Titelseiten gedruckter Zeitungen und Zeitschriften spielen seit jeher eine besondere Rolle im Journalismus. Das gilt unvermindert auch im Online-Zeitalter. In Russland ist es vor allem die unabhängige Novaya Gazeta, die nach wie vor auch als Printausgabe erscheint (allerdings in anderem Format und nicht mehr täglich), und mit ihrer schlagkräftigen wie feinfühligen Covergestaltung stets aufs Neue überrascht – selbst unter aktuellen Zensurbedingungen. dekoder präsentiert eine Auswahl aus der jüngsten Vergangenheit.
„Zombiekiste zeigt Risse live im Ersten Kanal“ (16.03.2022)
Marina Owsjannikowa hatte als Redakteurin des Staatssenders Erster Kanal während der Nachrichten ein Plakat hochgehalten – „Kein Krieg“ (das Wort zeigt die Novaya entsprechend der neuen Gesetzgebung nur verpixelt) und „Glaubt nicht der Propaganda – hier werdet ihr belogen“. Nach einer Geldstrafe droht ihr nun ein Strafverfahren – in den Sozialen Medien wird sie als Heldin gefeiert. Und Zombiekiste: Das ist ein anderes Wort für den Fernseher mitsamt den Staatskanälen.
„Ausgabe der Novaya nach allen Regeln des geänderten Strafgesetzbuchs in Russland“ (09.03.2022)
Der Krieg darf nicht Krieg genannt werden: Nach einer kurzfristigen Strafrechtsänderung drohen Haftstrafen bis zu 15 Jahren auf die Verbreitung von „Falschinformationen“ über Russlands „Militäroperation“ in der Ukraine. Zahlreiche unabhängige Medien schließen oder werden geblockt – die Novaya entscheidet sich, unter den Bedingungen der Kriegszensur weiter zu berichten.
Vor dem Atompilz sind vier Tänzerinnen aus Tschaikowskis Schwanensee zu sehen: Während beim Putsch am 19. August 1991 Panzer durch Moskau rollten, zeigte das sowjetische Fernsehen klassische Musik und Ballettaufführungen. Schwanensee gilt seitdem als Chiffre für die Vertuschung der Wahrheit. Auch Doshd nutzte die Anspielung und verabschiedete sich mit ebendieser historischen Schwanensee-Aufführung vor seiner Sperrung am 3. März 2022.
„Russland. Bombardiert. Die Ukraine.“ (25.02.2022)
Einen Tag nach dem russischen Angriff auf die Ukraine erscheint die Novaya mit dieser Titelseite – die wegen der Zensurgesetze, die am 4. März von Putin unterschrieben wurden, im Archiv der Zeitung nur noch verpixelt zu sehen ist. Die Ausgabe erscheint zweisprachig – auf Russisch und Ukrainisch.
„Sie hat uns keine Wahlen gelassen“ (04.08.2021)
Ella Pamfilowa, einst auch in liberalen Kreisen geachtete Stimme für soziale Belange und Menschenrechte, leitet seit 2016 die Zentrale Wahlkommission Russlands, die zum Inbegriff für Wahlfälschungen wurde. Auch vor der Dumawahl 2021 steht sie massiv in der Kritik.
„Harte Nuss“ (14.09.2020)
September 2020, ganz Belarus ist erfasst von riesigen Protesten nach der gefälschten Präsidentschaftswahl. Machthaber Lukaschenko spricht immer wieder von Strippenziehern aus dem Westen und bemüht sich um Hilfe aus Moskau. Er präsentiert ein angeblich abgehörtes Telefonat zweier Agenten aus Berlin und Warschau mit Namen „Nick“ und „Mike“: Dem Gespräch zufolge wurde Nawalny gar nicht vergiftet und die ganze Geschichte nur geschaffen, um Putin von einer Einmischung in Belarus abzuhalten. Lukaschenko habe sich, so die Gesprächspartner, als „harte Nuss“ erwiesen. Die Episode sorgte in der Netzwelt für Spott und Hohn wegen ihrer zweifelhaften Glaubwürdigkeit.
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dekoder-Redaktion
Veröffentlicht am 23.03.2022 mit freundlicher Genehmigung der © Novaya Gazeta