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Fake-Satire als Propaganda

Die Chefs der NATO-Staaten schauen eine Videoansprache von Wladimir Putin an, auch der ukrainische Präsident Selensky ist dabei, am Arm eine rote Hakenkreuzbinde. Alle scheinen von Putins Rede derart beeindruckt zu sein, dass sie sich in die Hose machen. Die Urinspuren zu ihren Füßen formen die Abkürzung für die Nordatlantische Allianz. So soll angeblich eine Titelseite des spanischen Satire-Magazins El Jueves aussehen. Jedoch: Das Magazin mit diesem Cover hat es nie gegeben, es ging von einem russischsprachigen Telegram-Kanal aus viral. 

Diese gefälschte Titelseite eines bekannten Satire-Magazins ist kein Einzelfall. Aus der Tiefe des russischen Internets tauchen regelmäßig solche Fake-Bilder auf, die Titelseiten von Charlie Hebdo, Mad oder Titanic darstellen sollen. Im russischen Exil-Medium iStories geht Ilja Ber, Gründer und Chefredakteur des Faktchecking-Portals Provereno (dt. Geprüft), diesem relativ neuen Trend der Desinformation nach.

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Aus der Tiefe des russischen Internets tauchen regelmäßig Fake-Bilder auf, die Titelseiten von Charlie Hebdo, Mad oder Titanic darstellen sollen / Collage © iStories

Je länger der Krieg andauert, desto erfinderischer wird die russische Propaganda: Sie wird zunehmend nicht mehr von den traditionellen Massenmedien produziert, sondern von Bloggern (vor allem auf dem Messengerdienst Telegram). Darunter finden sich „Kriegsreporter“, bekannte Fernsehmoderatoren, „Experten“ mit zweifelhafter Qualifikation oder anonyme „Analytiker“, die Hunderttausende von Followern haben. Seit ein paar Monaten greifen die kremltreuen Telegram-Kanäle zu einer Methode, die die Propaganda früher eher selten benutzt hatte: Sie posten von vorne bis hinten erfundene Berichte, die angeblich aus ausländischen Medien stammen. Faktenchecker aus verschiedenen Ländern haben mehr als zwanzig Beispiele für solche Beiträge entdeckt, die zuerst bei Telegram viral gingen und dann auch von den traditionellen Medien aufgegriffen wurden.

Propaganda kommt zunehmend von Bloggern – vor allem auf dem Messengerdienst Telegram

Am 7. Juli erklärte Boris Johnson seinen Rücktritt vom Posten des britischen Premierministers. Eine Woche später twitterte der Fraktionsvorsitzende der Partei Gerechtes Russland im Unterhaus des russischen Parlaments und Ex-Vorsitzender des Oberhauses Sergej Mironow ein angebliches Cover der Satirezeitschrift Charlie Hebdo, auf dem ein Kobold abgebildet ist, dessen Kopf und Hut zusammen die Umrisse Großbritanniens ergeben und der den Ex-Premierminister auskotzt. Rechts unten in der Ecke ist ein Hund mit dem Gesicht von Wolodymyr Selensky abgebildet, der den abgerissenen Arm eines Asow-Kämpfers im Maul hält. Das Bild wurde sowohl von großen russischen Telegram-Kanälen mit Hunderttausenden Abonnenten als auch von privaten Nutzern in den sozialen Netzwerken geteilt.

Von Charlie Hebdo würde man provokante Karikaturen zu praktisch jedem Thema erwarten, aber … 

Von Charlie Hebdo würde man provokante Karikaturen zu praktisch jedem Thema erwarten, doch das Cover mit Johnson und Selensky als Hund findet sich nicht in ihrem Archiv. Es wurde weder in den sozialen Netzwerken diskutiert, wie das sonst mit den Neuerscheinungen der französischen Zeitschrift passiert, noch haben die großen Medien darüber berichtet; alle fremdsprachlichen Erwähnungen sind Übersetzungen oder Reposts von russischsprachigen Seiten. Zum ersten Mal tauchte das Titelblatt, wie die Mitarbeiter des Faktchecking-Projekts Provereno [dt. Geprüft] recherchierten, am 12. Juli auf dem Telegram-Kanal Neboshena mit einer halben Million Followern auf.

