Auf den ersten Blick scheint die Partei Gerechtes Russland ein höchst seltsames Konstrukt zu sein. Aus mehreren Klein- und Kleinstparteien unter der Aufsicht des Kreml-Strategen Wladislaw Surkow zusammengezimmert, ist sie seit 2007 als Oppositionspartei im russischen Parlament vertreten. Doch kann eine Partei mit so offensichtlichen Verbindungen zur Staatsmacht überhaupt eine oppositionelle Position vertreten? Nun, sie kann – und kann doch wieder nicht. Zu Beginn war sie durchaus ein Sammelbecken für Aktivisten, die den privilegierten Status des Gerechten Russlands zu nutzen suchten, um echte Veränderungen zu erwirken. Parteiausschlüsse allzu oppositioneller Abgeordneter jedoch zeigen den eingeschränkten Handlungsspielraum, der mit der Ukraine-Krise noch einmal enger wurde. Die Geschichte des Gerechten Russlands ist eine Geschichte der Krise politischer Opposition in Russland.
Schon seit den 1990ern hatte es im Kreml Pläne gegeben, eine regimetreue Mitte-Links-Partei ins Leben zu rufen. Diese ideologische Position bot gute Wahlaussichten, schließlich hatte sich die sowjetnostalgische Kommunistische Partei (KPRF) nie ernsthaft in Richtung Sozialdemokratie bewegt, zudem setzte die Regierungspartei Einiges Russland wirtschaftlich eher auf neoliberale Politik. Beides öffnete Raum links der Mitte. Im Jahr 2003 entstand daher mit Unterstützung des Kreml die linksnationale Gruppierung Rodina (dt. „Heimat“). Unter der Führung von Dimitri Rogosin entzog sie sich jedoch der Kontrolle von oben und entwickelte sich in den Regionen schnell zu einer echten Konkurrenz für Einiges Russland.
Die Gründung als „zweites Standbein“
Die Verantwortlichen zogen die Reißleine, entließen die Führungsriege und verschmolzen den Rest des Rodina-Blocks mit der Partei der Pensionäre und der winzigen, esoterischen Partei des Lebens.1 Der Kreml-Stratege Wladislaw Surkow bezeichnete die Neugründung 2006 als „zweites Standbein“ der Macht. Dieses „zweite Bein“ erhielt den Namen Gerechtes Russland.
Vorsitzender wurde Putins Freund Sergej Mironow – was die Absicht unterstreicht, mit der Partei eine Wahlalternative für Putin-treue Sozialdemokraten zu schaffen. Gerechtes Russland trat denn zunächst auch mit offizieller Starthilfe Putins an, der die Neugründung im Februar 2007 auf einer Pressekonferenz begrüßte. Als jedoch klar wurde, dass die Partei nicht in der Lage war, den Kommunisten das Wasser abzugraben und stattdessen die Regierungspartei Einiges Russland Wählerstimmen kostete, nahm man wieder Abstand von der Doppelstrategie. Das „zweite Standbein“ wurde zum Anhängsel.2
Programmatische Entwicklung
Unterdessen entwickelte die Partei ein echtes sozialdemokratisches Programm, das einen starken Sozialstaat mit politischer Liberalisierung verbinden wollte. Während der Wirtschaftskrise 2009 forderte sie weniger Geld für marode Banken und stattdessen höhere Sozialleistungen. Sie ging sogar so weit, als Ursache der Krise die „politische Monopolisierung“ zu beklagen.3 Wenngleich sie sich mit direkter Kritik an Putin zurückhielt, erarbeitete sich Gerechtes Russland so ein ernstzunehmendes Profil. Dazu passt, dass der Partei immer wieder auch Aktivisten aus linksgerichteten Oppositionsprojekten beitraten, so zum Beispiel der ehemalige KPRF-Anhänger Ilja Ponomarjow. Als im Jahr 2011 im Land die Unzufriedenheit mit wirtschaftlicher Stagnation und politischer Ohnmacht zunahm, versuchte Gerechtes Russland daraus Kapital zu schlagen und verschärfte die Kritik an der Regierung. Das zahlte sich aus: Bei der Parlamentswahl 2011 konnte sie durch Proteststimmen ihren Mandatsanteil um etwa die Hälfte auf insgesamt 64 Sitze steigern.
Ein Drahtseilakt mit Schieflage
Die Wahlen brachten das Dilemma der Partei ans Licht. Einerseits versuchte man, die Rolle als echte Alternative weiterhin auszufüllen. Mehrere Abgeordnete protestierten lautstark, und selbst Parteichef Mironow erklärte, es habe Fälschungen gegeben. Gleichzeitig wollte er das gute Ergebnis der Partei nicht durch einen Parlamentsboykott oder Neuwahlen gefährden.4 Und so begab sich Gerechtes Russland auf einen Drahtseilakt: Zwar beteiligte es sich an der Protestbewegung 2011/12 und zeigte auch im Parlament zuweilen oppositionelles Stimmverhalten – stellte sich zum Beispiel als einzige Fraktion gegen das NGO-„Agentengesetz“. Doch ging die Partei dabei nie zu weit: Im Frühjahr 2013 schloss Gerechtes Russsland die Abgeordneten Gennadi und Dimitri Gudkow – zwei der aktivsten Unterstützer der Proteste – aus der Partei aus. Ilja Ponomarjow gab daraufhin seinen Austritt bekannt, blieb aber zunächst im Parlament.
Die Angliederung der Krim, die große Teile der russischen Gesellschaft um die Staatsführung zusammenrücken ließ, ging sodann auch an Gerechtes Russland nicht vorbei. Ponomarjow stimmte im März 2014 als einziger Abgeordneter der gesamten Duma gegen den „Anschluss“ der Krim – woraufhin Mironow ihn öffentlich aufforderte, sein Mandat niederzulegen.5 Im Frühjahr 2016 wurde mit Olga Shakowa eine weitere Abgeordnete entlassen – sie hatte von dem Unternehmer und Putin-Kritiker Michail Chodorkowski Fördergelder für ihren Wahlkampf erhalten.6 Sie erklärte daraufhin, ihr Ausschluss sei ein weiteres Zeichen dafür, dass die Partei sich davor fürchte, mit der „wirklichen Opposition“ zusammenzuarbeiten.
Unabhängig davon, ob man Chodorkowski für „wirkliche Opposition“ hält, trifft ihre Diagnose wohl zu. Gerechtes Russland hat seine widerspenstigsten Abgeordneten verloren und ist auf die „patriotische“ Linie des Kreml eingeschwenkt. Vor allem vor dem Hintergrund der Dumawahl 2016, bei der sie von 13,2 auf 6,2 Prozent abgerutscht ist, stellt sich aber immer stärker die Frage, ob der Partei die Balance zwischen Opposition und einem überlebensnotwendigen Maß an Loyalität gelingen wird.