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Was kommt nach Putin?

Verfassungen sind eigentlich vor allem dafür da, um die Macht der Machthaber zu begrenzen. In der Russischen Föderation jedoch ist seit 1993 der Präsident Garant der Verfassung. Absurd, meint Grigori Golossow, einer der wichtigsten Politikwissenschaftler des Landes. Denn wie kann jemand etwas garantieren, was seine eigene Macht begrenzen soll? Und dies, so Golossow, sei nicht der einzige Systemfehler, der Putin den Weg zu seiner autoritären Konsolidierung Russlands ebnete.

Eine Korrektur dieser Fehler bedeute auch eine tiefgreifende Reform des gesamten politischen Systems. Nach 2024 freilich, denn Putins Triumph bei der Präsidentschaftswahl 2018 gilt als sicher.

Um nicht die alten Fehler zu wiederholen, müsse sich das liberal-demokratische Russland jetzt schon Gedanken machen, was nach Putin kommt und wie denn dieses Szenario verwirklicht werden kann. Grigori Golosssow bringt auf Takie Dela seine Vorschläge ein. 

Source Takie dela

Auf Putin folgt Putin folgt Putin? / © Damian Entwistle/flickr.com

Mittlerweile kann man sich nur schwer vorstellen, dass es in Russland vor nicht allzu langer Zeit noch überhaupt keinen Präsidenten gab, weder in der Sowjetunion noch in den Bruderrepubliken – bis 1990.

Wie alle Staaten mit kommunistischem Regime hatte auch die UdSSR formal ein parlamentarisches System. In der Praxis lag alle Macht bei der KPdSU, die den politischen Kern des Systems darstellte. Dieser Kern bildete sich 1990 und 1991 allmählich zurück – und die Macht des ersten Präsidenten der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, hing in der Luft. Im August 1991 versuchte die Parteielite, diese Macht zu ergreifen: Sie erklärte den Ausnahmezustand und ließ in Moskau Panzer auffahren. Doch sie scheiterte auf ganzer Linie.

Das Tätigkeitsverbot für die Kommunistische Partei und der Zerfall der Sowjetunion zogen Gorbatschow beide Stühle weg. Er landete im politischen Nichts – zusammen mit dem Staat, den er angeführt hatte.

Gorbatschow landete im politischen Nichts

Völlig anders war die Lage von Boris Jelzin zu Beginn seines Weges als Staatsoberhaupt Russlands. Kontrolle über die Kommunistische Partei gewinnen konnte er nicht; er wollte es wohl auch nicht. Macht konnte Jelzin allein über die staatlichen Strukturen gewinnen. Also erlangte er zunächst den Posten des Vorsitzenden des Obersten Sowjets der Russischen Föderation (damals noch der RSFSR) und wurde danach, im Juni 1991, zum ersten gewählten Präsidenten Russlands. Ein grundlegender Wandel der politischen Institutionen in Russland erfolgte daraufhin allerdings nicht. Formal lag die Macht weiterhin in den Händen der Sowjets, Jelzins Vollmachten waren vor allem repräsentativer Natur. In dieser Hinsicht unterschied sich der Status Jelzins kaum von dem Gorbatschows.

Der politische Sieg im August 1991 ermöglichte es Jelzin, weitreichende Macht in seinen Händen zu konzentrieren. Vom verschreckten und desorientierten Parlament Russlands erwirkte er außerordentliche Vollmachten zur Durchführung von Wirtschaftsreformen. Mehr noch: Von November 1991 bis Juni 1992 war Jelzin gleichzeitig Präsident und Regierungschef.

Panzer beschießen das Parlament

Das Parlament erholte sich jedoch mit der Zeit von dem Schock und begann einen systematischen Angriff auf Jelzin, dessen verfassungsmäßige Vollmachten als Präsident nach wie vor gegen Null gingen. Die Verfassung zu seinen Gunsten ändern, das konnte Jelzin nicht, das konnte nur das Parlament. Also blieb ihm nur zu drohen, zu lavieren und seine Macht mit Hilfe eines Referendums zu festigen. Das half Jelzin, seine reale Macht zu wahren, führte aber zu einem Konflikt, der in der gewaltsamen Auflösung des Parlaments und dem Minibürgerkrieg vom Oktober 1993 endete. Wieder wurden Panzer in Bewegung gesetzt. Allerdings waren die neuen Machthaber entschlossener: Die Panzer nahmen das Parlament unmittelbar unter Beschuss.