Vor dem Hintergrund der Berichte von angeblich „inszenierten“ Bildern des Raketenschlags auf ein Geburtskrankenhaus in Mariupol und der Massenmorde im okkupierten Butscha erscheint dieses Fake aus dem russischen Telegram-Segment relativ harmlos. Doch die Charlie Hebdo-Ausgabe, deren Titelblatt angeblich eine Karikatur von Johnson und Selensky geziert haben soll, war die erste aus einer ganzen Reihe von Publikationen, mit deren Hilfe man den Lesern im Internet offenbar beweisen will: In Europa und anderen Teilen der Welt habe man die Ukraine-Hilfe satt und unterstütze das Vorgehen des Kreml auf jede erdenkliche Weise.

Fake Cover propagieren Putins Sicht auf die Welt 

Nach dem Johnson-Cover gingen im Internet mindestens fünfzehn weitere Fake-Cover von Charlie Hebdo und anderen weniger bekannten Magazinen aus den USA, der Türkei, Spanien und Deutschland viral. Sie wurden von Internet-Usern in diversen Ländern aufgegriffen und propagierten alle auf die eine oder andere Weise Putins Sicht auf die Welt. Hier sind einige Beispiele:

  • Ende August/Anfang September 2022 tauchte im Netz ein angebliches Charlie Hebdo-Cover auf, auf dem der französische Präsident Emmanuel Macron mit dem Wasserwerfer auf französische Demonstranten schießt, links unten in der Ecke war wieder der Hund mit dem Selensky-Gesicht abgebildet (zwei Wochen später war der ukrainische Präsident in derselben Gestalt auf einer weiteren Fake-Titelseite mit dem neuen britischen König Charles III. zu sehen.)
  • Gegen Ende September wird die geografische Reichweite größer – diesmal verbreiten die Telegram-Kanäle ein angebliches Cover des spanischen Magazins El Jueves. Es zeigt die Leader der NATO-Länder, wie sie eine Videoansprache von Wladimir Putin sehen, die sie offenbar derart beeindruckt, dass sie sich in die Hose machen – die Urinspuren zu ihren Füßen ergeben die Buchstaben OTAN, die spanische Abkürzung für die Nordatlantische Allianz.
  • Anfang Oktober taucht die erste Titelseite aus den USA auf – angeblich soll die Zeitschrift Mad eine Karikatur veröffentlicht haben, die Joe Biden als Laokoon mit der berühmten antiken Skulpturengruppe zeigt. Als Schlangen fungieren die unlängst gesprengten Rohre der Gasleitung Nord Stream, daneben wieder die schon bekannte Gestalt des ukrainischen Präsidenten. „Natürlich war es Biden, er hat es bloß vergessen“, lautet die Bildunterschrift.
  • Ende November erschien ein Interview mit Papst Franziskus, in dem er sagte, Tschetschenen und Burjaten hätten sich als „die grausamsten“ Kriegsteilnehmer hervorgetan. Die russischen Machthaber reagierten umgehend auf seine Worte, indem sie den Pontifex an die Kreuzzüge erinnerten und ihm vorwarfen, er würde der LGBT-Gemeinschaft nahestehen; auf den Telegram-Kanälen tauchten wieder gefälschte Titelseiten auf. Eine – wieder angeblich von Charlie Hebdo – zeigt Franziskus, wie er einem Jugendlichen an den Hintern fasst, auf einer anderen – angeblich von der türkischen LeMan – sagt der Papst, neben einem Mann in Nazi-Uniform stehend: „Die Tschetschenen sind die eigentlichen Menschenquäler – nicht wir!“

Fakes mit veralteten Strichcodes 

Weder Charlie Hebdo noch die Kollegen aus den anderen Ländern haben Ausgaben mit diesen Titelseiten herausgebracht, wie das Faktencheck-Projekt Provereno und andere zeigten. Diese Karikaturen finden sich nicht auf den Seiten der entsprechenden Satire-Blätter, und unter den Nummern sind ganz andere Ausgaben erschienen. Zudem wurden auf den Fakes veraltete Strichcodes verwendet und Grammatikfehler gemacht. Die Zeitschrift Charlie Hebdo, die bei den russischen Telegram-Kanälen besonders beliebt ist, hat sogar eine Erklärung veröffentlicht, in der sie abstreitet, irgendetwas mit den in Umlauf gebrachten Karikaturen zu tun zu haben.

