Allein am vergangenen Sonntag, beim Marsch der Volksmacht, hat der Machtapparat von Alexander Lukaschenko über 1000 Menschen festgenommen, wie Menschenrechtsorganisationen berichten. Insgesamt wurden mehr als 18.000 Menschen seit dem Tag der Präsidentschaftswahl am 9. August und der nachfolgenden Proteste in Gewahrsam genommen oder inhaftiert. Die Belarussen demonstrieren seit über drei Monaten gegen die exzessive Gewalt, für ihre Grundrechte und für Neuwahlen.
Auch Jelena Lewtschenko verbrachte 15 Tage im Okrestina Gefängnis von Minsk. Sie wurde für die „Teilnahme an einer nicht genehmigten Massenveranstaltung“ verurteilt. Die 37-Jährige gehört als Basketballerin zu den berühmtesten Sportlerinnen des Landes. Am 30. September war sie am internationalen Flughafen von Minsk festgenommen worden. Wie sie kritisieren mittlerweile auch zahlreiche andere bekannte Sportler und Sportlerinnen die Gewalt gegen die Demonstranten und Demonstrantinnen und fordern Neuwahlen. Das Regime reagiert darauf nicht nur mit Haft- und Geldstrafen, sondern auch mit Kündigung der staatlichen Unterstützungsleistungen. Viele verlieren ihren Platz in den Nationalteams.
Über die alltäglichen Formen der Erniedrigung und der Manipulation in der Haft, darüber, wie sich die Insassen versuchen zu widersetzen, warum Jelena Lewtschenko selbst infolge der Proteste derart politisiert wurde – darüber sprach sie mit dem russischen Nachrichtenportal Meduza.
Alexandra Siwzowa: Wo sind Sie zur Zeit?
Jelena Lewtschenko: Vor ein paar Tagen bin ich in Athen angekommen. Ich wollte schon im September hierher fliegen, bin aber am Flughafen verhaftet worden. Ich mache hier eine Reha, und es gibt die Möglichkeit, mit einem Team zu trainieren.
Wie wurden Sie verhaftet?
Ich hatte es noch nicht mal bis zum Check-in geschafft. Ich war gerade dabei, meine Taschen in Folie zu packen – da bemerke ich, wie mir jemand auf die Schulter klopft. Ich sehe zwei Milizionäre. Sie grüßen und sagen, dass sie mich wegen der Teilnahme an nicht genehmigten Kundgebungen verhaften müssen. Ich hatte das erwartet – aktuell ist es das Gängigste, wofür man in Belarus festgenommen wird.
Haben Sie geahnt, dass man Sie verhaften könnte?
Wenn sie gewollt hätten, hätten sie mich schon frühmorgens festnehmen können, oder auch am Vorabend. Ich habe es also nicht direkt erwartet. Ich war unter Schock, aber ich habe sie angelächelt. Ich habe sofort gebeten, meinen Anwalt und meine Mutter anrufen zu können. Schon als ich auf das Flughafengelände fuhr, war mir ein Auto der Miliz aufgefallen. Es stand entgegen der Fahrtrichtung, so konnten sie beobachten, wer in den Flughafen fuhr. Wie mir später klar wurde, wurde dann weitergegeben, wer das Gelände betrat. Ich fragte mich: „Warum haben die das nicht schon früher gemacht? Damit wenigstens das Gepäck nicht vollends eingewickelt würde.“ Offensichtlich haben sie den letzten Moment abgewartet – die Verhaftung war demonstrativ: Immerhin mussten sie 45 Kilometer zum Flughafen fahren, und dann dieselbe Strecke wieder zurück.
Ich war ja noch nie im Gefängnis –
Gott bewahre, dass das noch mal geschieht
Sie wurden dann sofort in das Gefängnis in der Uliza Okrestina gebracht?
Nein, zuerst zum RUWD, dem Revier der Miliz im Leninski Rajon. Dort sprach ein Mann namens Iwan Alexandrowitsch Skorochodow mit mir – seine Position ist mir nicht bekannt; aber später stellte sich heraus, dass er Zeuge war in meinem Fall, obwohl er nicht vor Gericht erschien.
Ich bat ihn, meinen Anwalt zu kontaktieren. Er sagte, dass er das noch nicht machen könne. Als ich dann ins Okrestina Gefängnis kam, bot er mir an, den Anwalt anzurufen, wenn ich denn die Tastensperre aufheben, die Nummer wählen und es ihm sofort reichen würde. Ich lehnte ab, weil ich wusste, dass er das Telefon hätte einstecken können – und ich es nicht mehr wiedergesehen hätte.
