Auch vergangenen Sonntag, am 22. November 2020, gingen die Belarussen beim Marsch gegen den Faschismus wieder auf die Straße, um gegen Machthaber Alexander Lukaschenko zu protestieren. In der Hauptstadt Minsk hatten sich die Demonstranten eine andere Taktik ausgedacht, um der Strategie der Aufreibung durch OMON und andere Spezialeinheiten entgegenzuwirken. Diesmal formierten sich die Bewohner in den Bezirken selbst zu Kolonnen, waren ausschließlich in ihren Rajony unterwegs und zielten nicht darauf ab, sich im Zentrum mit anderen Menschenmengen zusammenzuschließen. Dennoch wurden fast 400 Personen festgenommen. Seit Monaten scheint das Regime nur eine Art der Konfliktlösung zu verfolgen: den der Gewalt und der Repressionen. Über diesen eindimensionalen Weg sagte die Belaruskennerin Astrid Sahm in einem Interview mit der Deutschen Welle: „Aber wenn dies der einzige Schritt ist, dann ist es ein Schritt ins Nirgendwo.“
Lukaschenko hat seit August, als die Proteste im Zuge der Präsidentschaftswahl an Fahrt aufnahmen, auch immer wieder Dialogangebote oder Verfassungsreformen in den Raum gestellt. Für Januar ist eine sogenannte Allbelarussische Volksversammlung angekündigt, die Lösungsvorschläge erörtern soll. Gleichzeitig hat Lukaschenko häufig betont, dass er seinen Posten, den er bereits seit 1994 innehat, nicht freiwillig räumen werde. Sind die Dialogangebote von Seiten Lukaschenkos also ernst zu nehmen? Verstehen Machtvertikale und Silowiki-Strukturen überhaupt, wie ernst die Lage ist? Wie geht es weiter in Belarus?
Diesen Fragen geht der renommierte Analytiker und Journalist Alexander Klaskowski in einem Beitrag für das belarussische Internetportal Naviny nach. Dabei zeigt er auch auf, wie umfassend und tiefgreifend die Krise in Belarus tatsächlich ist.
„Ich werde diesen Posten verlassen, wenn es an der Zeit ist. Wozu denn ‚sofort‘? ‚Sofort‘ ist gefährlich. Mit Verabschiedung der Verfassung und so weiter plane ich jetzt präzise und fristgemäß auf einer landesweiten Volksversammlung öffentlich zu erklären, wie und unter welchen Umständen wir weiter vorgehen“, erklärte Lukaschenko.
Mit wem will sich der Machthaber einigen?
Der Mann, der seit 27 Jahren [sic!] an der Macht ist, hatte vor nicht allzu langer Zeit schon einmal eingestanden, er würde „schon ein wenig zu lange auf diesem Posten sitzen“. Darüber, dass er die Macht satthabe, lamentiert er seit Anfang der 2000er Jahre. Nur ist nach seiner Auslegung nie der richtige Zeitpunkt, um zu gehen, weil innere und äußere Feinde das Land bedrohen. Obendrein ist der Machthaber ja großherzig und will seine Gefährten nicht den Wölfen zum Fraß vorwerfen.
Diese Haltung klang auch in einem Interview vom 13. November an: „Außer Belarus habe ich nichts. Ich habe mich daran festgeklammert und lasse es nicht los. Weil ich weiß, was ihm zustoßen könnte. Und ihr auch, ihr wisst, was ihm zustoßen wird. Ich kann die Menschen nicht verraten und im Stich lassen.“
Nun ja, er sitzt dort schon zu lange, andererseits hat er Angst ums Land. Was ist die Lösung? Nach Auffassung des Machthabers „muss man sich in Ruhe einigen. Beim Abgang Lukaschenkos möge im Land Ruhe und Frieden herrschen. Alle Regierungsorgane mögen funktionieren. Es bedarf einer friedlichen und ruhigen Atmosphäre. Und fair möge es sein. Wählt das Volk diesen, so soll er es sein, wählt es jenen, so soll es jener sein ...“
Gut, aber mit wem will sich Lukaschenko einigen? Er äußerte sich positiv über die Initiative von Juri Woskressenski, der aus der Untersuchungshaft des KGB entlassen wurde: Der habe „schon ein paar Dutzend Leute um sich versammelt, die an dem Dialog teilnehmen werden“. Lukaschenko versprach, sich mit ihnen zu treffen.
Damit nannte er Punkte eines Projekts, hinter dem selbst ein Blinder den Geheimdienst sieht: ein Pseudodialog mit einer Pseudoopposition. Gleichzeitig verkündete der Machthaber, „mit Verrätern und Terroristen“ sei er zu keinem Dialog bereit. Unter diese Kategorie fallen offensichtlich alle, die beim Projekt „Woskressenski“ nicht mitmachen wollen.
