner und Publizist erschuf er sich ein Image des kompromisslosen Kämpfers für ein unabhängiges Belarus. Er formulierte das Konzept des belarussischen Nationalismus und der belarussischen Staatlichkeit. Der bekannte belarussische Schriftsteller Wassil Bykau sagte auf dem 3. Parteitag der BNF: „Die Nation kann sich glücklich schätzen, dass Gott ihr Sjanon Stanislawowitsch Pasnjak als Anführer gesandt hat.“
Sjanon Pasnjak (am Mikrophon) und Alexander Lukaschenko (verdeckt hinter dem rechten Bannerhalter) bei einer Kundgebung in Mogiljow im Jahr 1990 / Foto © facebook.com/siarhiej.navumchyk
Nach dem Zerfall der UdSSR und der Ausrufung der Unabhängigkeit von Belarus blieb die Macht in den Händen der alten Nomenklatura. Die BNF blieb in der Opposition. Wie alle neu entstandenen Staaten im postsowjetischen Raum steckte auch Belarus in einer tiefen sozialen Krise. Unter diesem Vorzeichen fanden 1994 die Präsidentschaftswahlen statt. Sechs Personen kandidierten damals für das Amt des Präsidenten, darunter auch Sjanon Pasnjak. Er erhielt 12,82 Prozent der Stimmen. Die Wahl gewann Alexander Lukaschenko.
Im Kampf gegen die Rückkehr der Diktatur
Nach seinem Amtsantritt begann Lukaschenko, die demokratischen Institutionen, die nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems geschaffen worden waren, wieder zu demontieren und den Übergang zur Diktatur, dem Regime der persönlichen Macht, zu vollziehen. Am 11. April 1995 trat Sjanon Pasnjak gemeinsam mit 18 weiteren Abgeordneten der oppositionellen BNF in den Hungerstreik, um gegen das von Lukaschenko initiierte Referendum zu protestieren, das die Wiedereinführung des Russischen als zweite Staatssprache und die Wiederkehr der sowjetischen Staatssymbolik vorsah. Die Protestierenden sahen darin einen Gesetzesbruch und blieben nach Ende des Arbeitstages im Parlamentsgebäude. Nachts kamen Spezialeinheiten der Miliz und Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes des Präsidenten ins Gebäude. Sie schlugen die Abgeordneten und zerrten sie mit Gewalt hinaus. Dabei versuchten sie, Pasnjak die Augen auszustechen, traten ihm vor die Brust und schlugen seinen Kopf gegen die Wand. So erfuhren die Abgeordneten der Opposition am eigenen Leibe, wie die Diktatur Form annahm.
1995 fanden die Wahlen zum 13. Obersten Sowjet statt. Kein einziger Abgeordneter der BNF schaffte es ins Parlament. Obwohl Pasnjak in seinem Wahlkreis 47 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, während sein Gegner 40 Prozent holte und 13 Prozent gegen beide Kandidaten stimmten. Nach dem Gesetz ist derjenige gewählt, der mehr als 50 Prozent der Stimmen erhält. Später stellte sich heraus, dass die Wahlergebnisse gefälscht wurden, wie die Zentrale Wahlkommission auch zugab. Dass eine so große Zahl von Wählern gegen beide Kandidaten stimmte, war zu auffällig. Normalerweise stimmen ein bis zwei Prozent gegen beide Kandidaten. Der Einzug von Pasnjak in den Sowjet sollte also verhindert werden.
Nachdem sie den Rückhalt im Parlament verloren hatte, rief die BNF das Volk zu Protestaktionen auf den Straßen auf. Pasnjak war einer der Hauptorganisatoren dieser Proteste. Der Frühling 1996 wurde sehr turbulent, es gab ernsthafte Zusammenstöße zwischen den Demonstranten und der Miliz. Eine ernste politische Krise zeichnete sich ab, die von Lukaschenkos Bestrebungen, ein autoritäres Regime zu errichten, nur noch verschärft wurde. Er fürchtete die organisierte politische Kraft, die die BNF damals darstellte, und ihren beliebten charismatischen Anführer. Lukaschenkos Antwort darauf waren politische Repressionen.