Fake-Cover wenden sich an die Russen, die überzeugt werden sollen, dass ein Teil der westlichen Gesellschaft die Position des Kreml teilt

Sämtliche Cover waren zunächst im russischsprachigen Segment des Messengers Telegram aufgetaucht und nicht in den sozialen Netzwerken oder auf den Seiten der Satiremagazine. Die beiden Cover mit Charles III. und der Pipeline Nord Stream wurden als erstes von Kristina Potuptschik gepostet, Medienmanagerin und ehemalige Kommissarin der kremltreuen Jugendbewegung Naschi [dt. die Unsrigen]. Die Karikatur von Macron und Selensky erschien erstmalig auf dem Telegram-Kanal Pul N3 – dahinter steht Dimitri Smirnow, der mit der Komsomolskaja Prawda eine der größten russischen Zeitungen im Journalistenpool des Präsidenten vertritt. Andere Cover erschienen auf Kanälen mit so sprechenden Namen wie Ukrainski Fresh, Putin TG Team und Putin bei Telegram.

Vermutlich richten sich die Fake-Cover an die Russen, die auf diese Weise davon überzeugt werden sollen, dass ein Teil der westlichen Gesellschaft die Position des Kreml teilt, wobei die Regierungen der westlichen Länder das ignorieren und, besessen von dem Wunsch, das große Russland zu bezwingen, ihr Spiel spielen. Viele dieser Publikationen wurden auch außerhalb der russischen Föderation populär, was offenbar ein netter Bonus für ihre Erschaffer ist. Die Befürworter von Putins Krieg in Europa und anderen Teilen der Welt brauchen eine ähnliche Message wie die in Russland – und die bekommen sie.

Die meisten der Karikaturen – von einem oder mehreren anonymen Autoren für kremltreue Telegram-Kanäle gezeichnet  – wurden als Titelseiten von Charlie Hebdo ausgegeben, einer Zeitschrift, die weder in Russland noch international einer Erklärung bedarf. Die Fälschung von Titelblättern einiger anderer Magazine war offenbar situationsbedingt, zum Beispiel ein Fake-Cover der Oktoberausgabe der deutschen Satirezeitschrift Titanic, auf dem Selensky als schwarzes Loch dargestellt ist, das militärische und finanzielle Hilfe anderer Staaten verschlingt. Diese Karikatur ist ein Beispiel für ein weiteres Narrativ, das auf Telegram aktiv vorangetrieben wird: Man vermittelt den Lesern, in den verschiedensten Ländern hätte die Bevölkerung vom ukrainischen Präsidenten die Nase voll.

Glaubt man den kremltreuen Telegram-Kanälen, dann sind Vergleiche Wolodymyr Selenskys mit einem schwarzen Loch von Oktober bis Dezember 2022 auch als Graffiti in europäischen Hauptstädten und im Fernsehen vorgekommen, und engagierte Studenten aus Serbien hätten sogar dafür plädiert, ein echtes schwarzes Loch im Weltall nach dem ukrainischen Präsidenten zu benennen. Hier ein paar dieser Falschmeldungen: 

Geräusche aus dem schwarzen Loch    

Mitte Oktober meldeten russische Telegram-Kanäle gefolgt von mehreren reichweitenstarken Medien einen Fauxpas im regionalen US-amerikanischen TV-Sender Local 4 News: Die Moderatoren hätten davon berichtet, dass es der NASA gelungen sei, die Geräusche eines schwarzen Lochs aufzuzeichnen, doch beim Abspielen des Videos sei ein Ausschnitt aus einer Videobotschaft von Wolodymyr Selensky auf dem Bildschirm erschienen. In Wirklichkeit war die Sendung bereits Ende August ausgestrahlt worden und der ukrainische Präsident kam nicht darin vor. 

