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Russland und der Kolonialismus

Kolonialimperien – das sind immer die anderen. Und doch hat Russland über eine Vielzahl an Völkern geherrscht und sein Territorium seit dem 16. Jahrhundert auf das 22-Fache vergrößert. Von der Eroberung Sibiriens bis zur angeblichen „Brüderlichkeit der Sowjetvölker“ wird die Kontinuität des russischen Kolonialismus im Krieg gegen die Ukraine besonders deutlich. Die vor diesem Hintergrund erstarkende Idee einer Dekolonisierung Russlands versucht der Kreml mit allen Mitteln zu unterdrücken. 

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Olga Skabejewa

Zweimal täglich erklärt die Moderatorin im Staatsfernsehen die Welt aus Moskauer Sicht. An manchen Tagen ist sie bis zu fünf Stunden mit Desinformation und Kriegshetze nach Vorgaben des Kreml auf Sendung. Skabejewas Spezialgebiet ist der Vollkontakt: Je nach Bedarf werden Gegner provoziert oder niedergebrüllt. 

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Margarita Simonjan

Ihre steile Karriere begann mit einer Lüge im staatlichen Auftrag. Heute kokettiert die Chefin des Propaganda-Senders RT und der staatlichen Medienholding Rossija Sewodnja offen mit ihrer Rolle als Gesicht der russischen Desinformation. Der Kreml belohnt sie großzügig dafür. 

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Gopniki

In Jogginghosen und Schiebermützen hocken sie halbkreisförmig im Slavic Squat, in der Mitte einе zwei Liter Plastikflasche Billigbier und ausgespuckte Schalen von Sonnenblumenkernen. Laut Klischee sind Gopniki (klein)kriminell, ungebildet und kommen mit einem spezifischen Vokabular von nur vier Grundwörtern aus. Demgegenüber versteigen sich manche russischen Soziologen dazu, mehr als jeden dritten Einwohner des Landes zu dieser Subkultur zu zählen.

Klischees über Klischees – der Gopnik / Foto © Wolodymyr Pankratow/Wikimedia unter CC BY-SA 4.0

„Was soll eigentlich diese Russenhocke?“ fragte bento Ende 2016 nach dem Flashmob auf Instagram, bei dem sich tausende Nutzer hockend präsentiert hatten.1 Vorausgegangen waren Statements einiger Avantgarde-Hipster, die ihren Kulturimport aus Russland zum Modetrend erklärten: Demnach sollten Jogginghosen 2016 zum letzten Schrei werden.

(Klein)kriminelle Subkultur

Naturgemäß meinten es die Hipster ironisch: Kaum jemand möchte ernsthaft in einen Topf mit dem Original dieses Lebensstils geworfen werden – dem Gopnik. Die Bezeichnung dieses Stereotyps, das von Soziologen als eine Subkultur verstanden wird, ging Ende der 1980er Jahre in den allgemeinen Sprachgebrauch ein.

Der Ursprung ist unklar: Vielleicht bezieht sich der Begriff auf die Abkürzung GOP, die in den 1920er Jahren für Städtisches Wohnheim des Proletariats stand und sich zum arroganten Synonym für Unterschichten-spezifische Bildungsferne entwickelte.

Vielleicht kommt Gopnik vom Ausdruck gopstop – was in russischer Entsprechung zum deutschen Jargon Rotwelsch „Raubüberfall“ bedeutet. Dem meistens (auch vom Gopnik selbst) als Schimpfwort verwendeten Begriff steht die gängige Eigenbezeichnung gegenüber – (realny) pazan, was ungefähr soviel wie das amerikanische (real) Gangsta bedeutet.   

Gossenjargon=kriminell?

(Real) Gangsta und Rotwelsch sind Begriffe, die im Westen einen radikalen Bedeutungswandel erlebten. Der erste kam auf in den 1980er Jahren als ein kriminelles und gegenkulturell-orientiertes Stereotyp. Mit der Kommerzialisierung des Gangster-Rap wurde die Figur des Gangsta aber schon in den 1990er Jahren Teil der Massenkultur – sowohl in den USA als auch in vielen Ländern Westeuropas.

Aus ähnlichen Gründen entbehrt auch Rotwelsch das Kriminelle: In älterer Literatur noch als deutsche „Gaunersprache“ bezeichnet, gilt es heute als ein Soziolekt mit einem Sonderwortschatz – als ein Jargon.