Pasnjak sollte für die Organisation „gesetzwidriger“ Kundgebungen strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden. Um einer Verhaftung zu entgehen, musste Pasnjak im Frühjahr 1996 Belarus verlassen und erhielt schließlich gemeinsam mit seinem Oppositionskollegen Sjarhei Nawumtschyk politisches Asyl in den USA. Es war das erste Mal seit dem Zerfall der UdSSR, dass Staatsangehörige aus dem postsowjetischen Raum diesen Status aus politischen Gründen erhielten. Seitdem lebt Sjanon Pasnjak im Exil.
Insgesamt bedeuteten die Präsidentschaftswahlen 1994 und die Parlamentswahlen 1995 eine schwere Niederlage für die Belarussische Volksfront. Die belarussische Gesellschaft der 1990er Jahre war nicht bereit, die Ideologie des ethnokulturellen Nationalismus anzunehmen, den die BNF vertrat, sondern hing nostalgisch der Sowjetzeit nach. Parallel dazu hatten einige Besonderheiten in Pasnjaks Charakter – als Mensch wie als Politiker – eine negative Rolle gespielt. Der Vorsitzende der BNF war ein klassischer Idealist, ein Ideenfanatiker, ein Prophet, aber kein pragmatischer Politiker. Er war eher zum Vorsteher einer orthodoxen religiösen Sekte geeignet als zum Anführer einer politischen Partei. Der Glaube an die eigene Messiasrolle und Unfehlbarkeit, die Nichtakzeptanz von Andersdenkenden, das Kategorische gegenüber seinen Opponenten stießen viele Menschen ab. Alle, die nicht seiner Meinung waren, betrachtete Pasnjak als Agenten des belarussischen KGB oder des russischen FSB. Seine Unfähigkeit zu Kompromissen verhinderte die Bildung breiter Allianzen.
Charakteristisch für Pasnjaks Ideologie ist die Fetischisierung, die Absolutsetzung der nationalen Idee, ihre Erhebung zum Kult. Er stellt eine direkte Verbindung zwischen der belarussischen Wiedergeburt und dem Grad der gesellschaftlichen Moral her („Wo man Belarussisch spricht, gibt es keine Halunken“1). Pasnjak ist zudem für seine schroff ablehnende Haltung gegenüber Russland bekannt. 1994 schrieb er seinen bekannten Artikel Über den russischen Imperialismus und seine Gefahren, in dem er Russland als das absolut Böse zeichnete. Seiner Meinung nach gingen alle Nöte und Leiden von Belarus, vom Bolschewismus bis zur Inflation [der 1990er Jahre – Anm. dek], von der Russischen Föderation aus. Pasnjak zufolge habe der „verkommene, zerstörerische imperiale Osten“ negative Eigenschaften wie „Rüpelei, Unzucht, Sauferei, russische Fäkalsprache, Faulheit, Hass und Lüge“2 nach Belarus gebracht. In seiner Charakterisierung der russischen Politik als der eines „feindlichen Staates, der sich im Kriegszustand mit Belarus befindet“, nahm Pasnjak kein Blatt vor den Mund und bezeichnete Russland als „blutige Bestie“3. Weil jedoch in Belarus prorussische Einstellungen überwogen, wurde eine derart harte antirussische Position von der Mehrheit der Belarussen schlecht aufgenommen.
Der radikale Oppositionelle im Exil
Aber Pasnjak war nicht nur Russland gegenüber negativ eingestellt, sondern auch dem Westen und seinen Werten gegenüber, vor allem dem Liberalismus. Er lehnte das Prinzip des Vorrangs der Menschenrechte vor den Rechten der Nation ab und vertrat die Meinung, das habe den westlichen Staaten geschadet. Sein radikaler Konservatismus erlaubte auch keine Toleranz gegenüber der LGBT-Bewegung. „In einer normalen, zivilisierten Gesellschaft kann und wird es keine Erotik geben“, konstatierte Pasnjak. Im belarussischen patriarchal geprägten Dorf habe sich der Mann nachts mit der Frau „mit der natürlichen Fortführung des Menschengeschlechts beschäftigt, ohne irgendwelche Erotik“, all das sei „Teufelszeug“.4 Auch in der Außenpolitik der USA und der EU-Staaten erkannte er eigennützige Motive. Er sah eine „Ruchlosigkeit der Politik, wie im Osten, so auch im Westen“5 gegenüber Belarus. Konfrontiert mit der Ablehnung seiner Ansichten in der Gesellschaft, bezeichnete Pasnjak die Belarussen schließlich selbst als „ein krankes Volk“6.
