Die außenpolitische Strategie Russlands scheint aufzugehen: Der Syrien-Konflikt ist ohne Russland nicht lösbar, der Westen zerbricht sich den Kopf an der Ukraine-Frage, und alle Welt hat Angst vor russischen Hackern. Bereits vor über einem Jahr bemerkte der Politikwissenschaftler Sergej Medwedew, dass Russland neben Öl und Gas vor allem eines exportiere: Angst. Mit diesem Exportgut erscheine das eigentlich schwache Land im westlichen Ausland allmächtig.
Dem kann der Journalist Michail Krostikow auf Carnegie.ru allerdings nur sehr wenig abgewinnen.
Gegen die russische Außenpolitik der letzten Jahre wettern häufig sogar diejenigen, die die Postulate grundsätzlich teilen. Bemängelt wird vor allem das Fehlen eines strategischen Kalküls, eines Plans wenigstens für die nächsten zehn Jahre. Russland, so die Kritiker, handele situativ und taktisch, es reagiere bloß auf hereinbrechende Schicksalsschläge und verliere allmählich an Kraft.
Im Grunde jedoch hat Russland über die letzten drei Jahre eine vollwertige außenpolitische Strategie entwickelt, die man fürs Erste als Honigdachs-Doktrin bezeichnen könnte.
Der Honigdachs merkt sich, wer ihn beleidigt, und macht ihm das Leben schwer
Die kleinen Tiere zeichnen sich vor allem durch eine für ihre Größe unglaubliche Kraft, Zähigkeit und Rachsucht aus. Honigdachse werden dank noch nicht vollständig erforschter regenerativer Eigenschaften sogar mit dem Gift der Kobra fertig – der tödliche Biss setzt sie nur für eine Stunde außer Gefecht. Das kleine Raubtier greift Rivalen an, mit denen es sich auf den ersten Blick, in Anbetracht der Gewichtsklasse, nicht anlegen sollte: Löwen, Tiger und sogar Alligatoren. Es gelingt ihm natürlich nicht, sie zu töten, aber sie aus dem eigenen Revier zu vertreiben – das schafft es meistens, wovon man sich leicht in zahlreichen YouTube-Videos überzeugen kann. Nicht zuletzt hat der Honigdachs ein hervorragendes Gedächtnis: Er merkt sich genau, wer ihn beleidigt hat, und macht demjenigen noch lange auf jede erdenkliche Weise das Leben schwer.
Die Außenpolitik soll zeigen, dass Russland international in der Schwergewichtsklasse spielt
Das Verhalten dieser Tiere lässt sich leicht auf die russische Außenpolitik der letzten drei bis vier Jahre übertragen. Diese erfüllt fünf grundsätzliche Aufgaben: Erstens, zu zeigen, dass Russland auf dem internationalen Parkett in der Schwergewichtsklasse spielt, in einer Liga mit den USA und der EU, und sogar noch vor Ländern wie zum Beispiel China.
Moskau kann eine eigene Wirtschaftsunion bilden (die Eurasische Union), einen Konflikt auslösen (die Ukraine), eine Schlüsselrolle in einem bereits bestehenden Konflikt einnehmen (Syrien), und es scheut nicht vor der Konfrontation mit den heftigsten Gegnern zurück.
Dabei ist Russlands Staatshaushalt (2016 rund 233 Milliarden US-Dollar) lächerlich klein im Vergleich zu dem der USA (3,3 Billionen Dollar, also 14 Mal so viel) und geradezu absurd im Vergleich zum Gesamtbudget der EU-Länder (6,4 Billionen Euro, also 32,3 Mal so viel). Beim Verteidigungsbudget sind die Unterschiede zwar geringer, aber immer noch bezeichnend: Das der USA lag 2016 nach Angaben des SIPRI (Stockholm International Peace Research Institute) bei rund 611 Milliarden Dollar, das der EU (2015, laut der European Defense Agency) bei 199 Milliarden Euro, und das russische bei rund 69 Milliarden Dollar.
Alles unwichtig, sagt die russische Führung. Wenn's drauf ankommt, schlagen wir euch nicht mit Dollars und Euros, sondern mit TOS-1 "Buratino"-Geschossen. Finanzielle Kennziffern hätten keinerlei Bedeutung, das militärisch-politische Potential Russlands liege bei weitem über dem ökonomischen.
Wir werden euch das Leben schwermachen ...
