Wird Russland in Belarus eingreifen? Und wenn ja: wie? Diese Fragen wurden in den vergangenen Tagen immer wieder diskutiert. Während Lukaschenko im Wahlkampf selbst vor einem ukrainischen Szenario in Belarus gewarnt hatte und sogar russische Söldner verhaften ließ, hat er inzwischen zwei Mal mit Putin telefoniert und um Beistand gebeten. Vermehrt versucht die Staatspropaganda, die Demonstranten, die gegen Wahlbetrug und für die Freilassung der Festgenommenen auf die Straße gehen, in die Nähe der vermeintlich vom Ausland gesteuerten Farbrevolutionen im postsowjetischen Raum zu rücken. Margarita Simonjan, Chefredakteurin des russischen Auslandssenders RT, twitterte, es sei an der Zeit, dass „höfliche Menschen“ für Ordnung sorgten in Belarus.
In sozialen Netzwerken tauchten unterdessen Videos von schweren Lastwagen ohne Nummernschilder auf, die mutmaßlich zur russischen Rosgwardija gehören und in der Oblast Smolensk auf der Strecke von Moskau in Richtung belarussische Grenze unterwegs waren. Solche Nachrichten sorgten sogleich für Unruhe – doch Beobachter wiegeln ab: Das unabhängige belarussische Portal tut.by etwa wies darauf hin, dass es unlogisch sei, eine russische Invasion in Belarus mittels Lastwagen statt mit Hubschraubern durchzuführen. Zudem seien Truppen der Rosgwardija vor allem für den Einsatz im Inneren bestimmt. Der Journalist und Politologe Kirill Rogow geht davon aus, dass solche Bilder weniger die Demonstranten abschrecken, als den Machtapparat um Lukaschenko stärken sollten – indem sie ihn in dem Glauben wiegten, dass es zu früh sei, den Diktator abzuschreiben. Gleichzeitig weisen einzelne Experten – wie Jens Siegert, der ehemalige Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung in Moskau – darauf hin, dass Belarus in Russland nicht die gleiche mythisch aufgeladene Bedeutung habe wie Kiew, Odessa oder Charkiw.
Dennoch zeigt die Debatte, wie groß die Unsicherheiten und Ängste sind vor einem analogen Szenario wie auf der Krim 2014. Der bekannte belarussische Journalist und Carnegie-Autor Artyom Shraibman nennt auf Telegram zehn Gründe, warum es in Belarus keine russische Invasion geben wird.
Eine Anfrage an Moskau genüge, so Lukaschenko, und er bekomme „vollumfängliche Hilfe, um die Sicherheit der Republik Belarus zu garantieren“. Er nannte in diesem Zusammenhang den Vertrag über die kollektive Sicherheit (OKVS). Im Folgenden genauer dazu, warum ich nicht an dieses Schreckgespenst glaube:
1. Russland rettet kein zusammenbrechendes Regime mit Hilfe von Soldaten. Den Staatschef außer Landes bringen – ja, ein Regime retten, das keine Unterstützung im Volk hat – nein.
Die einzige Ausnahme ist Syrien. Dort herrschte allerdings schon ein Bürgerkrieg, und die russischen Truppen haben keine Gebiete besetzt, sondern vorwiegend Luftangriffe geflogen. Wen sollte man bei uns bombardieren? Die Werkhallen des Minsker Traktorenwerks MTZ oder des belarussischen Automobilwerks BelAZ? Oder die streikenden Mitarbeiter der staatlichen Rundfunkanstalt Belteleradiokampanija?
2. Die Belarussen wollen keine Einmischung von außen und wollen auch nicht Teil Russlands werden. Hier die jüngste Umfrage der Akademie der Wissenschaften: Für einen Beitritt zur Russischen Föderation sind weniger als sieben Prozent. Für eine engere Union unter 25 Prozent. Alle anderen sprechen sich für freundschaftliche Beziehungen unabhängiger Staaten aus. Belarus ist nicht die Krim, die angeblich irgendwie um Befreiung von den Faschisten gebeten habe. Hier wird keiner Rosen verteilen.
3. Ein Volk, das nicht um Befreiung bittet, muss man mit massivem Truppeneinsatz im Zaum halten. Mit zehntausenden Besatzungssoldaten. Und wenn sich dann noch Partisanengruppen bilden – was in dem Fall und bei derartigem gesellschaftlichem Aufbegehren wohl unausweichlich wäre – mit hunderttausenden. Und tausenden Opfern. Eine sanftere Lösung gäbe es einfach nicht.