Graffitis mit schwarzem Loch

Anfang November berichteten Medien und zahlreiche Internet-User, dass Graffiti-Künstler Selensky in Warschau als schwarzes Loch verewigt hätten. Diese Meldungen stützten sich auf einen Instagram-Account, der zu diesem Zeitpunkt 35 Follower hatte und nur einen einzigen Post – aus dem Zentrum der polnischen Hauptstadt. Dabei gab es in den Sozialen Netzwerken keine anderen Fotos dieses Werks, das sich an einer der belebtesten Kreuzungen Warschaus befunden haben soll. Die lokalen Behörden dementierten seine Existenz und Street-Art-Kenner hatten Zweifel daran – es sei unmöglich, unbemerkt und so schnell eine derart aufwändige Arbeit zu vollbringen. Zum Ende des Monats wurden Publikationen zu einem identischen (und ebenfalls nie existenten) Graffiti in Paris beliebt. 

Banner mit schwarzem Loch

Mitte November wurde auf Telegram die angebliche Reportage eines deutschen Mediums verbreitet (der Fernsehsender blieb ungenannt), zu sehen war da ein Bus mit der Aufschrift „Selensky ist ein schwarzes Loch“. Wie sich herausstellte, hatten die Produzenten des Fakes einen Ausschnitt aus einem sechs Wochen alten Interview mit einer Bundestagsabgeordneten für Die Welt manipuliert: Bei dem war im Hintergrund ein Bus mit dem Logo eines Transportunternehmens und nicht mit einer Diffamierung des ukrainischen Präsidenten vorbeigefahren.

Benennung eines schwarzen Lochs nach Selensky

Ende November tauchte in den Sozialen Netzwerken ein Video auf, das angeblich von der Deutschen Welle (DW) publiziert worden war. Es ging darin darum, dass Studenten der Universität Belgrad vorgeschlagen hätten, ein schwarzes Loch nach dem ukrainischen Präsidenten zu benennen. In offiziellen Social-Media-Accounts der DW fehlt dieses Video allerdings, die englischen Untertitel zur Erklärung weisen massenhaft grammatikalische und stilistische Fehler auf, und die „serbischen Studenten“ sind in Wirklichkeit Cottbuser Schüler aus einem Beitrag der DW von 2017. 

Wie auch im Fall der Cover war das erste Beispiel dieses Narrativs – Selensky als schwarzes Loch – erstmals in Kristina Potuptschiks Telegram-Kanal zu sehen. Auch sonstige erfundene Beweise dafür, dass die Bevölkerung westlicher Länder von der Unterstützung der Ukraine genug hätte, postete die Medienmanagerin, aber nicht als Erste. Verbreitet wurden diese Fakes unter anderem von wichtigen russischen Medien wie Argumenty i fakty, Life und Rossiskaja Gaseta, sowie von Wladimir Solowjow und anderen Größen des russischen Fernsehens.

Crossover goes Propaganda

In der Pop-Kultur nennt man es „Crossover“, wenn in einem Film oder Buch Figuren aus anderen Werken vorkommen, die ursprünglich nichts miteinander zu tun hatten. Diesen Kniff wenden allem Anschein nach jetzt auch die Propagandisten an. Uns sind mindestens zwei solcher Fälle bekannt.

Bei einem davon geht es ebenfalls um den Vergleich Selenskys mit einem schwarzen Loch – Anfang November meldeten russische Medien, etwa Izvestia oder Ren TV, dass auf einem Bildschirm auf dem New Yorker Time Square ein Video mit den Worten „black hole“ und einer Porträtaufnahme des ukrainischen Präsidenten gelaufen sei. Von diesem Zwischenfall berichteten übrigens weder amerikanische Medien noch die zigtausend New Yorker, die jeden Tag über diesen betriebsamen Platz laufen. 

Mitte des Monats teilten dann Telegram-Blogger, allen voran Potuptschik, fleißig eine Karikatur – angeblich vom Cover der spanischen Zeitschrift El Jueves. Sie zeigte den Time Square mit Selensky auf einem Bildschirm, während einfache New Yorker kotzen. „So aufdringlich wie ein Dickpic“, lautet die Bildunterschrift. Und selbstverständlich hat genau wie bei unseren bisherigen Beispielen die angeblich zitierte Satirezeitschrift nie ein solches Cover herausgebracht.

