Zufrieden zog Dimitri Medwedew Mitte Juli die WM-Bilanz: Mehr als drei Millionen ausländische Touristen haben Russland besucht, die Mehrheit von ihnen verließ das Land mit guten Eindrücken, so der Premierminister.
Gute Eindrücke sammelten offenbar auch die Russen selbst: Nicht nur die unabhängigen Medien, auch die staatlich-gelenkten schrieben während der WM von den freundlichen ausländischen Fans, die eine ausgezeichnete Stimmung im Land verbreiten. Viele Beobachter nahmen die WM deshalb als eine Art Verbrüderungsfest wahr. Manche konservativen Politiker warnten zwar vereinzelt vor Touristen, dies tat dem als Völkerverständigung empfundenen Fest allerdings keinen Abbruch.
Vor diesem Hintergrund bewerten manche Analysten die neuesten Meinungsumfragen von Lewada als eine etwas andere WM-Bilanz: Die antiwestlichen Stimmungen in der Gesellschaft haben nämlich rapide abgenommen, auch die Zustimmungswerte für den Präsidenten sowie für die Regierung sanken deutlich.
Während das Sinken der Zustimmungswerte für den Präsidenten auch der unpopulären Rentenreform geschuldet sein könne, so sei die dem Westen gegenüber freundlichere Stimmung größtenteils auf die WM zurückzuführen, so die Erklärung. Seit Jahren kritisieren Analysten, dass staatlich-gelenkte Medien von russophoben Ausländern berichten, die die Festung Russland belagern und danach trachten, das Land in die Knie zu zwingen. Die WM, mit ihren fröhlichen und freundlichen Fans, habe dieses Bild ins Wanken gebracht.
Alles nur eine Momentaufnahme? Dreht sich die Stimmung nach den neuesten US-Sanktionen wieder zurück? Möglich, meint Lilija Schewzowa, eine der renommiertesten Politologinnen Russlands. In einem Meinungsstück auf Rosbalt ahnt sie dennoch ein Scheitern des System Putin.
Quelle: Lewada-Zentrum
Das Lewada-Zentrum hat nachgewiesen, dass die tragende Säule des Systems in Russland wegsackt: Die Russen wollen nicht länger in einer belagerten Festung leben und gegen den Westen kämpfen. 68 Prozent sprechen sich heute für eine Annäherung an den Westen aus. Dadurch werden Putins Beliebtheitswerte stärker abfallen und die Proteststimmung wird entsprechend zunehmen. Beliebtheitswerte kann man pimpen und Proteste kann man neutralisieren, wenn das Volk bereit ist, ins Kriegslager zurückzukehren. Aber was, wenn die Mehrheit dort nicht hinwill? Wenn die Menschen des militaristischen Geheuls müde sind? Allem nach zu urteilen ist den russischen Bürgern sehr bewusst, dass die Konfrontation Russlands mit dem Westen ein Ablenkungsmanöver ist: von innenpolitischen Problemen und von der Unfähigkeit der Regierenden, diese zu lösen.
Mehr dazu in der Infografik: Wie beliebt ist Putin? / Quelle: Lewada-Zentrum
Die Autokratie verliert ihre Legitimation und die Regierung der Räuberelite wird in die Brüche gehen, da sie alles Liberale zu einer Gefahr für die Staatlichkeit Russlands gemacht hat, gegen das unbedingt Widerstand geleistet werden müsse.
Es ist doch wirklich frappierend: Die russischen Bürger sprechen von einer Normalisierung der Beziehungen zum Westen, und das trotz der westlichen Sanktionen! Das heißt, diese Sanktionen binden das Volk nicht an den Kreml, wie das viele erwartet haben.
Das, was wir derzeit beobachten, zerstört die übliche Logik: Der Amerikanische Kongress prüft ein neues Paket mit höllischen Sanktionen gegen Russland. Und die Einstellung russischer Bürger gegenüber den USA beginnt, wie Lewada sagt, sich zu verbessern: Wenn im Mai 2018 noch 69 Prozent eine negative Haltung gegenüber den USA hatten („gut“ antworteten damals 20 Prozent), so ist die positive Haltung im Juli auf 42 Prozent gestiegen, die negative ist auf 40 Prozent gesunken.
Das heißt: Den russischen Bürgern ist klar, dass die Sanktionen nicht gegen sie gerichtet sich, sondern gegen die sie korrumpierende politische Klasse. Oder etwa nicht?
Mehr dazu in der Infografik: Russlands Verhältnis zu den USA / Quelle: Lewada-Zentrum
Die Zahlen von Lewada beschreiben das Versagen des Kreml gleich an mehreren Fronten:
Erstens ist es ein Eingeständnis, dass die russische Außenpolititk versagt hat, die Russland vor der Welt zu einem Aussätzigen gemacht hat. Bestätigt wird das durch die abgefallenen Ratings früher sehr beliebter Minister wie Lawrow und Schoigu, auf deren Kappe der aggressiv-militaristische Kurs Russlands geht („Wenn sie uns nicht lieben und anerkennen, sollen sie wenigstens Angst vor uns haben!”).
Die russische Außenpolititk schafft kein Wohlergehen, sondern ist zu einer schweren Bürde geworden, die aus dem klammen Haushalt Geld für Kriege und außenpolitische Abenteuer abzieht. Das wird den Menschen langsam klar.
Zweitens sehen wir ein ohrenbetäubendes Zusammenkrachen der Kreml-Propaganda, die schon seit Jahrzehnten dem Volk gegenüber den Westen einen Feind nennt. Kurz, im Kreml gibt es Anlass zu großer Beunruhigung. Und was, wenn eine positive Haltung der russischen Bürger dem Westen gegenüber plötzlich zu Sympathien für, Gott bewahre, liberale Werte führt?
Das Schlimmste ist hier, das unser System nicht imstande ist, sich umzugestalten. Es kann sich nicht verabschieden vom Überleben als einziger Idee, also von der Suche nach einem äußeren Feind, der dann innere Feinde schafft. Andere Ideen hat die Autokratie nicht hervorgebracht. Und das bedeutet, dass die Jungs dort Wege suchen werden, um die Bevölkerung zurückzuführen in eine aggressive und feindliche Gesinnung gegenüber der liberalen Welt – der für die Machthaber tödlichen Alternative.
All dies muss schnell geschehen, damit sich für die wachsende Unzufriedenheit der russischen Bürger kein anderes Objekt findet – Sie wissen schon, welches... Also wird die Regierung neue mythische „Bedrohungen” erschaffen, neue Anlässe suchen, um Hörner zu zeigen und der Welt mit einer Schreckensfratze Angst einzujagen. Sie wird neue Wege finden, sie wieder um den Kreml zu scharen. Es sei an die Putinworte erinnert: „Kommt lasst uns sterben hier bei Moskau, wie unsre Brüder einst gestorben sind! Zu sterben haben wir gelobt, den Treueeid gehalten in der Schlacht bei Borodino.” Ja, die werden wirklich warten, dass wir für sie sterben! Und die Wahrscheinlichkeit oder sogar Zwangsläufigkeit, dass sie der Gesellschaft eine neue Bedrohung bescheren werden, die macht Angst, wenn wir uns an die vormaligen, in der russischen Geschichte nicht weit zurückliegenden Momente der Mobilisierung erinnern ….
Der Versuch der Regierung, Russland wieder zur antiwestlichen Zone zu machen, wird eine neue Herausforderung für das Volk, ein Test, wie vernunftgelenkt es ist und wie fähig, politischen Lug und Trug zu erkennen. Wir wollen das Volk nicht unterschätzen.