4. Mit einer solchen Intervention würde Russland das belarussische Volk auf noch längere Zeit verlieren als das ukrainische. Ein Volk, das aktuell Russland gegenüber freundschaftlich eingestellt ist. Nach Umfragen des Wardomazki-Labors sind über 70 Prozent für den Erhalt der Beziehungen in ihrer jetzigen Form, ohne Grenz- und Zollkontrollen. Nur fünf bis sieben Prozent sind für einen Abbruch der Beziehungen.
5. Dazu kommen noch Massen von Särgen Richtung Heimat und die Vorbehalte des eigenen Volkes, dem man zuvor nicht erklärt hat, dass in Minsk Bandera-Faschisten an die Macht drängen würden, plus Sanktionen des Westens in beispielloser Härte.
6. Und all das wozu? Um einen belarussischen EU-Beitritt zu verhindern? Die heutige Opposition wirbt gar nicht für einen solchen. Und es wäre auch absurd angesichts der derzeitigen belarussischen Abhängigkeit von Moskau. Ein Austritt aus der Eurasischen Wirtschaftsunion mit Verlust des Zugangs zum russischen Markt würde einen wirtschaftlichen Stillstand binnen eines Monats bedeuten. Mehr als 70 Prozent unserer Auslandsschulden haben wir gegenüber Russland.
7. Eine Invasion löst auch nicht das Problem der inneren Stabilität. Die Arbeiter kehren deswegen nicht zurück in die Fabriken, ein Absturz des Bankensystems wäre die Folge, zig Milliarden müssten für humanitäre Bedürfnisse fließen. Und Belarus hat fünf Mal so viele Einwohner wie die Krim. Außerdem hat sich die russische Wirtschaft nach dem Coronavirus selbst noch nicht berappelt.
8. Die Demonstranten rufen keine anti-russischen oder pro-westlichen Losungen. Das steht überhaupt nicht zur Debatte. Der Kreml ist nicht blind und sieht das. Russland hat die Folgen der Revolutionen in Kirgisistan und Armenien akzeptiert, wo es auch keine außenpolitischen Ziele gab.
Moskau orientiert sich immer an der gerade gewinnenden Seite. Und versteht vor allem, dass diese Seite nicht feindlicher ist als jene Regierung, die russische Staatsbürger zu Geiseln ihres Wahlkampfes gemacht hat.
9. Lest die Pressemitteilung des Kreml nach dem morgendlichen Gespräch mit Lukaschenko [am Samstag, 15. August – dek]. Da steht viel über Völkerfreundschaft und Feinde, aber kein einziges Wort der Unterstützung für den amtierenden belarussischen Präsidenten. Der Kreml hat eine abwartende Position eingenommen.
10. Für Juristen. Die Satzung der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) sieht keine militärische Hilfe vor ohne eine äußere Aggression auf ein Mitgliedsland (ein bewaffneter Angriff, der die Sicherheit, Stabilität, territoriale Integrität und Souveränität bedroht). Lukaschenko hat während seines ganzen Wahlkampfs die Russen einer solchen Aggression bezichtigt und jetzt versucht er, eine Bedrohung durch den Westen zu inszenieren.
Aber eine solche ist in der gegenwärtigen Situation gar nicht so leicht auszudenken. Den Gerüchten zufolge machen sich hochrangige Beamte aus Russland und Europa bereits untereinander lustig über solche Äußerungen. Ein hybrider Angriff, ausgehend vom Telegram-Kanal Nexta, ist nicht in der OVKS-Satzung erwähnt.
PS: Um ein solches Szenario auch in Zukunft auszuschließen, sollte eine belarussische Übergangsregierung im Falle eines Sieges nicht sofort vor lauter Euphorie die sowjetischen Denkmäler antasten, die staatliche Symbolik ändern oder den Status des Russischen als Amtssprache annullieren. Aber: Es gibt viel zu tun und eine Mehrheit ist (allen verfügbaren Umfragen zufolge) gegen solche Maßnahmen – und so sehe ich keinen Grund zur Annahme, dass die Übergangsregierung austickt und solche Sachen überhaupt anfängt. Alles zu seiner Zeit.