Auch den Dialog mit seiner wichtigsten Gegnerin Swetlana Tichanowskaja hat Lukaschenko abgelehnt: „Was soll ich mit einem Menschen besprechen, der mich gebeten hat: ‚Helfen Sie mir, Belarus zu verlassen, ich möchte zu meinen Kindern (sie hatte ihre Kinder vorsorglich nach Litauen geschickt).‘ Sie hat Belarus verlassen und schadet dem Land mit allen Mitteln. Was soll ich mit ihr besprechen? Wir haben keine gemeinsamen Themen.“
Wer soll denn das Affentheater glauben?
Lassen wir die Frage beiseite, warum Tichanowskaja in Vilnius ist (laut ihren Bekannten war sie schwerster Erpressung durch ranghohe Sicherheitsbeamte ausgesetzt).
Wie dem auch sei, es gibt genug Beweise, dass am 9. August 2020 Millionen Belarussen für Tichanowskaja gestimmt haben. Sie vom Dialog auszuschließen, bedeutet, den Willen dieser Millionen Bürger zu ignorieren, die immer noch in Belarus sind und sich nicht damit abfinden werden, dass man ihre Stimmen stiehlt.
Gleichzeitig werden die Protestierenden dämonisiert, als Radikale oder Abfall der Gesellschaft verunglimpft. Hier widerspricht sich Lukaschenko allerdings selbst, wenn er im selben Atemzug verkündet, es gingen nur Bewohner aus Luxusbezirken auf die Straße, die völlig übersättigt seien. So oder so werden auch diese Menschen vom Dialog ausgeschlossen. Wie kann dann überhaupt noch von einer Befriedung der Gesellschaft die Rede sein?
„Sie sollten Protestierende nicht mit Oppositionellen verwechseln. Die haben nichts gemeinsam“, erklärte Lukaschenko. Er plant also eine gemütliche Zusammenkunft unter Gleichgesinnten, und zur Augenwischerei sind ein paar Pseudo-Oppositionelle (mittlerweile sicher Spitzel beim Geheimdienst) mit von der Partie. Aber wer soll diesem Affentheater glauben?
Weiterhin setzt er immer noch auf die einzig dekorativen Zwecken dienende Allbelarussische Volksversammlung, in der es gar keinen Widerstand gegen seinen Verfassungsentwurf geben kann. Anders gesagt: Lukaschenko will die neue Verfassung in tiefstem Eigeninteresse schreiben.
Ein Referendum unter Machtmissbrauch und Willkür?
Zugegeben, der Machthaber verspricht Befugnisse abzugeben, einige davon sogar schon jetzt: „Wir haben 57 oder 70 Befugnisse des Präsidenten gezählt, die nach der jetzigen Verfassung auch anderen Regierungsorganen überantwortet werden können.“ Schon die Zahl dieser großzügig abzugebenden Befugnisse lässt vermuten, dass es sich dabei um Peanuts handelt.
Zudem soll die neue Verfassung durch ein Referendum bestätigt werden. Wohlgemerkt unter demselben Regime, das nicht einmal mehr seine eigenen, oftmals drakonischen Gesetze ausführt. Mit derselben Zentralen Wahlkommission, die zu 120 Prozent von Lukaschenko kontrolliert wird. Und höchstwahrscheinlich nach demselben Muster des Machtmissbrauchs wie die letzte Präsidentschaftswahl. Denn anders könnte Lukaschenko kein Referendum gewinnen, wenn man bedenkt, wie viele Belarussen seine Politik ablehnen.
Hält man das Referendum allerdings unter Machtmissbrauch und Willkür ab, könnte eine noch größere Protestwelle folgen. Zum anderen wäre eine Verfassung, die Lukaschenko durchbringt, indem er die Meinungsfreiheit erstickt, wertlos und sicher kein Ausweg aus der innenpolitischen Krise.
Aus Lukaschenkos Aussagen vom 13. November geht außerdem klar hervor, dass die Repressionen nicht aufhören werden. Er prophezeit eine Wirtschaftskrise und einen heißen Frühling. Was mit der Wirtschaft zu tun ist, davon hat der Machthaber keine Ahnung, aber den heißen Frühling will er mit allen Mitteln verhindern.
„Es ebbt ab – sie brauchen gewichtige Ereignisse, um die Proteststimmung wieder anzuheizen und bis zum Frühling durchzuhalten, wie sie es vorhatten. Aber wir werden säubern, wir werden sie finden – wir kennen jeden einzelnen von ihnen“, versprach Lukaschenko. Wenn das mal keine Einladung zum Dialog ist!
Was will die Gesellschaft nur bloß?
Wichtig ist außerdem, dass Lukaschenko die Ereignisse im Land als einen vom Ausland befeuerten Aufstand darstellt. Er versichert, seine politischen Gegner wollten „Belarus zu einer Provinz Polens machen“. Während in ausländischen Zentren, die für Aufruhr sorgten, Amerikaner säßen, „die leider ein zweites Zentrum in der Ukraine errichtet haben. Damit sie gegen Belarus arbeiten können. Aber wir haben dieses Zentrum im Blick“.