Neonazis bei der Fußball WM

Das andere Crossover wurde rund um das propagandistische Klischee über die flächendeckende Verbreitung des Neonazismus in der Ukraine konstruiert. Am 22. November, kurz nach Beginn der Fußball-Weltmeisterschaft, berichteten regierungstreue russische Blogger und einige Medien, ukrainische Fans hätten in Katar ein Banner beschmiert, dem darauf abgebildeten Turnier-Maskottchen ein Hitlerbärtchen aufgemalt und „Sieg Heil“ dazugeschrieben. Die Autoren der Meldung beriefen sich auf ein angeblich von Al Jazeera gemachtes Video, das, wie Faktenchecker herausfanden, erstmals im russischen Telegram aufgetaucht ist. Das Video war aus YouTube-Filmen montiert worden (eines davon neun Jahre alt), und das einzige Foto vom angeblichen Ort des Vandalismus wurde mit einem Bildbearbeitungsprogramm verändert. 

Telegram wird zu einer Karikatur seiner selbst

Trotzdem kursierte in den sozialen Netzwerken bereits zwei Tage später ein angebliches Charlie-Hebdo-Cover, auf dem das Banner gerade beschmiert wird und Einheimische von Katar dazu meinen, das sei „etwas auf Ukrainisch“. Natürlich hat es so ein Titelblatt nie wirklich gegeben. In einem Kommentar zu diesen Fake-Covers erklärte die Redaktion der berühmten französischen Zeitschrift: „Die App Telegram … ursprünglich erfunden, um den russischen Geheimdiensten auszuweichen, wird zu einer Karikatur ihrer selbst.“ 

Diese Übersetzung wurde gefördert von: 

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Pawel Durow

Philologe und Programmierer, Internet-Unternehmer und Verteidiger des Rechts auf Privatsphäre: Pawel Durow forderte mit seinem abhörsicheren Messenger Telegram die russische Politik heraus und zieht daraus symbolischen wie realen Gewinn. Es erinnerte an den Wettlauf zwischen Hase und Igel: Die russische Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor hatte im April 2018 versucht, den Messengerdienst zu blockieren, mit mäßigem Erfolg und hohen Kollateralschäden. Nun schickt sich Durow, der außer Landes lebende bekennende Weltbürger, mit einer Initiative im Bereich der Kryptowährungen an, die globale digitale Ordnung zu revolutionieren. Und wird damit auch zum role model für die Jugend der Putin-Ära.

Pawel Durow ist ein weltweit erfolgreicher und angesichts seiner exzentrischen Persönlichkeit umstrittener russischer Internet-Unternehmer, der derzeit außer Landes lebt. Er stammt aus einer Intellektuellen-Familie mit einem geisteswissenschaftlichen Hintergrund. Der Vater, ein renommierter Altphilologe, arbeitete zur Zeit der Perestroika an der Universität im italienischen Turin, wo Durow seine Kinderjahre verbrachte. Nach der Rückkehr der Familie nach St. Petersburg und dem Schulabschluss auf einem Elite-Gymnasium absolvierte auch der angehende Programmierer zunächst ein geisteswissenschaftliches Studium, nämlich der Anglistik. Der hochbegabte Student erhielt zahlreiche offizielle Förderungen, darunter auch ein Stipendium der Präsidialadministration. 
Im Jahr 2006, zur Zeit des ersten Booms der sozialen Netzwerke, gründet Pawel Durow gemeinsam mit seinem Bruder Nikolaj die Plattform VKontakte (dt. „InKontakt“). Das eingängige Logo in Blau-Weiß will der Jungunternehmer in der ihm typischen Unbescheidenheit in nur wenigen Minuten selbst entworfen haben. 
VKontakte entwickelt sich exponentiell und überholt in der Gunst der russischsprachigen Nutzer*innen bald den heimischen Konkurrenten Odnoklassniki (dt. „Schulkameraden“) sowie – wichtiger noch – das amerikanische Vorbild Facebook. Grund für den Erfolg ist neben der einfachen Bedienbarkeit eine laxe Copyright-Politik. VKontakte wird neben seiner Funktion als Medium privater und öffentlicher Kommunikation zu einer Tauschbörse für Kinofilme und Videospiele. Entsprechend ist die Erfolgsgeschichte der Plattform von Beginn an durch Kontroversen und gerichtliche Auseinandersetzungen um die Verletzung von Autorenrechten begleitet.1 Kritische Stimmen werfen Durow selbst Diebstahl geistigen Eigentums vor, habe er doch das erfolgreiche Zuckerbergsche Facebook-Modell einfach übernommen und russifiziert. VKontakte ist auch in russischsprachigen, ehemals sowjetischen Republiken wie der Ukraine oder Kasachstan populär.

