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Mit der Angst um den Hals

Seit Anfang Dezember 2020 befindet sich Alhierd Bacharevič zusammen mit seiner Frau, der Dichterin Julia Cimafiejeva, in der steirischen Stadt Graz. Beide haben von Anfang an die Proteste in ihrer Heimat gegen das autokratische System Alexander Lukaschenkos unterstützt. In einem Interview für Radio Svaboda sagte Bacharevič, nachdem er in Österreich angekommen ist: „Ich habe Belarus psychisch gebrochen und krank verlassen, voller Hass auf den Staat, voller Schmerz und Schuld. Ich denke, diese Wunde wird niemals heilen. Aber meine persönlichen Wunden sind nichts im Vergleich zu den Wunden derer, die körperlich gefoltert und zerstört wurden … Wir leben zwischen einem schrecklichen Trauma und einer hellen Hoffnung.“

Die protestierenden Belarussen bezeichnen diejenigen, die im Namen von Lukaschenko Gewalt anwenden, als „Faschisten“. Auf der anderen Seite diffamiert Lukaschenkos Machtapparat die Protestierenden als „Faschisten“. Ein Wort also mit einer schaurigen, wechselvollen Geschichte, auch in Belarus. In einem Essay für die belarussische Wochenzeitung Swobodnyje nowosti Plus befasst sich Bacharevič mit dem Faschismus, der ihn seit seiner Kindheit begleitet.

Source SN Plus

Ihre Gesichter bleiben dir sofort in Erinnerung, du prägst sie dir förmlich ein, wider den eigenen Willen – so wie Kinder Schimpfwörter auf der Straße lernen. Ihre müden Zungen sind behäbig wie ihre staatseigenen Fahrzeuge. Dafür kennen sie die wichtigsten Wörter.

„Nicht wir sind die Faschisten“, erklärt ein hoher Polizeibeamte siegessicher in einem Interview. „Ihr seid die Faschisten!“

Punkt. Er hat alles gesagt. Etwas huscht über sein müdes Gesicht. Ein Ausdruck von . . . etwas Kindlichem, Lebendigem. Das ist doch eine Beleidigung! Eine einfache kindliche Beleidigung. Und eine genauso kindliche, sture Argumentation, eine genauso ausgefeilte Formulierung. Wie hieß es doch in der Kindheit: „Was man sagt, ist man selber!“, „Selber, selber, lachen alle Kälber.“ Kurz gesagt: „Nicht wir sind das. Ihr seid das. Selber schuld.“

Ihr, die Faschisten.

Es ist klar, an wen er sich damit wendet. An uns. Das Volk. Das ist alles, was er uns nach den zwei Monaten andauernden Straßenprotesten sagen kann. Er ist doch auch ein Teil dieser Proteste: Er nimmt daran aktiv teil, wenn auch auf der anderen Seite. Aber er weiß sehr gut, wie die Bevölkerung ihn und seine Befehlsempfänger nennt. Man nennt sie bereits offen so, ohne Angst zu haben; man schreit dieses treffende Wort, spuckt es ihnen hinterher.

„Faschisten!“

Es ist gar nicht so leicht, ein Faschist zu sein. Besonders in Belarus

Wir riefen es ihnen in den Neunzigern zu. Ihnen, den Menschen in Uniform. Wir riefen es ihnen sechsundzwanzig Jahre lang zu. Ich rief ihnen dieses Wort zu, als ich noch ganz jung war: Und es war das erste Wort, das uns damals in den Sinn kam. Ich sang in einer Punk-Band über den Faschismus, und als ich über die „Braunen“ ins Mikrofon kreischte, meinte ich keinesfalls irgendwelche rechtsradikalen Glatzköpfe, die mir in einem Hinterhof auflauerten. Ich meinte sie – die vom Volk gewählte Staatsmacht – und auch dieses unglückselige, blinde, verachtete Volk selbst.

Faschisten.

Du riefst ihnen dieses Wort im Sommer zu, als wir machtlos beobachten mussten, wie diese vermummten Wesen auf einem Platz Radfahrer festnahmen, einfach nur, weil sie Radfahrer waren. Sie schnappten sie und stießen sie in die fahrenden Blechgefängnisse hinein. Du riefst es ihnen zu, als sie wehrlose Menschen neben dem Hotel Minsk jagten und Hotelgäste diese Jagd von ihren Fenstern aus mitverfolgten. Sie schauten zu und hatten das Gefühl, als wären sie in einer Zeitmaschine gelandet. Es gibt derzeit so viele Fahrzeuge auf den Minsker Straßen . . . Panzerwagen, Wasserwerfer, Gefängnistransporter, Absperrsysteme, Kastenwagen des Militärs, unheilbringende Minibusse für die Jagd auf Menschenfleisch . . . Zeitmaschinen. Maschinen der gestohlenen Zeit.

Es schien, als hätten sie sich schon längst daran gewöhnt. Hätten schweigend zugestimmt: Ja, wir sind Faschisten, was soll's. Aber dem ist nicht so. Es ist gar nicht so leicht, ein Faschist zu sein. Besonders in Belarus.

Hier ist ein „Faschist“ mehr als nur ein Faschist. 

Manchmal ist es einfach nur ein Job, „Faschist“ zu sein. Man muss doch sein Brot verdienen. Faschisten möchten auch essen. Und Kinder von Faschisten weinen auch. Ein Faschist braucht auch seine Pension. Der Sozialstaat vergisst niemanden. 

Wer war er nur, dieser schreckliche Faschist unserer sowjetischen Kindheit? 

Diejenigen, die in der UdSSR geboren und aufgewachsen sind, haben das Wort „Faschist“ bereits in ihrer frühen Kindheit zum ersten Mal gehört. Seitdem begleitet es uns wie eine Impfnarbe auf dem Oberarm. Auch in unserem Bewusstsein setzte sich dieses Wort wie eine Impfung fest. „So etwas darf nie wieder passieren“, „Niemand ist vergessen und nichts ist vergessen“, „Wir sind das Land, das den Faschismus besiegt hat“ – so wurden wir großgezogen. Uns wurde der ewige Hass auf den Feind anerzogen, oder genauer gesagt, auf das Wort, welches den Feind bezeichnete. Der Feind war weit weg, wir wurden aus irgendeinem Grund von niemandem bedroht, und für alle Fälle brachte man uns bei, Wörter zu hassen.