Die zweite Aufgabe ist zu zeigen, dass Russland, wenn es will, jedem das Leben schwermachen kann. Die USA möchten Assad entmachten? Tut uns leid, aber nein. Die EU will den Ukraine-Konflikt zugunsten Kiews lösen? Und wieder nein, sorry.
Stattdessen wird Geld in rechts- und linksradikale Parteien gesteckt, die angesichts der anhaltenden Krise ohnehin genügend Zulauf haben. Ist es möglich, dass sie an die Macht kommen? Wohl kaum. Lässt ihr Erfolg die traditionellen Politiker nervös werden? Ohne Frage.
Falls ihr uns in die Quere kommt, will Moskau sagen, dann stellt euch schon mal auf jahrelange Kopfschmerzen ein. Wir werden euch das Leben schwermachen, eure Initiativen behindern und die innenpolitische Lage zerrütten, indem wir uns die Verwundbarkeit der Demokratie zunutze machen. Wenn ihr das wollt – nur zu, aber wollt ihr das wirklich?
Nehmt euren Trump wieder mit nach Russland!
Drittens soll innerhalb der internationalen Beziehungen eine eigene Linie aufgebaut werden, und das tut Moskau fürwahr. Lange hat man der russischen Außenpolitik vorgeworfen, passiv zu sein, nur auf das Handeln der anderen zu reagieren, aber jetzt hat sie offensichtlich zum Gegenangriff ausgeholt.
Die reale oder mutmaßliche Einmischung Moskaus in politische Prozesse in einem Dutzend Länder ist zum wichtigsten medialen Ereignis in Europa und Nordamerika geworden. Die praktischen Auswirkungen dieser Einmischung, dort wo sie tatsächlich stattgefunden hat, mögen verschwindend gering sein. Doch die Hysterie der westlichen Politiker erweckt den Eindruck, als wäre der Kreml allmächtig und könnte leicht das politische Geschehen in Ländern beeinflussen, die ihm wirtschaftlich weit überlegen sind.
Als Ergebnis protestieren in den USA Menschen auf Anti-Trump-Demos mit Plakaten, auf denen auf Russisch zu lesen ist: „Nehmt euren Trump wieder mit nach Russland.“ Wer hätte das noch in den 2000er Jahren zu träumen gewagt? Wenn das mal keine eigene Linie ist.
Die allmächtigen russischen Hacker im Cyberspace
Viertens will man zeigen, dass Russland ganz weit vorne ist, wenn es um die Mittel der modernen Kriegsführung geht: den Informationskrieg und den Krieg im Cyberspace. Das Jahresbudget des Fernsehkanals RT wirkt geradezu lachhaft, verglichen mit dem der westlichen Kollegen: 323 Millionen gegen zum Beispiel 6,6 Milliarden bei der BBC (Jahresumsatz 2015/2016). Analytiker werden nicht müde, die minimale Reichweite von RT zu unterstreichen (in keinem Land der EU erreicht der Sender mehr als zwei Prozent der Zuschauer), doch wozu gründet man dann auf EU- und Länder-Ebene laufend „Arbeitsgruppen zur Bekämpfung von Desinformation“?
Im Cyberspace ist alles noch schlimmer: Die allmächtigen russischen Hacker haben angeblich die US-Wahlen geknackt, den Bundestag, das dänische Verteidigungsministerium, und, wenn man den jüngsten Berichten glauben darf, auch beim Brexit nachgeholfen. Die Namen der angeblich von GRU und SWR betriebenen Hackerkollektive Cozy Bear und Fancy Bear sind in aller Munde. Der Effekt, den Russland mit geringstmöglichem Aufwand erzielt, ist phänomenal.
In Moskau geht man auf die Straße? Uns doch egal
Und schließlich Aufgabe Nummer fünf: Moskau will demonstrieren, wie vollkommen unempfindlich es gegen Reaktionen aus der eigenen Bevölkerung ist. Der Konflikt mit der Ukraine macht Geschäftsleuten und Menschen, die dort Verwandtschaft haben, schwer zu schaffen? Interessiert uns nicht.
In Moskau geht man gegen Wladimir Putin auf die Straße? Uns doch egal.
Staatsgesellschaften und zahlreichen Unternehmen, die sich anboten, wurde der Kredithahn abgedreht? Selbst schuld, wer Feindesgeld annimmt.