Im Zuge der Politisierung des russischsprachigen Internets verschieben sich die Kontroversen vom Copyright zum Datenschutz. Bei den sogenannten Bolotnaja-Protesten 2011/12 spielen die sozialen Netzwerke eine zentrale Rolle, darunter auch VKontakte. Dasselbe gilt ein Jahr später für die ukrainische Euromaidan-Revolution 2014 und den Sturz des kremlnahen ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch. 
Durow lehnt die Forderungen des FSB ab, persönliche Daten von Teilnehmern der russischen und ukrainischen Proteste preiszugeben.2 Das in der russischen Verfassung verbürgte Recht auf Schutz der Privatsphäre stehe über den Sicherheitsinteressen des Staats. Zudem fielen die ukrainischen Nutzer nicht unter die russische Gesetzgebung. Seine Position vertritt Durow gewohnt kaltschnäuzig: Er publiziert das Schreiben des FSB auf seinem VKontakte-Account zusammen mit dem Bild eines Hundes im Hoodie, dem typischen Hacker-Fashion-Accessoire. 

Screenshot ausVKontakteParallel zu den Konflikten mit der Staatsmacht spitzen sich Auseinandersetzungen unter den Aktionären von VKontakte zu, darunter auch staatlich dominierten Akteuren des russischen Medienmarkts wie mail.ru. Durow gerät zunehmend unter Druck, zumal gegen ihn auch strafrechtlich ermittelt wird. Der vorgeblich bekennende Fußgänger und Metrofahrer soll einen Polizisten angefahren und danach Fahrerflucht begangen haben.3 
Im Frühjahr 2014 verkauft Durow seinen Aktienanteil, tritt von seinem Chefposten bei VKontakte zurück und verlässt Russland. Die Bedingungen für digitales Unternehmertum seien nicht mehr gegeben.4 Seine Kritiker sehen den Grund für die ‚Emigration‘ in den wirtschaftlichen Auseinandersetzungen zwischen den Aktionären sowie einer Anklage wegen Beamtenbeleidigung.

Telegram: Vom privaten Messenger zum digitalen Massenmedium

Die Fortsetzung des digitalen Siegeszugs des Pawel Durow vollzieht sich also außerhalb Russlands. Der Unternehmer-Nomade und seine Mitstreiter bringen 2013 einen Kurznachrichtendienst namens Telegram auf den Markt. Neben einer Reihe von hübschen Gadgets zeichnet sich dieser durch die Möglichkeit der Verschlüsselung privater Chats aus, im Unterschied zum Produkt Whatsapp des ewig-epischen Gegners Facebook. Der Dienst wird ob dieser Qualität weltweit populär bei Nutzern, für die Privatsphäre und Datenschutz zentral sind, bei Protestgruppen und NGOs etwa. Telegram wird aber auch von terroristischen Gruppierungen aller Couleur genutzt, in Russland (beim Anschlag auf die Petersburger Metro 2015) wie in Deutschland (beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt 2016). Die tatsächliche Effizienz der Verschlüsselung ist dabei nach wie vor umstritten. Von einem privaten Messenger entwickelte sich der Dienst seit 2015 auch zu einem neuen massenmedialen Kommunikationsformat, über dessen öffentliche Kanäle hunderttausende Nutzer gezielt informiert werden können. Auch der Kreml nutzte diese Option gerne, bevor die Auseinandersetzungen mit dem Durowschen, auf Datenschutz setzenden Geschäftsmodell erneut eskalieren. 