Nach dem Sieg über das Parlament konnte Jelzin die Verfassung diktieren, wie sie ihm gefiel, und sich so viele Vollmachten geben, wie ihm beliebte.

Allerdings gab es zwei einschränkende Faktoren. Der eine, wenn auch nur ein schwacher, war die öffentliche Meinung im Westen, die von dem gewaltsamen Eingreifen Jelzins enttäuscht war und keine Errichtung einer Präsidialdiktatur in Russland wollte. Der andere Faktor, der von sehr viel größerer Bedeutung war, wurzelte in Jelzins Unwillen, sich allzu sehr mit Fragen des Alltagsgeschäfts zu belasten, für das er nie großes Interesse hatte (möglicherweise aus der Haltung heraus, dass dies nicht des Zaren Sache sei).

Der Präsident als Garant der Verfassung

Deshalb hat die Verfassung von 1993 die Kernaufgabe von Dokumenten dieser Art nicht erfüllt, nämlich die Zuständigkeiten der staatlichen Institutionen klar festzulegen. War die Macht des Präsidenten zuvor unklar definiert gering, so war sie nun unklar definiert groß. Entgegen gesundem Menschenverstand wurde dem Präsidenten die vage Rolle eines „Garanten der Verfassung“ zugesprochen, wo doch klar sein sollte, dass derjenige, dessen Macht durch die Verfassung beschränkt werden soll, nicht gleichzeitig Garant dieser Beschränkungen sein kann.

Da die Verfassung von 1993 auf Jelzin zugeschnitten war, versorgte sie ihn mit einem politisch durchaus angemessenen Instrumentarium. Der Präsident konnte, sollte dies nötig sein, praktisch uneingeschränkt Macht ausüben. Bei Bedarf konnte er wiederum in den Hintergrund treten und sich hinter der Regierung vor dem Volkszorn verstecken. Wie etwa in der Augustkrise 1998, als das Scheitern der Jelzinschen Wirtschaftspolitik unübersehbar wurde.

Putin hat Mittel gefunden, die Verfassung für seine Interessen zu nutzen

Es liegt auf der Hand: Die Unbestimmtheit der präsidialen Vollmachten bringt es mit sich, dass das Funktionieren dieses Amtes unmittelbar abhängig ist von den persönlichen Qualitäten und den politischen Ressourcen desjenigen, der es bekleidet. Die Verfassung von 1993 war zwar nicht auf Putin zugeschnitten. Doch hat er die Mittel gefunden, sie für seine ureigenen Interessen zu nutzen.

Formal gesehen gehört die russische Verfassung von 1993 zum Typus der semipräsidentiellen Systeme, die eine zweifache Verantwortlichkeit der Regierung vorsehen: gegenüber dem Parlament und gegenüber dem vom Volk gewählten Präsidenten. Solche Systeme sind nicht sonderlich stabil, und die Hauptgefahr besteht darin, dass es zu einer politischen Konfrontation zwischen Parlament und Präsident kommt.

In erster Linie war Putin bestrebt, dieser Gefahr zu begegnen. Zu diesem Zweck gestaltete er das Wahl- und Parteiensystem derart um, dass die Mehrheit im Parlament stets der Partei gehört, die ihn unterstützt. Gerade diese Umstrukturierung führte dazu, dass Russland Mitte der 2000er Jahre keine durch Wahlen gestützte Demokratie mehr war, sondern endgültig den Weg in Richtung Autoritarismus eingeschlagen hatte.

Der Weg in Richtung Autoritarismus

Das Risiko, das dem semipräsidentiellen System innewohnt, bietet einem starken politischen Akteur einen spürbaren Bonus. Falls der Präsident aus irgendwelchen Gründen seinen Posten verlassen muss, so kann er sich, indem er Regierungschef wird, nahezu alle Einflussmöglichkeiten bewahren. Genau das war während der Rochade [von Putin und Medwedew – dek] zwischen 2008 und 2011 zu beobachten. Und es ist durchaus möglich, dass uns 2024 etwas Ähnliches erwartet. Somit schafft die Verfassung von 1993 nicht nur Möglichkeiten zur Entfaltung uneingeschränkter persönlicher Macht, sondern ermöglicht auch, diese auf unbestimmte Zeit zu behalten.