Ähnlich beim Gopnik: Die Neigung zum Mat-durchsetzten Gossenjargon gehört für viele Soziologen zu den Grundfesten dieser Subkultur. Dass diese Sondersprache auch Anleihen bei fenja macht – der russischen Gefängnissprache – macht allerdings nicht alle Sprecher automatisch zu Kriminellen. Dennoch hält sich die Zuschreibung: Gopniki seien gewalttätig, homophob, ausländerfeindlich und verüben gopstops – rauben Wertsachen.2 Sie gingen keiner Arbeit nach, hätten aggressiv-tumbe Gesichtsausdrücke, seien flegelhaft, kurz: sie weisen wegen ihrer „Unterschichtsmentalität“ alle Bürgerschreck-Qualitäten auf.3

Indes, der Zusammenhang zwischen dem Lebensstil der Gopniki und ihrer angeblichen Neigung zur Kriminalität wurde noch nie nachgewiesen. So haben es viele von ihnen beispielsweise schon in die Mittelschicht geschafft: Dort gehen sie geregelter Arbeit nach, setzen ihren Lebensstil aber als sogenannte tschawy (in Anlehnung an die britischen Chavs) oder polugopy (dt. Halb-Gopniki) fort. Sie schmücken sich mit spezifischen Statussymbolen, pflegen situativ Jargon4 – und dürften damit zum Teil wohl eine ähnliche Nähe zur Kriminalität an den Tag legen, wie es die Mittelschichts-Jugendlichen in der deutschen Provinz der 1990er taten, als sie das gewaltverherrlichende Cop Killer von Bodycount nachsangen.5

Russischer Chanson wird Mainstream

Klischees über Klischees: Gopniki seien grundsätzlich kriminell und würden diese Kriminalität auch in ihren Musikvorlieben zelebrieren, und zwar bei der ihnen zugeschriebenen Neigung zum sogenannten „russischen Chanson“ oder „coolen beziehungsweise harten Lied“ („blatnaja pesnja“).6 Ohne den Zusammenhang zwischen Gopnik und russischem Chanson nachzuweisen, verweisen russische Soziologen in einem Analogieschluss einfach auf die Gefängnis-Nähe von gegenkulturell-orientierter Subkultur und Musikgattung.

Ähnlich wie zuvor Gangster-Rap in den USA und in Westeuropa, schaffte es diese Musikgattung, die häufig Kriminalität romantisiert (Stichwort aus dem Rap: thug life), Ende der 1990er Jahre erstmals in die russischen Charts. Damit vollzog sich ein Übergang von zunächst gegenkulturell angelegten Orientierungen in die Massenkultur, wie er im Westen zuvor nicht nur bei Hip-Hop, sondern auch bei Punk und Rock auszumachen war.7

Ohne auf die Kommerzialisierungs-Mechanismen der Musikindustrie einzugehen, erklärten Kulturkritiker den Hype des russischen Chansons damit, dass nahezu ein Viertel der männlichen Bevölkerung Russlands entweder im Gefängnis waren oder gerade im Gefängnis sitzen.8 Diese große Gruppe bildete demnach den Resonanzraum für diese Musik und verhalf dem russischen Chanson alleine wegen ihrer schieren Anzahl in die Charts.

Der Einzug der zuvor als gossenhaft verfemten Musik in die Massenkultur ging einher mit einschlägigen Blockbustern, die zum Teil auch mit Mitteln aus der staatlichen Filmförderung finanziert wurden.9 Kritiker geißelten die Romantisierung des Kriminellen, beklagten einen Sprach- und Kulturverfall, mussten das Phänomen aber alsbald auch bei der politischen Elite des Landes feststellen.

Jargon in der Politik

Bereits vor seiner ersten Präsidentschaft versprach Putin, Terroristen „im Scheißhaus kaltzumachen“. Seine häufige Neigung zum Jargon wurde Gegenstand vieler humoristischer Kommentare; auch Sozialwissenschaftler fragten nach den Gründen seiner Verbalausfälle. Demnach ist sein Hang zu stilistisch derberen Registern wohlkalkuliert: Einerseits breche er bewusst gängige Sprachnormen, um dadurch Aufmerksamkeit zu bekommen.10 Andererseits zeigt er sich damit als ein tatkräftiger Politiker, der „hart durchgreift“ und „Klartext“ spricht. Schließlich präsentiert er sich auch als „einfacher Mann von nebenan“,11 der die Aura der hemdsärmeligen Street Credibility verströmt und somit stammtisch-kompatibel erscheint.12

Ob dieses Streben nach Volksnähe im Umkehrschluss die steile These von gleich 50 Millionen Gopniki im Land plausibel macht, ist fraglich – weder Soziolekte noch Musikvorlieben genügen für eine klare Zuordnung, zumal Soziologen13 ihre These kaum mit Forschungsergebnissen belegen können. Grundsätzliche Schwierigkeit besteht außerdem darin, dass Subkulturen und Lebensstile nie exakt fassbar sind. Insofern bleibt der Gopnik ein schwer greif- und verifizierbares Klischee.