Ah, diese herrlichen Wörter . . . „USA“, „BRD“ . . . „Spione“, „Verräter“, „Militärclique“ . . . „Kapitalismus“, „Revanchismus“, „Zionismus“, „Wettrüsten“ . . . „Faschisten“ . . . Wer war er nur, dieser schreckliche Faschist unserer sowjetischen Kindheit? Also erstens war er Deutscher. Die sinnlose Wendung „Befreiung von den deutsch-faschistischen Eroberern“ hat in unserer Kindheit niemanden erstaunt. Vom italienischen Faschismus erzählte man uns in der Schule nicht. Zweitens ist der Faschist ein Folterer, ein Sadist. Drittens muss er eine schöne Uniform tragen. Viertens ist es jemand, der nicht hier unter uns leben könnte. Unter sowjetischen Kindern und Erwachsenen. Er hat überhaupt kein Recht, unter Menschen zu leben. Und in unserem Land kann er sowieso nicht leben, da das kein Land ist, in dem Faschisten am Leben gelassen werden.

Ein guter Faschist ist ein toter Faschist.

Mit der Zeit lösten sich all diese Bedeutungen auf, wurden schwammiger und verschwanden. Bis auf eine. Ein Faschist ist zuallererst ein Sadist, der Inbegriff von Grausamkeit. Das Böse schlechthin. Ein Wort, das eines Tages aus der reinen Politik in die trübe Pfütze der sowjetischen Moral stürzte – und dann auch dortblieb.

Einmal, als ich ungefähr fünfzehn war, musste ich einen ganzen Tag auf einen kleinen Jungen aufpassen, der viel jünger war als ich. Er war ein verwöhntes, lautes Bürschlein. Er dachte, ich habe ihm nichts zu sagen, und wollte das Haus verlassen. Ich verbot es ihm, immerhin war ich verantwortlich für ihn. Er schrie und zappelte mit den Beinen, ich hielt ihn an den Armen fest. Er fing an zu schreien: „Du bist ein Faschist! Faschist! Umbringen sollte man dich!“ Trotzdem ließ ich ihn nicht hinaus. So wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben Faschist genannt. Damals erschrak ich. Weil ich außer Empörung und Ärger noch etwas spürte. Eine seltsame Freude, eine Aufregung und – eine Befreiung. Für ein paar Minuten war ich ein echter Faschist; und sei es nur für diesen einen Lümmel. Also stark und mit Macht ausgestattet. Ich bin über mich selbst hinausgewachsen. Ich stand über allen anderen. Über allen Moralvorstellungen, über den Menschen. Das einzige Gesetz war meine Macht. Ich verachtete dieses plärrende Kind, und ich hatte große Lust, es zu schlagen. Genau in diesem Augenblick, als er mich zum Faschisten erklärt hatte, wusste ich, dass ich – ein gewöhnlicher Teenager – alles darf.

Alles innerhalb der Grenzen meiner kleinen Welt.

Tatsächlich gab es in der Kindheit eine Menge „Faschisten“ rund um uns. Filme und Bücher, Zeitungen und Museen, unsere Spiele und sogar unsere sadomasochistischen Träume, in denen sich Eros, Thanatos und Geschichtsstunden so wonnig vereinten, waren voll mit ihnen. Sogar das Wort „Faschist“ war eindrucksvoll in seinem Klang und Aussehen: Es war kurz, widerwärtig und schön. Es ist interessant, dass das Recht auf gendergerechte Sprache hier nie infrage gestellt wurde. Eine strenge Lehrerin, eine hysterische Direktorin, eine ungeliebte Verwandte, einfach ein böses Weib auf der Straße konnte eine „Faschistin“ sein. Vor allem aber besitzt ein Faschist: Macht und Uniform. Man erkennt ihn sofort. Und er muss Waffen haben – seien es auch nur das Alter, die Stimme, das Dienstalter oder die Amtsbezeichnung. 

Es waren die Erwachsenen, die uns den Faschismus beibrachten. Sie vergaßen dabei allerdings, was das ist. Und wiederholten, wie einen Zauberspruch, dass der Faschismus nie zurückkommen würde.

Nein, nein, nein, er kommt nicht zurück. Schlaf ein.

Der kyrillische Faschismus ist das einundzwanzigste Jahrhundert

Ja, ein Faschist in meinem Land ist nicht dasselbe wie ein „Fascist“.

Ehrlich gesagt weiß ich gar nicht, wie man dieses Wort in andere Sprachen übersetzt. Wahrscheinlich sollte es in Übersetzungen nur kyrillisch geschrieben werden. Faschismus auf Kyrillisch ist nicht das gleiche wie Faschismus in lateinischen Buchstaben mit seinen nostalgischen Erinnerungen an schwarze Hemden, staatlichen Korporatismus und den römischen Gruß. Nein, es ist kein Fascism. Der kyrillische Faschismus ist das einundzwanzigste Jahrhundert, die glänzenden Titelblätter des neuen Völkischen Beobachters, die eleganten Anzüge und einheitlichen Köpfe der Staatsbediensteten, der Schrecken, der im Netz Kreise zieht, die täglichen Lügen wie vom Fließband und die in der EU erstandenen Gummigeschosse für Andersdenkende. Er ist nah, man kann sogar Tickets dafür bestellen. Er ist irgendwo unweit der Wörter Unesco und UNO. Faschisten – das sind die, die man gestern noch Geschäftspartner nannte. Das sind die, die man de facto anerkannte und deren Hände geschüttelt wurden. Der Faschismus ist autonom und abergläubisch – wie ihr, unsere europäischen Freunde.

Aber westlich und nördlich von Belarus liest kaum jemand fließend Kyrillisch. Dort meint man, dass der „Faschismus“ (in lateinischen Buchstaben) in Europa zurzeit undenkbar ist. Und der kyrillischen Schrift im Osten darf man ohnehin nicht glauben. Dort ist alles verdreht und verzerrt: Schaut euch nur ihre Buchstaben an, das sind Parodien auf die anmutigen Buchstaben des lateinischen Alphabets. 

Von der kyrillischen Schrift geht immer eine Bedrohung aus. Ständig ist bei denen irgendetwas nicht in Ordnung. Weil sie . . . Weil dort drüben einfach nicht Europa ist. 

Und jetzt schon wieder.

Jedes Mal, wenn wir jemanden Faschist nennen, stehlen wir dieses Wort von jenen, die darauf einmal stolz waren.

Die zugängliche Kunst mochte das Wort „Faschismus“ immer

Natürlich ist „Faschist“ ein Wort aus dem Arsenal der Propagandisten. Es ist immer bei der Hand. Wie ein auf der Straße herumliegender Pflasterstein. Heb ihn auf und wirf! Schmeiß ihn auf die Faschisten, da triffst du auf jeden Fall jemanden. Du hast schon getroffen – in dem Augenblick, in dem du deinen Feind erfunden hast.

Faschist – das ist ein Passwort aus acht Buchstaben. Wie oft du es auch eingibst, es wird jedes Mal passen. Der Zugang zum Feind ist gewährt. Auch wenn du ein paar Buchstaben auslässt.