Der Präsident hat kaum Verantwortung

Gleichzeitig ist die Verantwortung, die dem Präsidenten durch die Verfassung auferlegt ist, vergleichsweise gering. Die unmittelbare Verantwortung trägt er nur für die Außen- und Verteidigungspolitik. Für alles andere ist der Regierungschef verantwortlich, der jederzeit abgesetzt werden kann, wenn man ihm zum Beispiel die Schuld für ein Scheitern in der Wirtschafts- und Sozialpolitik zugeschoben hat. Die Regierung bleibt für die Bevölkerung der Sündenbock. Kein Wunder, dass die Umfragewerte des Präsidenten stets erheblich über jenen der Regierung liegen.

Die Unbestimmtheit der Vollmachten und Verantwortlichkeiten schafft eine Situation, in der sich die Entscheidungsmechanismen auf eine Schattenebene verlagern, die nur schwer zu durchschauen ist. Das ist zum Teil auch den spezifischen Regierungsgewohnheiten Putins geschuldet. Richtig ist aber auch, dass in jedem politischen System ein wichtiger Teil der Entscheidungen mehr oder weniger informell auf den Fluren getroffen wird. Allerdings wird diese Praxis durch klar festgelegte Normen beschränkt. In Russland wird durch das Fehlen solcher Normen diese Praxis nur verstärkt.

Entscheidungen werden auf den Fluren getroffen

Die Hauptaufgabe, die beim Übergang zur Demokratie bevorsteht, besteht darin, die Zuständigkeiten der unterschiedlichen Staatsämter in der Verfassung klar voneinander abzugrenzen. Das ließe sich auf unterschiedliche Weise bewältigen.

In oppositionellen Kreisen herrscht relativ breite Einigkeit, dass man auf das Präsidialsystem verzichten und ein parlamentarisches System einführen sollte. Das würde bedeuten, dass die Vollmachten des Präsidenten vor allem repräsentativer Natur wären und die gesamte politische Verantwortung auf einem Premierminister läge, der von einer Parlamentsmehrheit im Amt zu bestätigen wäre.

Ich sehe keine ernsthaften Hindernisse für eine Umsetzung dieser Variante. Ich möchte jedoch zu bedenken geben, dass auch ein semipräsidentielles System seine Vorteile hat, wenn es richtig angelegt ist und funktioniert. Das zeigen die Beispiele einiger europäischer Staaten: Etwa Frankreich (wo dieses System erfunden wurde), Polen oder Rumänien. In allen diesen Ländern gibt es Probleme; diese sind jedoch erstens nicht allzu gravierend, und zweitens könnten wir den nötigen Scharfsinn zeigen und das System unter Berücksichtigung der Erfahrungen dieser Länder optimieren.

Natürlich kann der Präsident nicht „Garant der Verfassung“ sein. In einem normalen System wäre er lediglich ein höher gestellter Staatsdiener. Im Prinzip hat die Verfassung von 1993 richtig festgeschrieben, welche Verantwortungsbereiche beim Präsidenten zu verankern sind: die Außenpolitik und die Verteidigung. Politischen Führern ist sehr wohl bewusst, dass sich jede Art ihres Scheiterns durch einen außenpolitischen Triumph kompensieren lässt. Putin ist hierbei vorgegangen, wie’s im Buche steht. In Ländern, die keine aktive Außenpolitik betreiben, haben solche Überlegungen keine sonderlich große Bedeutung. In Russland spielen sie auf lange Sicht eine wichtige Rolle. Die Nachwirkungen der riesigen außenpolitischen Probleme, die Putin als Erbe hinterlässt, werden Russland über Jahrzehnte beschäftigen.

Die Nachwirkungen der riesigen außenpolitischen Probleme, die Putin als Erbe hinterlässt, werden Russland über Jahrzehnte beschäftigen

In einem optimalen Modell, wie ich es mir vorstelle, sollten sowohl Präsident als auch Parlament direkt gewählt werden. Der Präsident würde neben repräsentativen Funktionen die tatsächliche und unmittelbare Verantwortung für die Außen- und Verteidigungspolitik tragen, während die Macht in allen anderen Bereichen bei einer Regierung liegen würde, die von einer Partei oder einer Koalition getragen wird. Der Premier wäre somit der politische Führer des Landes.