Vermehrte Anklänge an diesem klischeehaften Gopniki-Lebensstil kann man in Russlands politischer Elite dagegen durchaus finden. Putin schöpft aus diesem einschlägigen Kanon, wenn er junge Soldaten als pazany tituliert, der Eigenbezeichnung der Gopniki; oder auch, wenn er von „Schore verhökern“ (Rotwelsch: „Diebesgut veräußern“, russ. „schurowat“) spricht und so den russischen Export von Rohholz kritisiert.14

Murka, der Chanson-Klassiker schlechthin, erklingt auch mal in der Duma-Kantine.15 Außenminister Lawrow schimpft Mat, und auch seine Diplomaten-Kollegen aus dem Außenministerium fallen durch unflätige Verbalinjurien auf.

Nicht nur deshalb verglich Sergej Medwedew – eine der profiliertesten Stimmen des liberalen Lagers – die gesamte russische Außenpolitik mit einem Gopnik, der allen Angst einjage. Und der bekannte Karikaturist Sergey Elkin erntete im April 2017 auf Facebook tausende Likes und Shares für die Abkürzungsbuchstaben des Außenministeriums (MID) im halbkreisförmigen Slavic Squat. Um die hockenden Buchstaben liegen ausgespuckte Schalen von Sonnenblumenkernen.


1.bento.de: Was soll eigentlich diese "Russenhocke"?
2.Vgl. Centr problemnogo analiza i gosudarstvenno-upravlenčeskogo proektirovanija (2014): Molodëžnye subkul’tury v sovremennoj Rossii i ich socializirujuščij potencial, in: Doklady Centra, Vypusk № 11, S. 11f.
3.Eine historische Parallele ergibt sich in der westeuropäischen Figur des Gammlers. Seit 1964 gehörte diese Subkultur zum Straßenbild westeuropäischer Metropolen. Durch ihr Nichtstun sorgten die Gammler vor 1968 stets für öffentlichen Unmut. Konservative Politiker und Wissenschaftler schrieben ihnen eine „Unterschichtsmentalität“ zu und befürchteten eine gesamtgesellschaftliche Anpassung daran. Vgl. z.B. Noelle-Neumann, E. (1978): Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer Gesellschaft, Zürich, S. 20f. Zitiert nach: Siegfried, D. (2006): Time is on my Side: Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen
4.Vgl. Centr problemnogo analiza i gosudarstvenno-upravlenčeskogo proektirovanija, S. 11f.
5.Das Debüt-Album von Bodycount wurde 1992 in Deutschland mit der Goldenen Schallplatte ausgezeichnet.
6.Vgl. Centr problemnogo analiza i gosudarstvenno-upravlenčeskogo proektirovanija, S. 11f.
7.Der Historiker Detlef Siegfried veranschaulichte in seiner Habilitation solche Kommerzialisierungs-Mechanismen am Beispiel der Figur des Gammlers im Westdeutschland der 1960er Jahre. Siegfried, D. (2006): Time is on my Side: Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen
8.Vgl. Smolin, A. (2011): Šanson kak sredstvo obščestvennoj degradacii. Zu den Zahlen vgl. z.B. Radčenko, V. (2008): Chorošo sidim
9.Vgl. Smolin, A. (2011): Šanson kak sredstvo obščestvennoj degradacii
10.Vgl. Borisova, Ė. (2010): Pragmatika „nizkogo" v rečach D.A. Medvedeva i V.V. Putina, Moskau [Diplomarbeit]
11.Vgl. z.B. Dement’eva, M. (2009): Jazykovye sredstva vyraženija ocenki v sovremennom političeskom diskurse, in: Političeskaja lingvistika, Vyp. 4(30), S. 82-92. D’jačok, M. (2003): Russkoe prostorečie kak socioligvičeskoe javlenie, in: Gumanitarnye nauki, Vyp. 21, S. 102-113. Maslova, V. (2008): Političeskij diskurs: jazykovye igry ili igry v slova? in: Političeskaja lingvistika, Vyp. 1(24), S. 43-48
12.Psychologische Erklärungen für Putins Verbalausfälle betonen demgegenüber vor allem die Rauhbeinigkeit der Hinterhof-Verhältnisse aus Putins früher Biografie. Vgl. z.B. Spiegel.de: Im Reich der Gefühle
13.Vgl. Centr problemnogo analiza i gosudarstvenno-upravlenčeskogo proektirovanija (2014), S. 11f.
14.Zitiert nach: Fleischmann, E. (2010): Das Phänomen Putin. Der sprachliche Hintergrund,  339ff.
15.Vgl. Smolin, A. (2011): Šanson kak sredstvo obščestvennoj degradacii
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