Die antifaschistische Propaganda ist gewiss auch Propaganda. Aber wenn unbewaffnete Menschen bis an die Zähne Bewaffneten gegenüberstehen und Worte in die Hand nehmen – ist das schon etwas Größeres. Eine Anschuldigung. Denn Worte sind unsere einzigen Waffen. Der Terror der Bewaffneten gegen die Unbewaffneten – ist das denn nicht Faschismus? Wie viele Opfer braucht es noch, damit das Wort aufhört, ein einfaches Lexem zu sein? Wie viel Schmerz und Grauen, Entführungen und Folter, damit „Faschismus“ das Gewicht und die Form seiner echten Bedeutung erlangt?

Ein Faschist, das ist einer, der alles Menschliche hinter sich gelassen hat. Ein Übermensch. Einer, der nicht mehr zu uns zurückkommen kann. Wir, wir leben doch zwischen Tod und Leben. Der Faschist aber – zwischen Tod und Rache. Zwischen sich – und sich. Einen Weg zurück zu den Lebenden gibt es nicht mehr. Wenn Faschisten an der Macht sind, musst du es ihnen unbedingt sagen. Aber zuerst musst du es dir selbst eingestehen.

Da gibt es einen Augenblick, in dem alle Farbspektren verblassen und nur zwei Farben bleiben. Sie nicht zu unterscheiden ist eine lebensbedrohende Krankheit. Nur zwei: Schauder und Hoffnung. Das Schwarz der Faschisten und unser Weiß. Ein schwarz-weißer Film über die Faschisten von damals, die quälen und töten, schwarz-weiße Aufnahmen der Kriegsjahre, von Okkupanten gemacht – all das ist jetzt, 2020, wieder Realität geworden. Aufnahmen von 1942 und 2020, nebeneinandergestellt, erschüttern uns in Belarus.

Wie sehr sie sich ähneln – die, die damals quälten, und die, die jetzt quälen. Fast Zwillinge. Und wie sehr sind wir uns nahe, als hätten wir uns auf einer historischen Brücke zufällig getroffen: die, die damals gequält wurden, und die, die heute gequält werden. Deine Vorfahren, das sind vermutlich jene, die dir einmal auf so einer Brücke begegnet sind. Und du hast dabei nicht weggeschaut.

Die Revolution ist eine Kampfansage an den Faschismus, die Revolution ist die Zeit der Einfachheit. Leider ist das so, sage ich, weil Kunst nicht einfach gestrickt sein kann. In der Kunst locken ja viele Versuchungen, eine davon – zugänglich zu werden. Die zugängliche Kunst mochte das Wort „Faschismus“ immer. Die Kunst spielt damit, wie mit einem Ball. Denn der Faschismus bietet klare und eingängige Bilder, die Künstler von der Verpflichtung zur Komplexität befreien. Die Literatur mag dieses Wort auch. Wenn du „Faschismus“ schreibst, musst du gar nichts mehr erklären. Gewalt und Macht sind ein endgültiges, universelles und auch das zugänglichste Bild.

Wenn sie uns sagen, dass wir Faschisten sind, ist das ein Verfahren, das aus der alten sowjetischen Propaganda stammt. Für Tausende Menschen wurde dies zu einer Erinnerung, die sie sich selbst ausgedacht haben.

Wenn wir ihnen sagen, dass sie die Faschisten sind, ist es ein von Millionen von Menschen geschriebenes Urteil. 

Wenn die Macht jemanden einen Faschisten nennt, dann ist es eine faschistische Macht.

Das Recht zu entscheiden, wo Faschismus ist und wo nicht, darf nie der Macht gehören.

Alles ganz einfach.

Es war lächerlich, von den aussterbenden Sowjets Freiheit zu erwarten

In meinen fünfundvierzig (nur fünfundvierzig!) Jahren habe ich mehrere Regime erlebt. Ich bin unter dem Totalitarismus geboren und aufgewachsen, geriet dann in die Perestroika. Ich sah die Ratlosigkeit der Erwachsenen, die nie in einer anderen Epoche gelebt hatten. Dann gab es die Unabhängigkeit und vereinzelte zaghafte Blicke der neuen-alten Machthaber in Richtung demokratischer Ordnung. Das war noch keine Freiheit. Das war der Anfang der 1990er Jahre, und es war lächerlich, von den aussterbenden Sowjets Freiheit zu erwarten – aber es war zumindest ein Versuch, zumindest die Hoffnung auf Freiheit. Und dann begann die Diktatur. Und ich zog los nach Hamburg. Die sechs Jahre, die ich dort verbrachte, sind die einzigen Jahre in meinem Leben in einer Demokratie. Dann kehrte ich nach Minsk zurück. Und jetzt leben wir beide hier unter dem Faschismus.

Gratuliere.

Ebenfalls.

Wir werden sterben. Solche, wie wir, werden unter dem Faschismus nicht überleben. Sie ersticken. 

Aber ist das tatsächlich Faschismus?

Damals wie jetzt: Angst und Brutalität

„Die Kunst der Dichtung erfordert Wörter“, meinte Brodsky. Aber pfeif auf die Dichtung. Wir brauchen doch immer Wörter. Wir Menschen sind zu Wörtern verdammt. Wir können dem Tod nicht ruhig entgegenschreiten, uns dem Tod nicht nähern, wenn wir nicht wissen, wie unser Leben heißt. Wir fragen uns immer: Wer sind wir? Wo sind wir? Wohin gehen wir? Wir ahnen, dass es keine Antworten gibt. Aber anstatt der Antworten gibt es Wörter. Es gibt Namen, und wir suchen sie. Das kann uns nicht einmal der Faschismus verbieten. Diskussionen darüber, wohin Belarus 2020 gekommen ist, fingen noch vor der Wahl am 9. August an. Was ist das für ein System, wie kann man es nennen, klassifizieren? Die Antwort hängt natürlich von vielen Faktoren ab, und einer davon ist, wo sich der Klassifizierende befindet. Internationale Analytiker sind stolz auf ihre Unparteilichkeit. Nein, das ist noch kein Faschismus, sagen sie. Viele formale Merkmale fehlen. Seltsam, aber mir scheint, sie würden ihre Meinung ändern, wenn sie nur für ein, zwei Wochen hier leben würden.