Den Premierminister könnte nur das Parlament absetzen, und zwar nur dann, wenn der Premierminister das Vertrauen der Partei oder Koalitionsmehrheit verliert. Oder aber, was häufiger der Fall ist, wenn die Partei oder die Koalition auseinanderbricht, was gewöhnlich zu Neuwahlen führt. Was den Präsidenten betrifft, so kann dieser in einem solchen System nur dann abgesetzt werden, wenn er Gesetze bricht: über ein Amtsenthebungsverfahren mit Gerichtsbeschluss. Politische Differenzen mit dem Premierminister sind kein hinreichender Grund.

Direkte Wahlen und eine neue Verfassung

Das grundlegende Modell zur Einteilung und Abgrenzung der Befugnisse kann nicht ohne Verabschiedung einer neuen Verfassung geändert werden. Das bedeutet aber weder, dass die Verfassung von 1993 in einem eigenmächtigen, revolutionären Akt abgeschafft werden sollte, noch heißt es, dass man – selbst unter Beachtung aller rechtlichen Aspekte – es mit ihrer Abschaffung eilig haben sollte.

Die erheblichen innenpolitischen Vollmachten des Präsidenten könnten für die Umsetzung von Reformen sinnvoll sein. Nach einer solchen Übergangszeit hätte dann laut der Verfassung von 1993 das zur Verfassungsänderung berechtigte Gremium das Sagen. Und das ist die die Verfassunggebende Versammlung. Bislang fehlt noch ein Gesetz, das festlegt, wie diese zu bilden ist. Das wäre Aufgabe jener Gesetzgeber, die nach dem Übergang zur Demokratie durch die ersten freien Wahlen ins Parlament gelangen. Ich denke, die würden das schaffen.

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Der Geist der Korruption

Für die Bezeichnung von Korruption gibt es im Russischen verschiedene Begriffe. Viele kommen aus Jargon und Umgangssprache, wie etwa wsjatka, sanos, otkat, administrative Ressource und viele andere. Dass es so vielfältige Bezeichnungen für korrupte Verhaltensweisen gibt, ist eng mit den sozialen Praktiken und ideellen Einstellungen in der Sowjetepoche und den ersten drei Jahrzehnten nach dem Zerfall der UdSSR verbunden.

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Augustputsch 1991

Am 19. August 1991 wurde einer der letzten Versuche unternommen, die Sowjetunion vor der Auflösung zu bewahren. Während Millionen von Bürgern – wie sonst nur in Fällen von Staatstrauer oder großen nationalen Katastrophen – rund um die Uhr auf allen TV-Kanälen klassische Musik und die Ballettaufführung des Schwanensee sehen konnten, ließen die Minister der Unionsregierung Panzer im Zentrum Moskaus auffahren. Sie erklärten Michail Gorbatschow für amtsunfähig, verkündeten Ausnahmezustand, Machtübernahme und ihr Ziel: Bewahrung der Sowjetunion vor dem Zerfall.

Tausende Menschen stellten sich hinter den Präsidenten Russlands Boris Jelzin und hielten dagegen. Alsbald war der Ausnahmezustand vorbei: Mit dem Untergang der Putschisten beschleunigte sich auch der Untergang der UdSSR. Boris Jelzin wurde zum demokratischen Symbol des Aufbruchs. Allerdings sehen nach den gewaltigen Umbrüchen der 1990er Jahre heute 43 Prozent der Russen in den August-Ereignissen von 1991 eine Tragödie für das Land.

 

Ausnahmezustand

Als am frühen Morgen des 19. August 1991 die ersten sowjetischen Radiozuhörer ihre Geräte einschalteten, mussten sie zu ihrer Überraschung erfahren, dass der Präsident der UdSSR und Generalsekretär der KPdSU Michail Gorbatschow aus gesundheitlichen Gründen amtsunfähig geworden sei.

