Wird der Kreml das schwächer werdende Lukaschenko-Regime stabilisieren, oder eher auf einen neuen Kandidaten seines Vertrauens setzen? Ist es denkbar, dass Moskau in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine? Was sind überhaupt Russlands Interessen in Belarus, und was denken die Menschen übereinander? Ein Bystro von Astrid Sahm in sechs Fragen und Antworten – einfach durchklicken.
1. Wie bewertet der Kreml das Geschehen in Belarus? Politische Unruhen oder gar ein Machtwechsel können Putin doch nicht gleichgültig sein?
Der Kreml ist wie viele andere Akteure von den aktuellen Entwicklungen in Belarus überrascht worden. Ein Sieg Alexander Lukaschenkos bei der Präsidentschaftswahl am 9. August galt in Moskau stets als sicher. Dementsprechend gratulierte Wladimir Putin Lukaschenko bereits einen Tag später zu seiner Wiederwahl. Auf die wachsende gesellschaftliche Protestbewegung und das gewaltsame Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen die Demonstranten reagierte der Kreml zunächst zurückhaltend. Dies änderte sich erst am vergangenen Wochenende. Hierfür gibt es zwei Gründe: 1. Lukaschenko zeigte sich nicht in der Lage, die Situation unter Kontrolle zu bringen; 2. Moskau sieht seine geopolitischen Ansprüche seit der Verlautbarung von Vermittlungsangeboten aus Lettland, Litauen und Polen bedroht. Der Kreml verwahrt sich daher gegen jegliche Einmischung durch die EU oder die USA in Belarus. Nur wenn seine geopolitischen Interessen gewahrt blieben und kein innenpolitischer Fallout droht, könnte der Kreml einem Machtwechsel in Belarus zustimmen. Ein vorsichtiger Hinweis auf eine Kompromisssuche ist, dass Russlands Außenminister Lawrow am 19. August die belarussischen Wahlen als „nicht ideal“ bezeichnete und die Bereitschaft der Staatsführung zum Dialog mit ihren Bürgern hervorhob.
2. Alles, was in Belarus derzeit passiert (und passieren kann), sei für Putin eine Win-Win-Situation. Auf diese Formel bringen es zahlreiche unabhängige Beobachter. Was steckt hinter dieser Einschätzung?
Dies sehe ich anders. In Moskau ist man schon lange unzufrieden mit der Politik des belarussischen Präsidenten. Alexander Lukaschenko wollte sich bei den diesjährigen Wahlen als Garant der belarussischen Souveränität präsentieren. Bereits während der Covid-19-Pandemie, auf welche die Staatsführungen beider Länder ganz unterschiedlich reagierten, äußerte sich Lukaschenko kritisch über russische Einmischungsversuche. Auch im Wahlkampf gab es etliche russlandkritische Äußerungen. Der Höhepunkt war die offensichtlich inszenierte Verhaftung von 33 Söldnern der russischen Sicherheitsfirma Wagner in einem Sanatorium bei Minsk. Allerdings schloss Lukaschenko den Kreml explizit aus dem Vorwurf aus, russische Akteure würden versuchen, die Lage in Belarus zu destabilisieren. Der Kreml hielt sich daher mit Kommentaren zurück.
Die Annahme war, dass Lukaschenko aus der Präsidentschaftswahl so geschwächt hervorgehen würde, dass er gezwungen wäre, die russischen Integrationspläne zu akzeptieren. Stattdessen sieht sich der Kreml nun mit dem Risiko konfrontiert, die Kontrolle über Belarus zu verlieren. Hält sich Lukaschenkо an der Macht, kann er Moskau zwar nicht länger mit einer Westwende drohen. Allerdings dürfte dies antirussische Stimmungen in der belarussischen Gesellschaft stärken.
Im Falle eines Machttransfers ist unsicher, ob der Kreml einen Kandidaten seines Vertrauens lancieren kann. Zudem würde nach innen das Scheitern seiner bisherigen Belarus-Politik offensichtlich, da erneut eine „Revolution“ in der Nachbarschaft nicht verhindert werden konnte. Moskau steht daher vor einem Dilemma.
3.1999 schlossen Belarus und Russland einen Vertrag über die Schaffung eines Unionsstaats ab. Was steht da drin – und ist das mehr als ein Papiertiger?
Der Vertrag sieht unter anderem eine gemeinsame Verfassung, Währung, Zollbehörde, ein gemeinsames Gericht und einen Rechnungshof vor. Vor dem Hintergrund der Gründung der Eurasischen Wirtschaftsunion hatte die bilaterale Integration jedoch in den letzten Jahren an Bedeutung verloren. Erst Ende 2018 wurden die Pläne zum Aufbau des Unionsstaats überraschenderweise vom Kreml wieder aus der Schublade geholt. Im Laufe des Jahres 2019 verhandelten beide Seiten über 30 Integrationsfahrpläne. Besonders umstritten war die Roadmap Nr. 31, die die Gründung von supranationalen Organen vorsah. Aus diesem Grund wurde die für Dezember 2019 geplante Unterzeichnung des Integrationspakets verschoben. Allgemein wird angenommen, dass dem Kreml an der Bildung supranationaler Organe vor allem deshalb gelegen war, um eine Option für eine Führungsrolle Putins über 2024 hinaus zu haben. Diese Notwendigkeit ist nun entfallen mit der russischen Verfassungsänderung, die unter anderem eine Aufhebung der Amtszeitbegrenzung für Wladimir Putin vorsieht. Ein Integrationserfolg mit Belarus hätte zudem keinen derartigen Effekt für Putins Popularität wie die Krim-Annexion, die ein nationalpatriotisches Stimmungshoch auslöste.
