Nach dem Sturz von Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 kursierte in Russland eine Anekdote: Der langjährige Diktator, so hieß es, hatte einige Monate vor seinem gewaltsamen Tod 89 Prozent Zustimmung in Meinungsumfragen.
Dass Meinungsumfragen in autoritären Systemen nur unter bestimmten Vorzeichen abbilden, was eine Gesellschaft tatsächlich denkt, ist in der Wissenschaft hinlänglich bekannt. Wie stabil sind aus wissenschaftlicher Sicht aber autoritäre Regime überhaupt? An dieser Frage sind schon viele Politologen gescheitert: Weder konnten sie etwa den Zerfall der Sowjetunion voraussehen noch Anhaltspunkte für den Ausbruch des Arabischen Frühlings liefern.
Wie stabil ist das System Putin? Zu dieser Frage gibt es seit einigen Jahren zahlreiche journalistische und wissenschaftliche Beiträge. Laut der Politologin Lilija Schewzowa gibt es nun einen möglichen Auslöser, der das System ins Wanken bringen könnte: Es ist eine Fledermaus aus Wuhan.
2020 sollte für den Kreml das Jahr des Triumphs werden. Das Jahr der Legitimierung lebenslänglicher Herrschaft. Eines jeden, der sie personifiziert.
Doch 2020 wurde für Präsident Putin ein Waterloo. Sämtliche Pläne für die persönliche Zukunft sind in den Mülleimer geflogen. Die Säulen, die den Staat stützen, sind ins Wanken gekommen. Das wie ein Schlachtschiff gebaute System, das den Feind abhalten und den Raum siegreich erobern sollte, ist erstarrt und mit einer neuen, für das System unsichtbaren Gefahr konfrontiert: Das Coronavirus, dieses Miststück, ist jener unerwartete Todbringer geworden, nicht nur für den Menschen, sondern auch für dieses Systemkonstrukt, das für eine andere Zeit geschaffen war. Die autoritäre Führung hat ihre Unfähigkeit bewiesen, mit autoritären Methoden auf die Bedrohung zu reagieren!
Der russische Staat, der durch Militarisierung, Expansion und die atomare Faust auf Großmachtstreben aus ist, wirkt hilflos, wenn es um den Schutz menschlichen Lebens geht – sogar, wenn es das Leben der herrschenden Klasse betrifft.
Das Coronavirus ist ein unerwarteter Todbringer geworden, nicht nur für den Menschen, sondern auch für dieses Systemkonstrukt
In der Machtvertikale fängt es an ordentlich zu krachen, wenn von oben chaotische Anweisungen kommen. Der Leader selbst haut sie kaputt: Das Zentrum hat sich aus der Verantwortung gestohlen, und die unteren Kräfte können sie nicht übernehmen, ihnen fehlen die Mittel und der Willen. Die Weigerung des Kreml, Direktiven zu geben – das ist die Unterwanderung eines Staates, der aufgebaut ist wie eine Pyramide.
Derzeit ist von dieser Bedrohung nichts zu spüren, da die regionale Elite nicht mutig genug ist, um die Stimme zu erheben. Doch was geschieht, falls sie mit einem Mal die Schuld für das Versagen des Zentrums nicht auf sich nehmen will, wenn sie es mit der verzweifelten Bevölkerung zu tun kriegt?
Autokratie setzt die Einsamkeit des Leaders voraus, der über das Volk erhaben ist. Doch ein Leader muss in vorderster Reihe präsent sein, die Nation mit Mut stabilisieren und ihr mit seiner Erscheinung Vertrauen einflößen. Der Leader verliert seine Anziehungskraft, wenn er sich hinter den Kulissen versteckt, was wie eine Flucht wirkt. Allmacht wird zu Ohnmacht.
Der Leader verliert seine Anziehungskraft
Das vom Kreml für den Kontakt zum Volk gewählte Format – eine Videoansprache inmitten einer Galerie brummelnder Köpfe – wirkt wie eine Karikatur. Der Kreml hat keinerlei Gespür dafür, wie er im Moment einer existentiellen Krise die Bevölkerung am besten erreicht. Ein einsamer alter Mann, der die Parade am 9. Mai im leeren Hof des Kreml abnimmt – dieses Bild kann sich nur jemand ausgedacht haben, der die Umfragewerte Putins in den Keller bringen wollte.