Boris Jelzin wurde zum demokratischen Symbol des Aufbruchs / Foto © Wikipedia unter CC BY 4.0

Das Staatskomitee für den Ausnahmezustand (Russische Abkürzung: GKTschP), das unter der Führung des Vizepräsidenten Gennadi Janajew einige Minister der Unionsregierung, den Chef des KGB Wladimir Krjutschkow und weitere reformkritische Politiker vereinigte, übernahm die Führung der Staatsgeschäfte und verkündete sein oberstes Ziel: die Bewahrung der Sowjetunion vor dem Zerfall.

Das Komitee  berief sich dabei auf die Ergebnisse des unionsweiten Referendums vom 17. März 1991, bei dem die Mehrheit für den Erhalt der UdSSR plädiert hatte.

Auf dem Weg zu einer Konföderation

Schon kurz nach dem Referendum begann Gorbatschow einen Verhandlungsprozess mit den Oberhäuptern der Unionsrepubliken. An deren Ende sollte ein neuer Unionsvertrag stehen: Die föderale UdSSR sollte in eine Konföderation mit dem Namen „Union Souveräner Sowjetrepubliken“ überführt werden und alle Sowjetrepubliken umfassen – mit Ausnahme der baltischen Republiken, Moldawiens, Georgiens und Armeniens. Gemäß dem völkerrechtlichen Verständnis sollten alle Konföderationsmitglieder Souveränitätsrechte bekommen. Die feierliche Unterzeichnung des Unionsvertrags war für den 20. August angesetzt. Dem aber kam das GKTschP zuvor.  

Absetzung Gorbatschows

Der Gründung der GKTschP war ein Versuch seiner zukünftigen Mitglieder vorausgegangen, Gorbatschow zu überreden, den Vertrag nicht zu unterzeichnen und den Ausnahmezustand auszurufen. Das Gespräch mit Gorbatschow, der sich in seiner Urlaubsresidenz Foros auf der Krim aufhielt, verlief jedoch ergebnislos.1 Daraufhin verkündete das GKTschP die Machtübernahme.

Gorbatschow behauptete später rückblickend, dass er in Foros überrascht worden sei: Er sei drei Tage lang von der Außenwelt isoliert gewesen, sein Aufenthaltsort sei blockiert und die Telefonleitungen abgeschaltet worden.2

 

Trailer des Dokumentarfilms „Sobytie“ („The Event“), 2015, Regisseur: Sergej Loznitsa

Was das GKTschP allerdings versäumte, war die Isolierung Boris Jelzins – des Präsidenten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Diesem gelang es schon in den Morgenstunden des 19. August, seine Datscha zu verlassen. Durch die sich mit Panzern füllenden Straßen Moskaus fuhr er zum Gebäude des Obersten Sowjet der RSFSR, dem sogenannten Weißen Haus. Dies wurde zur Zentrale des Widerstands gegen das Komitee, dessen Mitglieder alsbald als „Putschisten“ bezeichnet wurden.

Während auf allen Fernsehkanälen – wie sonst nur in Fällen von Staatstrauer oder großen nationalen Katastrophen – klassische Musik und das Ballett Schwanensee ausgestrahlt wurden, verteilten die Gegner der GKTschP Flugblätter mit dem Aufruf von Jelzin, in einen fristlosen Generalstreik zu treten. Um das Weiße Haus herum wuchsen Barrikaden, um 16 Uhr wurde in Moskau offiziell der Ausnahmezustand ausgerufen.

Kräftemessen in Moskau

Erst am Abend wurde die Bevölkerung über die Pläne der neuen Staatsführung informiert. Unter Führung Janajews fand eine Pressekonferenz statt, auf der die Mitglieder der GKTschP die Öffentlichkeit zu beruhigen versuchten: Sie bezeichneten Jelzin als „Genossen“ und Gorbatschow als „Freund“, bekannten sich zur Notwendigkeit von Marktreformen. Legendär wurden die zitternden Hände von Janajew sowie die Fragen der Journalisten, die das GKTschP offen mit Pinochet verglichen und die Aktion als einen Staatsstreich bezeichneten.

Obwohl das GKTschP scharfe Maßnahmen gegen die „Unruhestifter“ ankündigte, die Ausstrahlung von oppositionellen Radiosendern und TV-Kanälen zeitweilig unterband und die Schließung von elf Printmedien anordnete, wurden die Redaktionsräume nicht besetzt, die Ein- und Ausreise aus dem Land blieb weiter möglich.