4. Wie schaut die russische Gesellschaft auf Belarus? Ist das Land in seiner Bedeutung für die russische Geschichte ähnlich aufgeladen wie etwa die Krim – die Russland 2014 angegliedert hat?
Die meisten Russen haben ein positives Bild von Belarus und hegen keine Zweifel an den engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Dies gilt auch für den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, den einer Umfrage vom Juli 2020 zufolge immerhin noch 52 Prozent der Befragten positiv bewerteten. Es gibt keine relevanten belastenden Ereignisse in der Vergangenheit, die konfliktfördernd wirken könnten, und in Belarus befinden sich keine Orte, die von besonderer mythischer Bedeutung für das nationale Selbstverständnis Russlands sind. Und so wird ein Zusammenschluss beider Staaten mit einer gemeinsamen Staatsführung nur von einer Minderheit gewünscht. Allerdings würden eine eventuelle Westwende von Belarus und ein Austritt des Landes aus den bestehenden Integrationsformaten mit Russland äußerst negativ wahrgenommen werden. Insgesamt sind die politischen Entwicklungen in beiden Ländern eng miteinander verwoben. Dies gilt auch für die politische Opposition. So berichteten der YouTube-Kanal von Alexej Nawalny und der unabhängige Fernsehkanal Doshd stundenlang über die Ereignisse in Belarus. Auch die Demonstranten in Chabarowsk brachten ihre Solidarität mit der belarussischen Protestbewegung zum Ausdruck. Insgesamt fragen sich in Russland viele Menschen, ob sie in Belarus derzeit die mögliche Entwicklung des eigenen Lands bei den Präsidentschaftswahlen 2024 beobachten können.
5. Und umgekehrt: Wie steht man in Belarus zu Russland? Sind die Beziehungen zwischen den Ländern überhaupt Thema der Opposition oder bei den Protesten?
Die engen Beziehungen beider Länder stehen auch in Belarus nicht zur Disposition. Allerdings ist die Unterstützung der Belarussen für eine enge politische Integration beider Staaten in den vergangenen Jahren deutlich rückläufig. Dem belarussischen Soziologen Andrej Wardomatzki zufolge ist die Unterstützung für die Union von Belarus und Russland im Laufe des Jahres 2019 von 60,4 auf 40,4 Prozent gesunken. Anfang 2020 befürworteten nur 12,8 Prozent einen gemeinsamen Staat, während sich eine deutliche Mehrheit (74,6 Prozent) für freundschaftliche Beziehungen von zwei unabhängigen Staaten mit offenen Grenzen, das heißt ohne Visa- und Zollschranken, aussprach.
Die aktuelle Protestbewegung konzentriert sich ausschließlich auf innenpolitische Fragen. Sie ist in erster Linie gegen Präsident Lukaschenko gerichtet, der infolge seiner Verharmlosung der Covid-19-Pandemie einen massiven Vertrauensverlust erlitten hat. Ihre zentrale Forderung ist die Umsetzung des Rechts auf freie und faire Wahlen. Der vereinigte Wahlkampfstab der Alternativkandidatin Swetlana Tichanowskaja betont in seinen öffentlichen Statements zudem stets, dass sie keine grundsätzliche Änderung des außenpolitischen Kurses von Belarus und gleichermaßen gute Beziehungen zu allen Nachbarländern anstreben. Hierzu steht auch die Verwendung der Weiß-Rot-Weißen Flagge durch die Opposition nicht im Widerspruch.
6. Einige russische Beobachter halten es für denkbar, dass Russland in Belarus genauso interveniert, wie 2014 in der Ukraine. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit für dieses Szenario?
Eine offene Intervention wäre für Russland mit hohen Kosten verbunden. So müsste der Kreml dann auch die Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung von Belarus übernehmen, was angesichts der wirtschaftlichen Stagnation in Russland eine hohe Belastung wäre. Zudem müsste der Kreml in diesem Falle mit Widerstand aus der belarussischen Gesellschaft sowie mit neuen westlichen Sanktionen rechnen. Damit würde er sich international weiter isolieren. Wahrscheinlicher sind daher verdeckte Versuche der Einflussnahme. Damit könnten unterschiedliche Zielsetzungen verfolgt werden. So hat die belarussische Liberal-Demokratische Partei am 18. August zur Bildung eines Koordinationskomitees der „Volkspatriotischen Bewegung“ aufgerufen. Diese ist offensichtlich als Gegenbewegung zu den aktuellen Protesten gedacht und soll diese neutralisieren helfen. Hinter den Kulissen dürfte der Kreml nach geeigneten Personen und Wegen suchen, um einen geordneten Machttransfer im eigenen Sinne zu gewährleisten. Mit seinen jüngsten öffentlichen Äußerungen über die akute Gefahr einer westlichen Einmischung in Belarus und dem Vorwurf an den Koordinationsrat der Opposition, antirussische Ziele zu verfolgen, setzt Alexander Lukaschenko den Kreml allerdings unter Handlungsdruck. Eine weitere Eskalation, die zu einer direkten Intervention Russlands führt, kann daher nicht ausgeschlossen werden.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Autorin: Astrid Sahm
Veröffentlicht am 21.08.2020