„Werden Sie bei der Volksabstimmung für oder gegen die Verfassungsänderung stimmen?“, so hatten die Lewada-Soziologen 1624 Personen gefragt. Am 27. März veröffentlichte das unabhängige Meinungsforschungsinstitut die Ergebnisse seiner Umfrage zur geplanten Verfassungsänderung. Diese sieht unter anderem eine Annullierung der bisherigen Amtszeiten Putins vor, so dass dieser bei der nächsten Präsidentschaftswahl wieder kandidieren kann.
Die Umfrageergebnisse zeigen, wie gespalten die Gesellschaft in dieser Frage ist. Für viele Sozialwissenschaftler und Polittechnologen waren die Zahlen überraschend. Bisher hatte Putin in Umfragen immer noch auf relativ breite Unterstützung zählen können. Während der rasanten Ausbreitung des Coronavirus in Russland werden solche Zahlen zu einem wichtigen Gradmesser: für die Volksabstimmung selbst, die viele eher für eine „kosmetische“ Maßnahme halten, aber auch für die Bewertung des Seuchenmanagements durch den Kreml.
Wie hängt die Operation Amtszeitverlängerung mit dem Coronavirus zusammen? Warum kamen die Umfrageergebnisse erst zweieinhalb Wochen, nachdem die Duma einer Annullierung der Amtszeiten zugestimmt hatte? Und was bedeuten die Ergebnisse überhaupt? The New Times teilt einen vieldiskutierten Facebook-Kommentar des Soziologen Grigori Judin.
*Befürworten Sie die Entscheidung der Staatsduma, das Gesetz zur Verfassungsänderung zu verabschieden, auch die Änderung bezüglich der Annullierung der Amtszeiten des Präsidenten, die es Wladimir Putin erlaubt, nach Ablauf der jetzigen Amtszeit wieder an der Präsidentschaftswahl teilzunehmen?
Zweieinhalb Wochen brauchte es, bis wir endlich diese Zahlen über die Reaktion der Bürger auf die unbefristete Präsidentschaft Putins bekommen haben. Und sie bestätigen genau das, was ich gesagt habe: Das Land ist in dieser politischen Schlüsselfrage gespalten.1. In diesen Zahlen steckt noch viel mehr Interessantes. Doch erst einmal nur ein wichtiger Punkt: Es gibt nicht nur eine Spaltung in halb-halb. Es finden sich darin vielmehr alle Voraussetzungen für einen handfesten Gesellschaftskonflikt. Denn die Spaltung erstreckt sich entlang der Grenzen sozialer Gruppen: Die hypothetische „Partei der Veränderungen“ ist jünger, die „Partei der Angst“ ist älter (mit der Unterscheidung zwischen Moskau und Provinz wäre ich nicht allzu voreilig: Diese Effekte lassen sich leicht mit unterschiedlichen Ausschöpfungsquoten erklären). Ich bin fast überzeugt davon, dass diese zwei Parteien sich in der Mediennutzung unterscheiden. Insgesamt bildet sich in Russland gerade eine breite Schicht heraus (knapp die Hälfte der Einwohner), die eine progressive Politik fordert. Sie ist bislang überhaupt nicht repräsentiert.
*Befürworten Sie die Entscheidung der Staatsduma, das Gesetz zur Verfassungsänderung zu verabschieden, auch die Änderung bezüglich der Annullierung der Amtszeiten des Präsidenten, die es Wladimir Putin erlaubt, nach Ablauf der jetzigen Amtszeit wieder an der Präsidentschaftswahl teilzunehmen? (Anteil nach Altersgruppen)
2. Die Antworten auf die Schlüsselfrage sind sehr ungewöhnlich verteilt: Eine sehr deutliche Position (kategorisch ablehnend gegenüber einer unbefristeten Präsidentschaft) vertreten bedeutend mehr Befragte als eine „eher ablehnende“ Position. Das heißt, dass sich unter den Gegnern der Wahlmonarchie ein großer Kern gebildet hat, der nicht willens ist, über dieses Thema zu verhandeln. Es bedeutet auch, dass für einen erheblichen Teil der russischen Bürger die Annullierung der Amtszeiten eine wirklich wichtige Frage ist.
3. Die Kremlmanager verfügen schon seit zweieinhalb Wochen über Zahlen. Sie hatten sogar noch weitaus mehr Daten. Deswegen müssen alle Handlungen der letzten Zeit als Handlungen unter Berücksichtigung dieser Zahlen gewertet werden – die Verschiebung der Abstimmung und die neue Besteuerung inbegriffen. Das, was als Maßnahmen im Kampf gegen das Virus verlautbart wurde, ist in vielerlei Hinsicht ein Versuch, ein sehr viel ernsteres politisches Problem zu lösen.
4. Dieser Artikel [auf Vedomosti – dek] enthält sehr wichtige und richtige Kommentare von den Soziologen Lew Gudkow und Dimitri Badowski. Badowski sagt geradeheraus, dass die beiden Hauptmöglichkeiten, das Problem der Spaltung zu lösen, darin bestehen, 1) die Gegner einer lebenslangen Präsidentschaft einfach dazu zu bringen, ihre Position nicht zu äußern, 2) die lebenslange Präsidentschaft hinter anderen Verfassungsänderungen zu verbergen. Mit anderen Worten: Putins Schritt verursacht zu viel Gegenfeuer – er hat zu viele Gegner, und man kann mit ihnen nur fertig werden, wenn man sie nicht zu Wort kommen lässt.
Ich stimme Badowski nur in dem einen Punkt nicht zu, dass die Spaltung stark von der Qualität des Seuchenmanagements abhängen wird. Es geht um die viel grundlegendere Frage nach der Konservierung des Landes (Putin ist das Symbol dieser Konservierung) und ob man mit der absoluten, unbegrenzten Macht einverstanden ist.
5. Ich möchte darauf aufmerksam machen, dass es zweieinhalb Wochen keine Zahlen gab – und zwar gab es sie vor allem gerade deshalb nicht, weil sie die Spaltung zeigen. Gäbe es keine Spaltung, hätten Sie diese Zahlen schon längst gesehen.
Der Umfragesektor in Russland ist so beschaffen, dass der Gesellschaft Informationen über wirklich wichtige öffentliche Themen möglicherweise genau in dem Moment nicht zugänglich sind, in dem es darauf ankommt.