Die Journalisten des Ersten Kanals konnten in den Abendnachrichten einen Beitrag über die Lage vor dem Weißen Haus senden, in dem Jelzin das GKTschP kritisierte. Das Versagen der staatlichen Zensur wurde offensichtlich.   

Währenddessen versammelten sich vor dem Weißen Haus mehr als 200.000 Menschen. Verschiedene politische Gruppen solidarisierten sich mit Jelzin. Dieser erklärte sich am 20. August zum Oberbefehlshaber aller auf dem Gebiet der Russischen Sowjetrepublik stationierter Truppen.

In der Nacht vom 20. auf den 21. August kulminierten die Ereignisse: In Moskau wurde eine Ausgangssperre verhängt. Das GKTschP ließ Panzer in Bewegung setzen, um das Weiße Haus zu stürmen, doch unterwegs stellten sich ihnen Protestierende in den Weg. In dieser Nacht kamen drei Zivilisten ums Leben, ein Schützenpanzer wurde von Demonstranten angezündet. Die Eliteeinheit des KGB Alpha weigerte sich, ohne einen schriftlichen Befehl vorzurücken.

Um acht Uhr morgens zog Jasow die Truppen aus der Stadt zurück. Das Scheitern des Putsches wurde offensichtlich. Einzelne Mitglieder der GKTschP flogen nach Foros um mit Gorbatschow zu sprechen, dieser weigerte sich aber, sie zu empfangen.

Der Anfang vom Ende – das Ende vom Anfang?

Es war ein symbolischer Schritt, als Gorbatschow am 22. August kurz nach Mitternacht in Moskau landete. Die westlichen Länder begrüßten seine Rückkehr, und auch die ehemaligen Mitglieder des Warschauer Pakts, die schon ihre Re-Sowjetisierung befürchtet hatten, atmeten auf. Jelzin galt jetzt als Retter Gorbatschows. Leonid Krawtschuk, der wenige Monate später zum ersten Präsidenten der Ukraine gewählt wurde, ließ seine loyale Haltung gegenüber dem GKTschP genauso schnell fallen wie viele andere Oberhäupter der Unionsrepubliken und schwenkte (genauso wie diese) auf die Linie Jelzins ein. Janajew und weitere Mitglieder des GKTschP wurden verhaftet, einzig Innenminister Boris Pugo entzog sich der Verhaftung durch Suizid.

Obwohl die drei Augusttage als Gründungsereignis des neuen, unabhängigen Russlands gehandelt werden, verhallen bis heute nicht die Debatten über die Ereignisse und ihre Bewertung.

Gorbatschow gab 20 Jahre später zu, von den Plänen der Putschisten gewusst zu haben3, und viele Forscher fragen nach seiner wirklichen Rolle.4 Da nur eine Minderheit der Bevölkerung Russlands auf die Barrikaden ging, stellt sich die Frage, wie die Mehrheit über die Vorgänge wirklich dachte. Was bedeutet es, dass 43 Prozent der Bürger Russlands5 die Niederlage des GKTschP heute als eine Tragödie sieht, die „katastrophale Folgen für das Land und die Menschen“ hatte? Und wie stark prägt der Sowjetmensch die politische Kultur Russlands heute?

Wenige Monate nach den Ereignissen, am 8. Dezember 1991, besiegelten die Präsidenten von Russland, der Ukraine und Belarus das Ende der Sowjetunion. Wladimir Putin, der während der Augusttage auf der Seite Jelzins stand, bezeichnete den Zusammenbruch der UdSSR später als „größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts“.6


Aktualisiert am 17.08.2021
1.Pichoja, Rudol’f (1998): Sovetskij Sojuz: istorija vlasti: 1945-1991, Moskau, S. 658-659
2.ebd. S. 653, 684
3.Ria Novosti: Gorbačev znal o planach GKČP, no sčel bolee važnym ne dopustit’ bojni
4.Pichoja, Rudol’f (1998): Sovetskij Sojuz: istorija vlasti: 1945-1991, Moskau, S.684
5.levada.ru: GKČP: 30 let
6.kremlin.ru: Putin, Vladimir: Poslanie Federal’nomu Sobraniju Rossijskoj Federacii
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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)