Der Kreml will uns zeigen, dass ihn die Sanktionen als Phänomen nicht tangieren: Die Kosten werden auf die Bevölkerung umgelegt, und die ist vom politischen Prozess ausgeschlossen. Die Staatsbeamten aus den Sanktionslisten leben auch weiterhin wie arabische Ölscheichs und kaufen ihren Wein bei Tschitschwarkin in London.
Die Honigdachs-Strategie verfolgt zwei Ziele: Erstens will man alle Konkurrenten Moskaus davon überzeugen, dass der Nutzen eines Eingriffs in seine existenziellen Interessen viel geringer ist als der potentielle Schaden. Russland vergisst nicht, verzeiht nicht, setzt seine begrenzten Ressourcen äußerst geschickt ein und hat keinerlei Angst vor Gegenangriffen.
Zweitens will man zeigen, dass es völlig sinnlos ist, auf die russische Innenpolitik Einfluss nehmen zu wollen, schon gar nicht über ein „Sponsern der Demokratie“. Das Volk ist in Russland vom Staat getrennt, und deshalb muss man sich mit den Eliten einigen. Die mögen einem gefallen oder auch nicht – „Geografie ist Schicksal“, und ergo ist der einzige Weg, Moskau eine Reihe von Interessen zuzugestehen und sich um konstruktive Beziehungen zu bemühen.
Die Strategie verspricht bei minimalem Einsatz enormen Nutzen
Außenpolitisch betrachtet ist die Honigdachs-Strategie äußerst effektiv: Mit – im internationalen Vergleich – minimalem Einsatz (Geld haben wir keins, und alle wissen's) wird eine enorme und langfristige Wirkung erzielt. Zudem bekommt Russland Hilfe von den westlichen Medien, die nach Traffic gieren, den die „russische Bedrohung“ bringt: Belanglose Geschichten werden aufgebläht zu echten James-Bond-Comics.
Und so bekommt die politische Klasse in Russland nach und nach, was sie schon lange will: die Anerkennung als äußerst gefährlicher Gegner. Es ist leicht, Hussein oder Gaddafi mit Krieg zu drohen. Viel schwieriger ist es im Falle des riesigen, mit den modernsten Mitteln der Kriegsführung ausgestatteten Russland – dessen Führung bereit ist, die „nationalen Interessen“ bis zum letzten Russen zu „verteidigen“.
Die Honigdachs-Doktrin hat aber auch Schwächen. Es ist eine Überlebensstrategie, keine Strategie der Entwicklung. Sie hat nichts zu tun mit dem Anlocken von Investoren, mit einer Verbesserung des Geschäftsklimas, mit dem Schaffen eines positiven Russland-Bildes, mit der Modernisierung der Wirtschaft oder anderen langweiligen Dingen. Sie ist einzig dazu da, die „Souveränität zu gewährleisten“, was nichts anderes heißt als die völlige Autonomie der Elite von äußeren und inneren Einflüssen.
Vom wirtschaftlichen Standpunkt aus muss Russland mit dem Westen kooperieren, doch dafür sind gewisse Zugeständnisse nötig. Und das wiederum hieße, die absolute Autonomie bei Entscheidungen zu verlieren. Es gefährdet den Status der russischen Elite, ergo ist es inakzeptabel.
Die Kontrahenten erkennen mittlerweile die Spielzüge Moskaus
Darüber hinaus basiert der Erfolg vieler Elemente der Honigdachs-Doktrin auf dem Kriegsnebel-Effekt, das heißt dem gegnerischen Mangel an Informationen über die Ziele, die Russland verfolgt, und die Handlungen, die es auszuführen gedenkt. Leider lichtet sich der Nebel nach und nach; die Kontrahenten lernen, Moskaus Spielzüge zu erkennen und sogar vorauszusagen, die Effektivität der Methode sinkt. Für die westlichen Geheimdienste wird es zur Routine, Trolle und Hacker aufzuspüren, Politiker, denen Verbindungen zu Moskau vorgeworfen werden, scheiden immer früher aus dem Rennen aus und erhalten immer weniger Stimmen.
Die Honigdachs-Doktrin mag Russland durchaus in die Lage versetzen, seinen Partnern Respekt abzuringen. Aber echten Aufschwung kann sie dem Land nur als Teil einer weiter gedachten Strategie bringen. Die Angst, die die russische Außenpolitik aktuell sät, müsste sich in Achtung verwandeln, nicht in den Wunsch, eine Quarantänezone um die Russische Föderation zu errichten und so wenig wie möglich mit den Russen zu tun zu haben.