Das ist eine Junta aus Armee und Polizei, sagen die einen. Eine typische lateinamerikanische Erscheinung, die plötzlich in Osteuropa aufgetaucht ist. Nein, das ist gewöhnlicher Autoritarismus im Stadium der Agonie, sagen die anderen. Das ist ein hybrides Regime, erklären wieder andere. Mir kam einmal folgende Definition in den Sinn: Es ist wie im Jahre 1937, aber mit Internet. Damals, 1937, gab es Telegramme, die vom Staat genau unter die Lupe genommen wurden; für verdächtige Telegramme konnte man erschossen werden oder in Straflagern enden. Jetzt haben fast alle Telegram, und dafür, dass man „falsche“ Kanäle abonniert, kann man auch strafrechtlich verfolgt werden. Damals wie jetzt: Angst und Brutalität, Polizei-Einsatzwagen neben den Hauseingängen und Menschen, die mit Schrecken auf die Schritte im Treppenhaus hören. Gehst du auf die Straße, kann es sein, dass du einfach nicht mehr zurückkommst. Menschen verschwinden am helllichten Tag und werden erst später wiedergefunden. Man findet sie im Gefängnis – und freut sich noch: Er ist am Leben, sie ist am Leben. Gott sei Dank!

Einmal, damals noch im früheren Leben, sagte ein Freund von mir, ein Deutscher: Ihr habt in Belarus eine postmoderne Diktatur. Um die Gefahr, die von ihr ausgeht, zu verstehen, muss man erstens wissen, was die Postmoderne eigentlich ist. Zweitens braucht man einen guten Sinn für Humor und eine die Kapazitäten eines Menschen übersteigende Ironie. Drittens darf man nicht nach den Gesetzen der traditionellen Logik leben.

Heute schlagen wir schlaue Bücher auf und suchen nach Definitionen für das, was bei uns passiert. Wir suchen nach Parallelen. Geschichtsliebhaber und ältere Menschen wurden an die haitianischen Tontons Macoutes, an Pinochet, Salazar, Paraguay und vieles mehr erinnert. Wir tauschen im Netz gefundene Definitionen des Faschismus untereinander aus. Faschismus nach Nolte und nach Arendt, nach Payne oder nach Griffin . . . Nicht alle Punkte sind gleich. Wir streiten. Politologen runzeln die Stirn. Sie können Dilettanten nicht ausstehen. Nein, das kann nicht sein. Wie soll es im Jahr 2020 Faschismus geben? Wir aber lesen und erkennen unsere Realität wieder. Genau die Realität, die nicht nur draußen vor dem Fenster ist, nein, sie befindet sich sogar gleich unter dem Schädeldach. Ja, das ist Faschismus. Ganz besonders, wenn du über ihn liest und dich dabei mitten in ihm befindest. Ein Mensch mit einem Buch in einer durchsichtigen Kugel, aus der es keinen Ausweg gibt. Wir stehen vor dem Gefängnis in Schodsina, rauchen und warten auf jemanden. 

„Faschisten! Deutsche Schweine! Ihr vergast uns! Juden und Freimaurer! Umbringen sollte man euch!“, ruft uns eine nette alte Frau an die 90 zu, die direkt gegenüber dem Gefängnis wohnt.

Unterstreichen Sie bitte die Wörter und Ausdrücke, die aus der bekannten Assoziationskette fallen.

Unsere Texte bedeuten nichts. Es gibt nur die Kugel. Durch ihre Wände hört man alles, sieht aber nichts.

Belarus hat den Faschismus nicht für sich entdeckt, es hat sich wieder an ihn erinnert

Was Faschismus ist, wussten wir hauptsächlich aus Büchern und Filmen. Die Massenkultur verschlang und verdaute den Faschismus schon vor so langer Zeit, dass wir glaubten, alles darüber zu wissen. Das Einzige, was uns überraschte: Wie man unter dem Faschismus überhaupt leben konnte. Ein menschliches Wesen zu sein und normale Bedürfnisse, Träume, Wünsche, Emotionen zu haben. In Zeit und Raum zu existieren. Konnte man sich so etwas unter dem Faschismus denn leisten? Der Protagonist in Nabokovs Erzählung Wolke, Burg, See gibt zu, dass er „keine Kraft mehr hat, Mensch zu sein“. Er lebt unter dem Faschismus, dem deutschen Nationalsozialismus der 1930er Jahre, aber in dieser Erzählung spricht Nabokov weder über die totale politische Kontrolle noch über die Gestapo. Der Faschismus zeigt sich über den Alltag, das sind die einfachen Menschen rund um uns – und das ist das Schrecklichste am Faschismus.

Wir lasen diesen Text als eine Warnung. Und jetzt hat es sich herausgestellt, dass wir in ihm leben. Es war plötzlich klar, dass man auch unter Faschismus Sushi essen oder Wein trinken, Sex haben, Kinder großziehen, etwas arbeiten, vor dem Einschlafen lesen oder spazierengehen kann. Unter Faschismus gibt es auch Musik. Man kann alles. Nichts ist erlaubt. Es gibt kein Gesetz, es gibt nur physische Bedürfnisse, Hass, Rebellion, Hoffnung – und das, was Czesław Miłosz „eine glühende Kugel der Angst“ nannte. Er erinnert sich an seine Jugend im besetzten Warschau und schreibt, dass er zu jener Zeit viel arbeitete, Gedichte schrieb, verliebt war, sogar manchmal tanzte, sich versteckte, anderen half, sich über das Essen freute, Wodka trank . . . Aber jeden einzelnen Augenblick, schreibt Miłosz, sah und spürte er diese „glühende Kugel“ gleich in seiner Nähe. Nichts konnte sie verjagen.

Wir spüren dasselbe. Außer dass manche Grenzen noch offen sind. Noch kann man die Kugel einpacken – und mitnehmen.

Die belarussische Dichterin Julia Cimafiejeva schreibt in ihrem Gedicht Der Stein der Angst über die Angst, die wie ein Edelstein von Generation zu Generation weitergegeben wird. In diesem Text wird unsere belarussische Angst zu einem seltsamen Schmuckstück, das man wie eine Halskette trägt. Ein Erbstück, mit dem man achtsam umgeht. Belarus hat den Faschismus nicht für sich entdeckt, es hat sich wieder an ihn erinnert. Das Land trug ihn immer bei sich. Warum? Wahrscheinlich aus Angst. Angst aufzuhören, man selbst zu sein.

„Wir sind doch keine Faschisten. Ihr seid Faschisten“

Belarus ist das erste europäische Land geworden, in das der Faschismus zurückgekehrt ist. Schwein gehabt. Nun sind wir wieder ein Teil der europäischen Geschichte. Warum kam es dazu?

Weil wir vorher nicht dort waren. Irgendwie wollten wir nicht. Wir hofften, heil davonzukommen.

„Menschen, seid wachsam!“, schrieb in seinem Buch Reportage unter dem Strang geschrieben der tschechische Journalist Julius Fučík kurz vor seinem Tod. Er wurde 1942 von Faschisten gefangengenommen und hingerichtet. Als ich in Westeuropa lebte, habe ich mit Erstaunen festgestellt, dass nur ganz wenige Menschen wissen, wer das war. Fast gar niemand.