Die Interviewer haben leider nicht nachgehakt, was denn aus den militärischen Ausbildungszentren bei Pskow und Newel geworden sei, von denen die Silowiki vor den Wahlen gesprochen hatten. Damals kursierte noch die Legende, dass die Strippenzieher im imperialen Russland säßen. Und wohin sind eigentlich die zweihundert russischen Soldaten verschwunden, die sich angeblich in den belarussischen Wäldern versteckten?
Aber wir wollen uns nicht an Details hochziehen. Wichtig ist hier die Denkweise. Lukaschenko und seine Clique halten es scheinbar für ausgeschlossen, dass die Belarussen ohne Strippenzieher etwas ganz Grundlegendes wollen, wovon schon Kupala vor hundert Jahren schrieb: „Sich Mensch Nennen.“
In einem Interview erklärte Lukaschenko, in Belarus hätte es keine Gründe für Protest gegeben, nichts hätte auf ihn hingedeutet. Das zeugt davon, dass die Machthaber so in ihre Verschwörungstheorien verstrickt sind, dass sie die Gründe für die innenpolitische Krise und den Kern der Forderungen der Avantgarde (mittlerweile allerdings schon der Mehrheit) der Gesellschaft tatsächlich nicht verstehen. Bei einer solchen Diskrepanz der Auffassungen dürfte es grundsätzlich schwierig werden, sich auf einen Ausweg aus der Krise zu einigen.
Lukaschenko und einige seiner hochrangigen Amtsträger (Natalja Kotschanowa, Wladimir Karanik und andere) scheinen aufrichtig nicht zu begreifen, warum diese wohlgenährten Menschen, die nicht in Lumpen herumlaufen, protestieren? Was wollen sie noch? Offenbar hat den Leuten in der Führungsriege nie jemand Maslows Pyramide auf den Schreibtisch gestellt. Weder im Weltbild noch im Wortschatz von Lukaschenko und seinem Umfeld gibt es den Begriff der Freiheit.
Deswegen ist das heutige, nennen wir es, mit Verlaub, Establishment per se gar nicht in der Lage den Forderungen nach einem Wandel gerecht zu werden. Es sieht den Ausweg in der Erstickung dieser Forderung. Eine lästige Angelegenheit.
Der Wandel wird sehr dramatisch
„Auf den Bajonetten der NATO in Belarus wird das Glück des belarussischen Volkes nicht gründen“, erklärte Lukaschenko in belehrendem Ton. Ja – aber auf den Gummiknüppeln der OMON wird solches Glück erst recht nicht gründen.
Auf Gummiknüppel zu setzen (zudem das Wirtschaftssystem vor die Wand gefahren ist) bedeutet, dass Belarus auch fürderhin zittern und schütteln wird. Und Lukaschenko wird es immer so vorkommen, dass es nicht an der Zeit ist zu gehen.
In dem Interview am 13. November hat er dargelegt : „Was, wenn es keinen Lukaschenko geben würde? Dann würde heute niemand dieses Land zusammenhalten. Es würde in Stücke gerissen.“
Er hat sich allerdings verplappert, dass er „unter ruhigen, friedlichen Umständen“ bereit sei, „nach Russland zu gehen“, um dort „zu leben und zu arbeiten“. Doch es sieht so aus, als hätte er das um der schönen Worte willen gesagt, denn anschließend war zu hören: „Doch Ihnen wird klar sein, was dann mit ihnen (das ist zu übersetzen als: seinen Mitstreitern, Anhängern, Staatsbeamten, Silowiki und so weiter – A. K.) passiert? Sie werden in Stücke gerissen.“
Wir stecken hier in einer Sackgasse. Das Regime baut auf eine Befriedung der Gesellschaft mit Hilfe von Repressionen. Doch Tatsache ist, je länger und brutaler sie sind, desto mehr Zorn wird sich in der Gesellschaft anhäufen. Und desto schärfer und unentrinnbarer wird die Angst der Machtelite, der Silowiki (und nicht nur sie – derzeit sind alle staatlichen Strukturen an den Repressionen beteiligt) vor Vergeltung.
Unter Lukaschenko ist keinerlei Stabilität mehr möglich. Auch Vertrauen in den morgigen Tag wird es mit ihm nicht mehr geben. Die Perspektive, dass er politischen Gegnern Platz machen, dass es eine ernsthafte (und keine, wie jetzt geplante, dekorative) Erneuerung des politischen Systems, einen Machtwechsel geben wird, wird sich zu einer Katastrophe auswachsen.
Und wenn er emotional erklärt: „Kein Machtwechsel! Keine Amtsnachfolger!“, dann wirkt es so, als wolle er den ekelhaften Gedanken verjagen, dass er irgendwann irgendwem seinen Sessel wird überlassen müssen. Er ist zu verliebt in die Macht, zu misstrauisch und hat zu große Angst um seine und seiner Nächsten Sicherheit im Falle seines Abtretens.
Und das heißt, dass der Wandel in Belarus sehr dramatisch wird.