Beschreiben Sie Ihren ersten Tag in der Haft.
Am ersten Tag [im Revier] kam ich in eine Zelle für zwei Personen. Es war bereits eine Frau dort. In der Zelle stand ein Etagenbett, Matratzen gab es nicht, dafür bekam ich Bettwäsche. Man sagte, dass ich wahrscheinlich einen Tag hierbleiben würde, ich würde eine Geldstrafe zahlen müssen und würde dann entlassen. Erst später habe ich herausgefunden, dass sie das allen sagen. Der Prozess fand am selben Tag statt. Als ich so dalag und auf den Beginn der Verhandlung wartete, hörte ich plötzlich, wie Frauen in anderen Zellen begannen, Grai und Kupalinka zu singen. Ich stimmte ein und weinte natürlich augenblicklich los. Es war so berührend, ich hatte das Gefühl, dass wir – sogar im Gefängnis – alle zusammen sind.
Als wir zu Ende gesungen hatten, klatschten alle los. Das werde ich nie vergessen. Dann kam der Prozess, ich bekam 15 Tage, und am nächsten Tag wurde ich in die Haftanstalt [in der Okrestina Straße] verlegt – in eine Vierer-Zelle, wo ich zwei Wochen verbrachte.
Wie haben die 15 Tage Sie geprägt?
Ich konnte mich nochmals vergewissern, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ich sehe, wie grausam diese Menschen sind. Demütigung ist ihre Spezialität. Das Okrestina ist ein schwarzer Fleck, viele Tränen, viel Schmerz. Alles, was dort in den Tagen nach der Wahl passiert ist, ist irrsinnig. Jetzt gibt es dort nicht mehr so viel physische Misshandlung, nicht so viele Schläge, aber alles, was dort jetzt geschieht, bezeichne ich als psychische Gewalt und moralischen Druck. Die grundlegenden Menschenrechte werden verletzt.
Wie waren die Haftbedingungen?
Wir waren zu dritt in einer Zelle. In der ersten Nacht hatten wir Matratzen, Wasser, die Klospülung funktionierte. Doch am 2. Oktober ging es los. Nach dem Frühstück kam ein Mann herein und befahl uns, die Matratzen zusammenzurollen. Wir rollten sie ein; wir dachten, wir hätten vielleicht etwas falsch gemacht. Über die Regeln in der Haft hatte man uns nicht aufgeklärt. Ich war ja noch nie im Gefängnis – Gott bewahre, dass das noch mal geschieht. Doch wenn es Regeln gibt, muss man auch sagen, welche – aber nichts da. Es gab lediglich ein Papier, auf dem stand, dass man täglich 13,50 Rubel [etwa 4,50 Euro – dek] für die Verpflegung zahlen muss.
Wann haben Sie die Matratzen zurückbekommen?
Zunächst dachten wir, man habe sie eingesammelt, um sie zu säubern, um Läuse und Bettwanzen zu entfernen. Aber wir haben sie gar nicht zurückbekommen.
Haben Sie denn versucht, sie zurückzubekommen?
Ja, noch am selben Tag. In der Zelle gab es einen Knopf für Notfälle – den drückten und drückten wir. Lange hat niemand reagiert; dann kam ein wütender Wächter. Er öffnete die Zelle, packte die Frau, die ihm am nächsten stand, und führte sie heraus. Fünf Minuten später kam sie zurück. Er hatte ihr gesagt: „Sag den alten Schachteln, dass sie sich beruhigen sollen, Matratzen gibts nicht.“
Am selben Tag wurde uns das warme Wasser abgestellt und auch die Spülung, dann wurden zwei weitere Personen zu uns in die Zelle gesteckt – in einer Vierer-Zelle waren wir dann zu fünft.
Wir wussten nicht, wie man so schlafen soll. Also haben wir Zeitungen und Kleidung ausgebreitet. Als Größte habe ich mich auf eine Bank gelegt, eine andere Frau auf den Tisch. Zwei lagen zusammen im Bett, denn es war sehr kalt, die Heizung wurde nicht warm.
Innerhalb von 15 Tagen durften wir
nur fünfmal an die frische Luft
Was bekamen Sie als Antwort, als Sie darum baten, das Warmwasser und die Heizung einzuschalten?
Die Antworten waren immer dieselben: „Wir wissen nichts, wir entscheiden nichts, ihr müsst die Leitung fragen, das hängt nicht von uns ab.“ Oder wir wurden einfach ignoriert.
Wie lange ging das im Endeffekt so?