Manchmal scheint es, dass sich nur die sowjetischen Kinder, die einst „Faschisten“ und „Russen“ spielten – so wie die belarussischen Kinder heutzutage „Menschen“ und „Schlägertrupps“ spielen –, noch an ihn erinnern. Und eigentlich können sich nur die sowjetischen Kinder, die gut in der Schule waren, an ihn erinnern. Den Namen von Fučík – gemeinsam mit einigen anderen – verwendete die sowjetische Propaganda ohne Ende. Aber niemand glaubte an Propaganda, und niemand nahm diesen geheimnisvollen Fučík ernst. Ja, er hatte da etwas gesagt. Von mir aus unter dem Strang. Diese Fučíks haben doch schon alle satt. Diese Geschichte, die niemand braucht . . . Sie bringt nur noch mehr Verwirrung.

Wir sind doch keine Faschisten. Ihr seid Faschisten. Ich höre förmlich die Stimme des Ermittlers, der das zu Fučík sagt – ruhig, bestimmt, müde, etwas gekränkt.

Julius Fučík wurde im Berliner Gefängnis guillotiniert. Nach geltendem Recht. Nach einem Gerichtsurteil. Unter Beachtung aller vom Gesetz vorgeschriebenen Abläufe. Die Schuld war bewiesen. Der Staat hat keinen Fehler gemacht. Der Staat muss sich doch schützen. Fučík war sein Feind und hat dafür bezahlt. 

Man sagt, er hatte sogar einen Anwalt. 


Alhierd Bacharevič ist aktuell im Rahmen des Programms Writer in Exile zu Gast in Graz, das in Kooperation von der Stadt Graz (Kulturressort) und der Kulturvermittlung Steiermark seit 1997 kontinuierlich bespielt wird. Die deutsche Übersetzung des Textes erschien am 24. Dezember 2020 erstmals in Die Presse.

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Alexander Lukaschenko

Im Jahr 2024 feiert Alexander Lukaschenko zwei runde Jubiläen: Seinen 70. Geburtstag und 30 Jahre im Amt. Er wurde 1954 geboren. Über seinen Vater ist nichts bekannt, seine Mutter, Melkerin in einer Kolchose, hat ihn allein aufgezogen. Sie lebten in Armut. Auf die Frage eines Journalisten: „Wie lebten Sie als Kind?“ sagte Lukaschenko, damals bereits Präsident: „Bettelarm war ich!“1 Allem Anschein nach wurde die alleinstehende Mutter von den Dorfleuten gepiesackt. Uneheliche Kinder waren damals gesellschaftlich nicht akzeptiert. Der Publizist Alexander Feduta, nunmehr aus politischen Gründen inhaftiert, beschreibt Lukaschenko folgendermaßen: „Wir haben es mit einem typischen komplexbehafteten Dorfjungen zu tun, vaterlos oder, wie es auf dem belarussischen Land heißt, ein bajstruk.“2  

Wie schaffte es dieser Dorfjunge aus dem Osten von Belarus an die Spitze der Macht in seinem Land, die er als Diktator schließlich an sich riss? Wie gelang es Lukaschenko, ein System zu errichten, das die belarussische Gesellschaft bis heute unter Kontrolle hat? Waleri Karbalewitsch, Autor einer Lukaschenko-Biographie, über das autoritäre Machtgefüge in Belarus. 

Der Weg zur Macht 

Anhand der Bruchstücke, die Lukaschenko über seine ersten Lebensjahre preisgibt, gewinnt man keineswegs den Eindruck einer glücklichen Kindheit, ganz im Gegenteil. Wir sehen Neid auf andere Kinder, die mit mehr Wohlstand gesegnet waren, den Komplex eines zu kurz gekommenen Menschen. „Die 1950er Jahre waren eine schwere Zeit, eine furchtbare Not. Ich weiß noch, was für ein Kampf bei uns im Dorf herrschte. Wer stärker war, überlebte, Familien mit kräftigen Männern und Vätern hatten es leichter. Ich hab meinen Teil wegbekommen …“, sagte Lukaschenko.3 
 

„Die junge Generation wählt Alexander Lukaschenko.“ Wahlwerbung zu den Präsidentschaftswahlen im Jahr 1994 / Foto © Archiv/Tut.by 

Nach der Wahl zum Präsidenten im Jahr 1994 nahm Lukaschenko seine Frau bekanntlich nicht mit nach Minsk. Nach ein paar Monaten machte ein Witz die Runde, von dem böse Zungen behaupten, er sei die reine Wahrheit: Frau Lukaschenko habe auf die Frage von Nachbarn, warum sie ihm nicht hinterherfahre, geantwortet: „Ach, mein Saschka bleibt doch nie irgendwo länger als zwei Jahre.“ 

Tatsächlich beeindruckt sein Lebenslauf, bevor er Präsident wurde, durch häufige Arbeitsplatzwechsel. Paradoxerweise ist der einzige Posten, den er jemals länger innehatte, das Präsidentenamt.  

Die häufigen Jobwechsel zeugen von Lukaschenkos Unverträglichkeit. Fast überall war seine Tätigkeit von Konflikten begleitet. Seine Frau erinnerte sich: „Wo auch immer er war, immer und überall schlug er sich mit seiner Sturheit und Direktheit die Nase an. Natürlich war das störend. Misserfolge und Kränkungen vertrug er ganz schlecht.“4 Der psychologische Begriff hierfür ist Fehlanpassung, also, die Unfähigkeit, sich an soziale Normen anzupassen, die es in jeder Gesellschaft gibt. Das hinderte ihn daran, Karriere zu machen und im sowjetischen System ein hohes Amt zu ergattern. Er wirkte eher wie ein Außenseiter, ein Loser.  

Doch mit Beginn der Perestroika, mit Glasnost und Demokratisierung, waren diese Charakterzüge, die ihm früher so im Weg gestanden hatten (weil sie zu Konflikten mit der Obrigkeit führten), plötzlich von Vorteil. In dieser Zeit des Kampfes gegen die Parteinomenklatur, die sich mit Händen und Füßen gegen Reformen sträubte, erfreuten sich mutige Akteure, die sich entschlossen zeigten, immer größerer Beliebtheit. Und Lukaschenko passte reibungslos ins Bild eines Kämpfers für Gerechtigkeit, eines Siegers über das System. Außerdem entdeckte er sein Talent zum Politiker, der in der Öffentlichkeit steht, vor Publikum spricht, dessen Aufmerksamkeit er bannt. Also stürzte er sich Hals über Kopf in die Politik, eine für ihn ganz neue Sphäre, in der er sich bald zu Hause fühlte. 1990 machte er den Schritt vom Direktor einer Provinz-Sowchose zum Abgeordneten des Obersten Sowjets der BSSR. Die Sitzungen dieses Machtorgans wurden damals live im Fernsehen übertragen. Lukaschenko trat häufig auf, hatte zu allen Themen etwas zu sagen. Bald kannte ihn das ganze Volk.  