Im Kampf gegen die Epidemie hat der Kreml sein Verständnis von Russland als Sozialstaat aufgegeben, der Gleichheit und Gerechtigkeit bei der Verteilung der Wirtschaftsgüter gewährleisten soll (Artikel 7 der Russischen Verfassung). Die Regierung hat den neuen Vertrag zwischen Putin und der Gesellschaft zerstört: Ich gebe euch soziale Garantien, und ihr gebt mir die lebenslange Herrschaft. Die vom Präsidenten am 11. Mai versprochenen Almosen können nichts am Offensichtlichen ändern: Die Rettung der Ertrinkenden ist die Aufgabe der Ertrinkenden.
Die Staatsmacht braucht den Sieg
Der Rückgang des Ölpreises war ein weiterer Schlag, der den Prozess des Niedergangs von Russland als Energiesupermacht einleitete. Zerstört wird nicht nur das imperiale Rückgrat des Landes, sondern auch die Finanzierungsquelle des Systems.
Die Staatsmacht braucht den Sieg über das Coronavirus. Unverzüglich! Die Staatsmacht weiß, dass eine Politik nach dem Motto „keine Arbeit – kein Geld“ sowohl den Zusammenbruch als auch eine Explosion provoziert. Daher rührt die Entscheidung, die Epidemie für beendet zu erklären, noch lange bevor sie den Höhepunkt erreicht hat. Doch der Kreml muss sauber bleiben: Die Verantwortung für die Beendigung (und die Folgen!) der Epidemie werden die Regionen übernehmen. Und wenn es nicht gelingt, das Spiel siegreich zu beenden, was dann?
Es ist völlig klar, warum sie es so eilig haben: Man muss schnellstens – während das Land gelähmt ist – die lebenslange Herrschaft durch eine Abstimmung legitimieren. Doch das ist die Falle: Auf dieses Ziel zu verzichten bedeutet politischen Selbstmord, die Fortsetzung des hilflosen Regierens kann das Ende beschleunigen …
Und wenn es nicht gelingt, das Spiel siegreich zu beenden, was dann?
Die weltpolitische Lage sorgt für weiteres Kopfzerbrechen. Irgendwie ist es erfreulich, dass Amerika sich in sein Schneckenhaus verkriecht. Das bedeutet aber, dass es keinen Grund mehr geben kann, über die amerikanische Hegemonie zu jammern. Doch woher einen neuen Feind nehmen, den wir unbedingt brauchen? Die Polen und Ukrainer taugen kaum für diese Rolle – das wäre zu kränkend für den Großmacht-Stolz.
Das Vakuum provoziert die Chinesen, mit den Muskeln zu spielen. Doch China ist nicht Amerika. China spürt die Notwendigkeit, auf Jahrhunderte währende Erniedrigungen zu antworten. Die Nachbarschaft des verjüngten Drachen mit dem alternden Bären wird früher oder später die Unvereinbarkeit der beiden sichtbar werden lassen.
Bis vor kurzem freute sich Russland noch darüber, dass die Welt dem russischen Weg gefolgt war und das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten wertzuschätzen lernte. Doch werden die Länder weltweit ihre inneren Angelegenheiten nun auch Russland gegenüber zu schützen wissen.
Der russische Traum von einer multipolaren Welt, in der jeder sich wertschätzende Staat seine eigene Galaxie hat, wirkt wie dräuende Kopfschmerzen. Wie stehen unsere Chancen, ein solcher Pol zu werden, wenn man bedenkt, wie verschwindend gering unser Potenzial im Vergleich zum Westen und zu China ist? Wo ist die Garantie, dass die, die in unserer Galaxie die Kandidaten für Satelliten-Rollen sind, bereit sind, nach unserer Pfeife zu tanzen? Sie sehen doch, wie Minsk ganz aus der Reihe tanzt.
Es gibt allerdings wirklich eine Chance, ein Pol in der zweiten Garde von Staaten zu werden. Aber wie steht es dann um das Ego der Supermacht?
Wer hätte sich vorstellen können, dass eine Fledermaus im fernen Wuhan solche Erschütterungen und Zusammenbrüche ehrgeiziger Pläne verursachen würde. Unser Kriegsschiff ist weiterhin auf Fahrt. Der Kapitän hat die Brücke verlassen. Die Mannschaft wirkt nicht gerade vertrauenserweckend. Der Kurs ist unklar. Aber es ist klar, dass es in die nicht lang zurückliegende wohlgefällige Vergangenheit kein Zurück mehr gibt.
Ach, diese ekelhafte Fledermaus ...