Die ganze Zeit, die ich dort war. Keine Matratzen, warmes Wasser gab es erst am vorletzten Tag. Wir baten um eine Waschmöglichkeit, aber in den 15 Tagen konnten wir nicht ein einziges Mal duschen. Innerhalb von 15 Tagen durften wir nur fünfmal an die frische Luft.
Wer saß zusammen mit Ihnen ein?
Die meisten im Okrestina Gefängnis hatten an den friedlichen Protesten teilgenommen. Ein Mädchen war aus dem Wahlkampfteam von Viktor Babariko. Es gab eine Belarussin, die in der Schweiz lebt – sie war nach Belarus gekommen, weil sie nicht gleichgültig zusehen konnte, was hier vor sich geht.
Mittlerweile ist mir klar, dass die Bedingungen, unter denen wir inhaftiert waren, dass das alles Absicht war.
In den Zellen herrschten also unterschiedliche Bedingungen?
Gegenüber von uns gab es eine Zelle mit jungen Männern. Wenn das Essen gebracht wurde, ließen die [Wachen] manchmal die Klappe auf und wir konnten einander zuwinken. Ich dachte, dies sei eine gute Gelegenheit, sie nach dem Wasser zu fragen. Mit großen Buchstaben schrieb ich diese Frage auf: „Habt ihr warmes Wasser?“, dann schob ich den Zettel rüber. Die Jungs haben es zuerst nicht gesehen; und als ich es noch einmal versuchte, sahen sie es schließlich und nickten. Da wussten wir Frauen, dass irgendetwas nicht stimmt.
Haben Sie am Ende herausgefunden, warum es in Ihrer Zelle diese Bedingungen gab?
Ja. Einen Abend durften wir rauf in einen tollen Raum mit Stühlen, Tischen und einem Fernseher. Irgendwann sahen wir einen Mann in Uniform – es war der Leiter der Haftanstalt, Jewgeni Schapetiko. Er stellte sich vor und sagte, dass wir die Polizei vielleicht nicht mögen, dass es für die Polizisten aber auch schwer sei. Dann wurde ein Film eingeschaltet. Später haben mir die Mädels erzählt, dass ihnen ein Kerl in Sturmhaube aufgefallen sei. Der hatte mit dem Telefon gefilmt, wie wir den Film anschauen.
Was war das für ein Film?
Ein regierungsfreundlicher Film aus dem belarussischen Fernsehen. Darin wurden verschiedene Bilder gezeigt – von Leuten, die Telefonnummern von Milizbeamten an Telegramkanäle schickten. Davon, wie jemand einen alten Mann angriff. Dann gab es Filmmaterial aus dem [Zweiten] Weltkrieg und wie die Großväter gekämpft haben. Dann noch von Kundgebungen und wie wir faschistische Flaggen tragen. Die Zielrichtung der Propaganda: Wir [Demonstranten] würden uns nur für unsere Handys interessieren, aber nicht fürs Kinderkriegen.
Dann war der Film vorbei. Der Chef der Haftanstalt sagte, er werde so etwas in seiner Stadt nicht zulassen. Dann fing er an, über Gesetze zu reden.
Was hat er gesagt?
Er sei hier für die Haftbedingungen verantwortlich: „Es läuft alles so, dass ihr nie wieder herwollt.“
Er fragte: „Wie habt ihr euch das denn vorgestellt?“ Die jungen Männer entgegneten geschickt, dass sie sich das so vorgestellt haben, wie es in unserem belarussischen Fernsehen gezeigt wird. Kurz zuvor hatte der Sender CTV einen Beitrag gebracht, wie schön und gut doch alles in der Okrestina sei.
Waren denn bei denen, die den Mund aufgemacht haben, die Bedingungen ähnlich schlecht?
Eine Frau aus meiner Zelle hat den anderen nach dem Film diese Frage gestellt. Die Jungs verneinten. Dann hielten wir Schapetiko vor, dass man in der Okrestina offensichtlich Menschenrechte verletzen würde. Der Leiter der Haftanstalt entgegnete nur, dass er über diese Sache nachdenken werde, dann ging er zum Ausgang, und es änderte sich nichts.
Die Grausamkeit, die sie meiner Familie angetan haben,
kann ich nicht verzeihen
Hat Sie im Gefängnis jemand erkannt?
Die Milizionäre haben mich erkannt. Einmal kamen wir von einem Spaziergang zurück, und der Wächter fragte: „Lewtschenko, rauchst Du etwa? Hast ja sehr um den Spaziergang gebettelt.“ Und ich fragte zurück: „Darf man nicht spazierengehen wollen?“
Meinen Nachnamen kannten sie. Wenn eine neue Frau in die Zelle kam, war es immer amüsant: „Und Sie sind wirklich Jelena Lewtschenko? Sind Sie Jelena Lewtschenko? Du bist tatsächlich Jelena? Ich hätte nie gedacht, dass ich dich in der Okrestina treffe.“ Nun, was soll ich darauf antworten? So was passiert eben. Machen wir uns also bekannt!