Wie so oft in der Geschichte ging es auch hier nicht ohne Zufall. Um einen politischen Höhenflug zu schaffen, muss einer auch zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurde der Oberste Sowjet zum Parlament des unabhängigen Belarus, und Lukaschenko wurde zum Vorsitzenden einer parlamentarischen Kommission zur Bekämpfung der Korruption gewählt. Diesen Posten wusste er höchst effektiv für sich zu nutzen, nannte sich gar den obersten Korruptionsbekämpfer des Landes. Unter anderem deswegen konnte er bei den Präsidentschaftswahlen 1994 einen triumphalen Sieg einfahren. Lukaschenko war der Inbegriff des „Volkskandidaten“. Seine ganze Erscheinung, seine Kultur, seine Sprache und seine Art zu sprechen, das war dem Volk alles sehr nah und vertraut. Viele Menschen konnten sich mit ihm identifizieren. 

Natürlich war er nicht sofort ein Diktator. Anfangs waren seine Reden von Enthusiasmus und dem aufrichtigen Wunsch geprägt, dem Volk zu dienen und das Land so schnell wie möglich aus der Krise zu führen. Er sagte: „Schweißausbrüche bereitet mir nur der Gedanke, die Versprechen nicht einlösen zu können, die ich den Menschen bei den Wahlen gegeben habe.“5 Für den Fall seines Scheiterns zog er sogar einen freiwilligen Rücktritt in Betracht. 

 

Lukaschenko bei seiner Inauguration am 20. Juli 1994 im Obersten Sowjet, noch neben der weiß-rot-weißen Fahne, der damaligen Staatsflagge, die heute verboten ist.

Machthunger und Gewaltenteilung 

Bald nach seinem Amtsantritt stieß Lukaschenko auf das, was man Gewaltenteilung nennt. Völlig überraschend für ihn: Es gab ein Parlament und ein Verfassungsgericht, die ebenfalls einen Teil der Macht für sich beanspruchten. Für Lukaschenko war das inakzeptabel. In seiner Vorstellung ist wahre Macht nur absolute Macht. Der neue Präsident wies also ein allgemein anerkanntes Element der Demokratie wie die Gewaltenteilung, die Checks and Balances einer Regierung, entschieden von sich. 1996 verkündete er, das Prinzip der Gewaltenteilung sei „eine Bedrohung für unseren Staat“6 geworden. „Werft dieses Gleichgewicht, diese Balance und Kontrolle aus euren Köpfen!“; „Ich will, dass der Staat ein Monolith ist“7, sagte Lukaschenko. 

Ganze zwei Jahre war er damit beschäftigt, andere Zentren der Macht zu beseitigen und zu zerstören. Das geschah unter anderem mithilfe eines gefälschten Referendums über eine neue Verfassung, das Politiker und Juristen einen Staatsstreich nannten. Ende 1996 hatte er ein personalistisches autoritäres Regime installiert, in dem nur eine einzige staatliche Institution tatsächlich Einfluss hat: Alexander Lukaschenko. Wahlen wurden zur Fiktion, die Opposition wurde aus allen staatlichen Einrichtungen geworfen, und der Staat erhielt das Monopol auf alle TV- und Rundfunksender.        

Lukaschenkos dominanter Charakterzug, die Kernidee seiner Weltanschauung ist ein grenzenloser Machthunger, der vor nichts haltmacht. Allem Anschein nach ist dieses Streben nach Allmacht der Grund dafür, dass Lukaschenko sich strikt weigert, die Todesstrafe abzuschaffen oder ein Moratorium darüber zu verhängen. Denn das Recht, einen Menschen bis hin zur Tötung zu bestrafen oder auch zu begnadigen, galt schon in alten Zeiten als einer der wichtigsten Faktoren der Macht. Deswegen ist Belarus das einzige Land Europas, in dem die Todesstrafe zur Anwendung kommt. 

An Lukaschenkos Äußerungen sieht man, dass für ihn die Frage nach der Macht eine Frage von Leben und Tod ist. Wenn er seinen Opponenten vorwirft, ihn seines Amtes entheben zu wollen, so ist das für ihn dasselbe wie ein Mordanschlag. Der Führer hat keinen Zweifel: Verliert er die Macht, rechnet er mit einem schrecklichen Gericht für sich. Ein Leben ohne Macht kann Lukaschenko sich nicht vorstellen: Es verliert seinen Sinn. Als er 2020 dem ukrainischen Talkmaster Dmytro Gordon ein Interview gab, sagte Lukaschenko auf die Frage, ob er nicht zurücktreten wolle: „Ich kenne ja nur diese Lebensart … Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Gut, also schön, ich bin nicht mehr Präsident – und was mach ich dann morgens nach dem Aufstehen?“8 An den kritischen Tagen der Massenproteste 2020 wiederholte Lukaschenko immer wieder, er werde an der Macht bleiben, solange er lebe. Bei einem Auftritt in der Radschlepperfabrik am 17. August 2020 verkündete er: „Solang ihr mich nicht umbringt, wird es keine anderen Wahlen geben.“9     

Die Abgeordneten der BNF während des Hungerstreiks aus Protest gegen Lukaschenkos umstrittenes Referendum im Jahr 1996 / Foto © Archiv/Tut.by 

Die Ideologie des Systems 

Das Lukaschenko-Regime ist auf dem Gebiet der ehemaligen UdSSR das prosowjetischste. Lukaschenko betont immer wieder, dass seine Vorlage für den Aufbau eines Staats die sowjetische Gesellschaftsordnung sei, und Lenin und Stalin nennt er „Symbole unseres Volkes“10. Als Wappen und Fahne der Republik Belarus bestimmte er die Symbolik der zur Sowjetunion gehörigen BSSR in leicht abgeänderter Form. Die Namen von Straßen und Plätzen sowie die Denkmäler sind seit der Sowjetzeit unverändert geblieben. Belarus ist das einzige postkommunistische Land, in dem der KGB noch immer KGB heißt.  

Lukaschenko lehnte von Anfang an die Ideologie des belarussischen ethnokulturellen Nationalismus ab. Mit Hilfe eines Referendums drängte er die belarussische Sprache an den Rand und tauschte die weiß-rot-weiße Flagge und das Wappen in Folge eines weiteren umstrittenen Referendums aus. Die staatliche Propaganda setzt belarussischen Nationalismus mit Nazismus gleich. Und das nicht nur, weil Lukaschenko Moskau nicht reizen will, dem jeglicher Nationalismus in seinen Nachbarländern ein Dorn im Auge ist. Lukaschenkos traditionelle Wählerschaft ist russischsprachig, für sie existiert ohnehin keine belarussische Identität. Sein wichtigster politischer Gegner war lange die Partei BNF mit ihren nationalistischen Losungen.  