Den größten Teil seiner Zeit im Exil verbrachte Pasnjak in Polen. Nach seiner Ausreise schrumpfte sein politischer Einfluss sehr schnell. Lediglich in einer kleinen Gruppe von Unterstützern konnte er seine Popularität aufrechterhalten. Die vielen politischen Niederlagen und die Emigration ihres Vorsitzenden riefen in der BNF eine Krise hervor. 1999 kam es zur Spaltung der Partei. Pasnjak wurde von seinen früheren Mitstreitern Autoritarismus vorgeworfen. Gemeinsam mit einem Teil der BNF-Mitglieder gründete er die Konservativ-Christliche Partei – BNF (KChP-BNF) und übernahm deren Vorsitz.
In den vergangenen 20 Jahren boykottierten Pasnjak und seine Partei so gut wie alle Wahlen, die in Belarus stattfanden. Die KChP-BNF lehnte jegliche Bündnisse und Koalitionen ab. Pasnjaks Treffen mit europäischen Politikern reduzierten sich auf ein Minimum. Man kann von einer Selbstisolation der Partei und ihres Vorsitzenden sprechen. Pasnjaks gesamte politische Tätigkeit im Exil bestand im Grunde aus Artikeln, Erklärungen und Kommentaren auf der Internetseite der Partei. Er erinnerte mehr an einen politischen Beobachter als an einen Politiker. Nebenbei veröffentlichte er eine Sammlung publizistischer Texte sowie Gedicht- und Fotobände.
Sjanon Pasnjak (Mitte) bei einem Besuch des belarussischen Kalinouski-Regiments Anfang 2023 in Bachmut / Foto © t.me/belwarriors
Den Ausbruch der nationalen Proteste im Jahr 2020 bewertete Pasnjak widersprüchlich. Lukaschenkos wichtigsten Gegner zu Beginn der Präsidentschaftswahlkampagne, den Chef der Belgazprombank Viktor Babariko, bezeichnete er als russischen Agenten und postulierte: „Babariko ist heute ein potentiell gefährlicherer Feind für die belarussische Nation als Lukaschenko“7. Swetlana Tichanowskaja erhielt zunächst positive Beurteilungen von Pasnjak, er nannte sie den „einzigen positiven Menschen“ unter den Kandidaten. Er rief sie dazu auf, die Wahlen zu boykottieren. Später machte Pasnjak Tichanowskaja für alles Mögliche verantwortlich. Im Interview mit dem Portal Zerkalo am 26. April 2023 äußerte er sich beispielsweise folgendermaßen: „Was Swetlana Tichanowskaja angeht, so ist das zunächst einmal ein Moskauer Projekt“; „sie wurde von Spezialkräften angeworben“; „Tichanowskaja hat damals die Wahlen durch Tricksereien gefälscht“; „ihr Handeln verursacht nicht nur politischen Schaden, sondern stellt eine kriminelle Ansammlung von Verbrechen dar“; „sie ist Belarus feindlich gesinnt“; „die politischen Gefangenen haben ihre Haft größtenteils Swetlana Tichanowskaja und ihren Leuten zu verdanken“.8
Pasnjak bezieht andererseits entschieden Position gegen die westlichen Sanktionen gegen Lukaschenkos Regime, da sie seiner Ansicht nach Belarus in Russlands Arme drängen. Zuletzt interessierte sich die demokratische Bewegung in Belarus wieder stärker für Pasnjak. Einige bekannte Persönlichkeiten schüttelten ihm medienwirksam die Hand. Das hängt damit zusammen, dass die Niederschlagung der Proteste, die Festigung des Lukaschenko-Regimes und die Ausweitung der massenhaften Repressionen ein Interesse an Radikalisierung in der Gesellschaft wachgerufen haben; die friedlichen Methoden des Kampfes werden zunehmend in Frage gestellt und Pasnjaks Radikalität ist wieder gefragt. Doch dabei handelt es sich um ein temporäres Phänomen. Denn Sjanon Pasnjak ist für Belarus eher eine Person der Geschichte als der zeitgenössischen Politik.