Was haben Sie in der Zelle so gemacht?
Jemand, der vor uns gesessen hatte, hatte ein Damespiel auf ein Blatt gezeichnet. Wir haben uns aus Weiß- und Schwarzbrot Figuren gebastelt und gespielt. Wir haben uns bemüht, Witze zu machen, haben Lieder gesungen und uns unterhalten. Und jetzt, wo ich durch die Sozialen Netzwerke surfe, sehe ich tatsächlich Nachrichten von den Jungs, die in der Zelle nebenan waren. Die schreiben da: „Wir haben gehört, wie ihr gesungen habt, wir haben euch applaudiert.“ Irgendwo in einer anderen Zelle gab es eine Frau, die jeden Abend sehr schön sang. Richtige Konzerte gibt es in der Okrestina.
Nach 15 Tagen Haft wurden Sie erneut festgenommen – wiederum wegen der Teilnahme an Protesten. Aber dann bekamen Sie eine Geldstrafe und wurden entlassen. Warum?
Ich denke, dass das alles eine große zusammenhängende Geschichte ist, „ein demonstrativer Vorgang“ sozusagen. Anderen Sportlern und Menschen sollte Angst gemacht werden, man wollte so demonstrieren, dass es jeden erwischen kann. Aber ich habe gar nicht erwartet, dass man mich gehen lässt, ich habe keine Gnade von denen erwartet. Eine Geldstrafe – bedeutet das in deren Verständnis nicht sogar Gnade? Doch die Grausamkeit, die sie meiner Familie angetan haben, kann ich nicht verzeihen.
Was für eine Grausamkeit?
Ich habe erst am Vorabend erfahren, dass ich am nächsten Morgen einen weiteren Prozess haben würde. Was bedeutete, dass man mich nicht entlassen würde. Aber darüber wurden meine Familie und Freunde nicht informiert. Sie brachten meine Mama und meinen Vater dazu, um sechs in der Früh zur Okrestina zu kommen und auf mich zu warten. Das Foto, das durch alle Medien ging, werde ich nie vergessen: wie Mama an Papas Schulter weint.
Haben Sie keine Angst davor, sich zu äußern?
Wenn die mir an den Kragen wollen, werden sie das sowieso tun. Wir sind in keiner Weise geschützt. Seien wir ehrlich: Ich habe keine Gesetze gebrochen oder Verbrechen begangen. Aber das spielt heute in Belarus keine Rolle, denn menschliches Leben hat keinen Wert. Das ist der rechtliche Normalzustand, und der ist das Einzige, was aktuell in Belarus zählt. Deshalb ist alles, was wir tun können, die Wahrheit zu sagen und davon zu berichten, was wir erleben.
Unterhalten Sie sich mit Sportlern aus Belarus?
Jeden Tag.
Wie reagieren die auf die Proteste?
Weltklasse-Athleten schweigen leider und kommentieren die Situation überhaupt nicht. Manchmal posten sie etwas, was sich gegen Gewalt richtet, aber Gewalt ist ja nur die Folge. Über den eigentlichen Grund sprechen sie nicht.
Was halten Sie von Menschen, die in der aktuellen Situation nicht den Mund aufmachen?
Es scheint, als säßen die im Gefängnis, und wir sind – im Gegenteil dazu – frei. Anfänglich war ich schon empört: Ich wollte, dass die Athleten reden – vor allem die berühmten. Doch darauf darf man sich nicht versteifen. Das soll jeder machen, wie er will. Hauptsache, es geht weiter. Wir sind viele. Bis heute haben bereits 998 Athleten einen offenen Brief mit Forderungen an die Machthaber unterschrieben.
Sie waren bis 2020 ein unpolitischer Mensch, richtig?
Ja, ich war unpolitisch – im Jahr 2020 habe ich zum ersten Mal in meinem Leben gewählt. Die Belarussen sind wirklich aufgewacht! Früher waren wir überzeugt, dass sich nichts ändern würde, wenn wir [gegen Lukaschenko] stimmen. Es war Teil der Mentalität. Man wird vergiftet – man tut so, als sei alles in Ordnung. Alles, was man tun kann, ist, alles runterzuschlucken. Das ist nicht nur mit der Politik so. Das betrifft alles.