Der Hauptgrund für Lukaschenkos Aversion gegen Nationalismus ist aber, dass man damit eine Gesellschaft mobilisieren kann. Er formt eine Zivilgesellschaft, fördert horizontale Verbindungen, stimuliert die Solidarität. Lukaschenko aber braucht eine atomisierte Bevölkerung, die nur durch staatliche Institutionen zusammengehalten wird. Er braucht keine Gesellschaft als selbständiges Subjekt, das Verantwortung für das Schicksal ihres Landes übernimmt. 

Insgesamt kann man wohl sagen, dass dieses System keine greifbare Ideologie zu bieten hat. Die Narrative der Propaganda sind eklektisch, da mischen sich Elemente der sowjetischen Vergangenheit mit Ideologemen von Russki Mir, mit der Ablehnung von Liberalismus und westlichen Werten und so weiter. In gewissem Sinne ist dieser Mangel an Ideologie dem Regime sogar zuträglich, denn so kann es seine politische Linie je nach Konjunktur verändern. In Belarus gibt es keine Regierungspartei, die eine faktische Macht ausübt. Denn Lukaschenko hatte immer die Sorge, sie könnte eine von ihm unabhängige Elite konsolidieren. 

Gründe für die lange Herrschaft 

Wie ist es Lukaschenko gelungen, so lange an der Macht zu bleiben? Hier sind mehrere Faktoren zu bedenken. Erstens entsprach das belarussische Gesellschaftsmodell lange Zeit den Bedürfnissen und Vorstellungen, die die Mehrheit der Bevölkerung in Bezug auf Politik hatte. Es basierte auf staatlicher Dominanz in Wirtschaft und Sozialwesen – ein wirksames Instrument zur Kontrolle über die Gesellschaft, zur Umgehung der Gewaltenteilung und zur Herrschaft eines Einzelnen –, auf einer Partnerschaft mit Russland und einem Konflikt mit dem Westen. Der Großteil der Bevölkerung (Staatsbedienstete, Angestellte staatlicher Betriebe, Rentner) war finanziell vom Staat abhängig. Die Hemmung marktwirtschaftlicher Reformen führte zur Konservierung sozialer Strukturen.  

Zweitens spielte Lukaschenkos ausgeprägte politische Intuition eine Rolle, sein angeborenes Gespür, mit dem er das richtige Vorgehen oder eine Bedrohung erkennt, sein Charisma und auch sein Populismus, sein Talent, zum Volk in einer für sie verständlichen Sprache zu sprechen. Dem politischen Triumph des Diktators liegt in hohem Maße seine erstaunliche Fähigkeit, ja geradezu Kunstfertigkeit zugrunde, die Menschen zu manipulieren. Er ist ein begabter Schauspieler mit vielen Rollen im Repertoire, ein faszinierender Verwandlungskünstler. Je nachdem, wem er gerade gefallen will, kann er äußerst liebenswürdig sein. Seinen hauseigenen Stil macht aus, dass er bei ein und derselben Gelegenheit, oft sogar im selben Satz, widersprüchliche, manchmal sogar einander ausschließende Thesen formuliert. Und jeder Zuhörende hört das heraus, was ihm lieber ist, was ihm besser gefällt. 

Drittens hat Lukaschenko alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden, sie beeinflussen nichts, und ihr Ergebnis ist im Voraus bekannt. Auf legalem Weg kann es in Belarus keinen Machtwechsel mehr geben. Und zu einer Revolution war die belarussische Gesellschaft vor 2020 nicht bereit. Außerdem hat Lukaschenko jede politische Konkurrenz in den Machtorganen verunmöglicht. Sobald irgendein Beamter an politischer Bedeutung gewann, wurde er seines Amtes enthoben.    

Lukaschenko hat alle Mechanismen zum Machtwechsel komplett ausgeschaltet. Die Wahlen sind zum reinen Dekor geworden /Foto © Natalya Talanova/Tass Publication/Imago

Lukaschenkos politische Stütze ist der Staatsapparat. Während der akuten politischen Krise im Jahr 2020 kam es nicht zu einer Spaltung der Eliten, was eine wichtige Bedingung für den Sieg der Revolution gewesen wäre. Und zwar deswegen, weil es in Belarus keine einzige staatliche Institution gibt, die vom Volk gewählt wird, dem Volk Rechenschaft schuldet, vom Volk kontrolliert wird.  

Und natürlich verlässt sich Lukaschenko auf seine Silowiki. Daraus macht er auch keinen Hehl: „Die Vertikale ist stabil. Sie stützt sich auf den KGB und das MWD11. „Der KGB ist die Basis für eine starke Präsidialmacht.“12 

Viertens kann das wirtschaftlich ineffiziente belarussische Gesellschaftsmodell nur dank der Unterstützung aus Russland überleben. In manchen Jahren betrug die russische Wirtschaftshilfe rund 15 bis 20 Prozent des belarussischen BIP.  

Der Ego-Kult 

Lukaschenko hat ein Selbstbild, als verfügte er über übernatürliche Fähigkeiten. Er suhlt sich in Größenwahn und Überlegenheitsgefühl. Immer wieder erzählt er bei öffentlichen Auftritten Geschichten davon, wie jahrelang bettlägerige Kranke dank ihm, dem Führer, wieder gesund wurden. So erzählt er über Boris Jelzin, den ehemaligen Präsidenten Russlands: „In Jelzins Umfeld hieß es immer: Boris Nikolajewitsch fehlt irgendwie der Elan, wir sollten wieder mal den belarussischen Präsidenten einladen. Der verleiht dem russischen Präsidenten dann wieder für drei, vier Monate Flügel. Es hieß, Jelzin würde von mir eine ordentliche Ladung Energie bekommen.“13 Lukaschenko begann von sich zu sprechen wie von einem Heiligen: „Ich bin makellos“14; „Ich bin der (seelen)reinste Präsident der Welt!“15 

Die bizarrsten Formen nimmt Lukaschenkos Drang zum Größenwahn an, wenn er an Sportwettkämpfen und Eishockeyspielen teilnimmt und immer den Sieg davonträgt. Sein Kindheitstraum, Sportstar zu werden, ein Idol für Tausende Fans, die ihn von den Tribünen herunter bejubeln, wird nun auf groteske Weise wahr. Dank der staatlichen Behörden sind diese Wettkämpfe Ereignisse von nationaler Bedeutung. Es werden Unsummen ausgegeben, um berühmte Sportler einzuladen. Und um den Präsidenten mit vollbesetzten Tribünen zu erfreuen, werden Schüler und Studenten vom Unterricht befreit und reihenweise unter Aufsicht ihrer Lehrer ins Stadion oder in die Eishalle gekarrt. Die ganze Führungsriege des Landes wohnt solchen Events bei. Und die staatlichen Medien berichten darüber mit einer Ernsthaftigkeit, als ginge es um wichtige politische Nachrichten.  

Lukaschenkos Hang zum Populismus und der Wunsch, seiner anspruchslosen Wählerschaft zu gefallen, führen dazu, dass er nie ein Blatt vor den Mund nimmt und Sachen sagt, die so gar nicht zu einem Staatsoberhaupt passen. Sein politischer Stil lässt sich nicht ins Konzept von Political Correctness zwängen.     

Ein Protestmarsch im August 2020 in der belarussischen Hauptstadt Minsk / Foto © Homoatrox/Wikimedia unter CC BY-SA 3.0

Das Jahr des Umbruchs  

Zu Beginn seiner Präsidentschaft wurde Lukaschenko tatsächlich von der Mehrheit der Bevölkerung unterstützt. Doch während seiner 30-jährigen Amtszeit ist eine neue Generation herangewachsen. Die Massenproteste 2020 zeigten, dass das archaische sozioökonomische und politische System sowie die autoritären Regierungsmethoden bei den meisten Leuten Abscheu erregen. In Belarus haben wir heute auf der einen Seite eine immer moderner werdende Gesellschaft, die auf Veränderungen abzielt und sich vom staatlichen Paternalismus befreien will, und auf der anderen Seite die Staatsmacht, die am Status quo festhält. Die Gesellschaft wächst über den Staat hinaus, in dessen Rahmen es ihr zu eng geworden ist. Doch Lukaschenko merkt nicht einmal, dass er und sein Land in unterschiedlichen historischen Epochen leben.

Und auch hier ist passiert, was praktisch allen Diktatoren passiert, die zu lange an der Macht sind: Die Staatsmacht hat den Draht zur Gesellschaft verloren. Im Laufe dieser 30 Jahre hat Lukaschenko es nicht geschafft, mit seinem Volk und dessen Problemen wirklich in Berührung zu kommen. Begegnungen mit der Bevölkerung werden gründlich vorbereitet und durchinszeniert, die Teilnehmer sorgfältig ausgewählt. So verliert selbst ein talentierter Politiker das Gefühl für das Volk. Seine Wahrnehmung der Welt wird inadäquat. Und dann sind ihm in Krisenzeiten, sei es aufgrund der Covid-Pandemie oder im Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen, ein Fehler nach dem anderen unterlaufen. In jenem denkwürdigen Jahr 2020 traf er die schlechtesten aller möglichen Entscheidungen. Zum Beispiel ließ er alle Präsidentschaftsanwärter, die ihm gefährlich werden konnten, verhaften, die vermeintlich „schwache“ Swetlana Tichanowskaja jedoch kandidieren, in der festen Überzeugung, es würde sowieso keiner eine Frau wählen, schon gar nicht eine Hausfrau. Der Protest wurde mit roher Gewalt niedergeschlagen. Lukaschenko erlitt selbst wohl ein psychisches Trauma: Zerstört war sein Image als „Volkspräsident“, das er jahrzehntelang so gepflegt hatte. Dabei hatte er ernsthaft an seine Mission geglaubt, das Volk zu vertreten. „Ich glaube, dass nichts und niemand in der Lage ist, einen Keil zwischen den Präsidenten und das Volk zu treiben, das ihn gewählt hat“16, sagte er mal zu Beginn einer neuen Amtszeit.   

Wahrscheinlich dachte er, sein Volk hätte sich von ihm abgewandt. Hatte er doch in den letzten Jahrzehnten immer wieder seine enge Beziehung zum belarussischen Volk betont. Als die Proteste gegen ihn begannen, hatte Lukaschenko ein paar Wochen lang Angst, im Auto durchs Land zu fahren, und flog mit dem Hubschrauber. Als sich seiner Residenz eine Menschenmenge näherte, zog er sich eine kugelsichere Weste an, nahm ein Maschinengewehr, stieg mit Sohn Kolja in einen Hubschrauber und flog von dannen. Die Bilder des flüchtenden Präsidenten sah ganz Belarus. 
 

Lukaschenkos Rache: Oppositionelle wie Maxim Snak und Maria Kolesnikowa wurden zu drakonischen Haftstrafen verurteilt / Foto © Imago/Itar-Tass

Die erlittene seelische Verletzung drängte auf Revanche. Diese entlud sich in politischem Terror. In Belarus gibt es heute rund eineinhalb tausend politische Gefangene. Es gibt Folter. Im ganzen Land gibt es weiterhin Razzien, Verhaftungen und Strafverfahren. Die Menschen werden nicht wegen oppositioneller Tätigkeiten festgenommen, sondern weil sie eine andere Meinung haben und entsprechende Kommentare oder auch nur Likes in sozialen Netzwerken hinterlassen. Viele Oppositionelle werden zu Haftstrafen von über zehn Jahren verurteilt, wie es unter Stalin üblich war. Lukaschenko gibt offen zu, dass auf seinen Befehl hin Verwandte von Oppositionellen oder politischen Häftlingen verfolgt werden. Die Evolution eines autoritären hin zu einem totalitären System läuft. Um an der Macht zu bleiben, unterstützt Lukaschenko in vollem Umfang Russland im Krieg gegen die Ukraine und macht Belarus damit zum Beteiligten der Aggression. Für die Präsidentschaftswahlen 2025 hat Lukaschenko seine abermalige Kandidatur bereits angekündigt.


1.Imja, 6. November 1997 
2.Belorussija i Rossija: obschtschestwa i gossudardstwa, Moskau 1998, S. 260 
3.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr 9 
4.Nemiga, 2000, Nr. 2, S. 35 
5.Sowetskaja Belorussija, 1. September 1994 
6.Femida, 22. Januar 1996 
7.Swaboda, 12. November 1996 
8.https://news.tut.by/economics/695690.htm 
9.Nasha Niva: Abstrukcyja, zroblenaja Lukašėnku rabotnikami MZKC, stala najmacnejšym psichalagičnym udaram 
10.Komsomolskaja prawda w Belorussiji, 20. Juni 2006 
11.Femida, 1995, Nr. 3 
12.Belorusskaja delowaja gaseta, 23. Dezember 1996 
13.Sowerschenno sekretno, 1997, Nr. 9 
14.Belorusskaja delowaja gaseta, 6. März 2002 
15.Fernsehauftritt am 17. September 2002 
16.Sowetskaja Belorussija, 20. Oktober 1996 
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