Im Zuge der erwähnten, verstärkt auf Kontrolle setzenden Medienpolitik geraten Verschlüsselungstechnologien zunehmend unter Druck, in Russland wie weltweit. Argument ist der Kampf gegen den Terrorismus. Aktivisten und Regierungsgegner befürchten hingegen eine gesteigerte Überwachung unliebsamer politischer Aktivitäten. Und so entfaltet sich der zweite Akt im Drama Durow gegen den FSB, der ultimativ die Aushändigung der Verschlüsselungscodes verlangt. Der Telegram-Gründer aber bleibt bei seiner kompromisslosen Haltung. Der Messenger wird daraufhin im April 2018 von der russischen Medienaufsichtsbehörde Roskomnadsor auf den Index gesetzt und blockiert. Die Blockade zieht eine Reihe von Kollateralschäden nach sich. Im Zuge des Hase- und Igel-Rennens zwischen den Kontrahenten waren populäre Мedienangebote und Cloud-Services, auch von ausländischen Firmen wie Amazon oder Google, in Russland unzugänglich. Im Herbst 2018 ist Telegram in Russland mit Einschränkungen weiter nutzbar.5 

Aktuell ist der Dollar-Milliardär6 Durow dabei, Telegram zu einer umfassenden, auf Blockchain-Technologie beruhenden Dienstleistungsplattform auszubauen. Diese soll auch eine neue Kryptowährung namens Gram und damit ein verlässliches und bequemes Mittel des digitalen Bezahlverkehrs anbieten. Anfang 2018 akquirierte das Unternehmen für diesen Zweck knapp zwei Milliarden Dollar von Investoren7, ohne dass bereits Genaueres über die angekündigte revolutionäre Technologie bekannt wäre. Der russische Markt, so Experten, ist für Durow und Telegram zu klein geworden, weshalb sich der Unternehmer den Konflikt mit seinem Heimatland und dem Nachrichtendienst FSB leisten kann.8 Ein Vertrauensverlust angesichts der Preisgabe von Nutzerdaten an nationale Sicherheitsdienste würde die Marke Telegram/Durow stärker schädigen als der temporäre Verlust eines regionalen Marktes. Telegram selbst macht im Übrigen bis dato keinen Gewinn und wird von seinem Gründer aus den VKontakte-Aktienverkäufen quersubventioniert.
Unterstützt wird Durow maßgeblich von seinem Bruder Nikolaj, der als das eigentliche Programmier-Genie an seiner Seite gilt, aber hinter der exzentrischen Persönlichkeit seines Bruders zurücksteht. 

Weltbürger und Provokateur: Durow, das Mem

Die Internet-Unternehmer der digitalen Ära sind zu popkulturellen Figuren geworden, deren Biographien teils noch zu Lebzeiten verfilmt werden, wie etwa im Fall des amerikanischen Social-Media-Wunderkinds Mark Zuckerberg (Verfilmung The Social Network, 2011). Dies gilt erst recht für den exzentrischen Dollar-Milliardär Durow. In seinem charakteristischen Outfit in schwarzer Kleidung mit Kapuze scheint er selbst dem antiutopischen Film Matrix um den Hacker Neo entsprungen zu sein, dessen Physiognomie er sogar nachahmt.     
Durow charakterisiert sich seit seiner Ausreise aus Russland als Weltbürger. Versehen mit einem Pass des Inselstaats St. Kitts und Nevis reist er mit seinem Bruder und seinem Team von Programmierern durch die Welt und lebt immer nur begrenzte Zeit an einem Ort, aktuell in Dubai. Der bekennende Vegetarier ist ebenso bekennender Libertarier und lehnt Nationen ab, ganz im Sinne der grenzenlosen digitalen Welt, innerhalb derer er sich bewegt. Seine asketischen Lebensregeln mit Verzicht auf Alkohol, Kaffee, Fleisch und Fernsehen und vorgeblich auch materiellen Besitz, rufen auch amüsierte Reaktionen hervor. Kritiker seiner exzentrischen Persönlichkeit verweisen auf eine Episode in seinem Leben, die in absolut jeder Darstellung seiner Biographie zwangsläufige Erwähnung findet: 2012 wirft Durow Geldscheine im Wert von einigen Tausend Rubel als Papierflieger aus den Fenstern der Konzernzentrale an der Petersburger Promeniermeile Newski-Prospekt. Und das gerade am Tag des Sieges, an dem die gesamte russische Nation des Großen Vaterländischen Krieges gedenkt.9 Seinen Kritikern gilt dies als Beleg für seine zynisch-abgehobene Entfremdung von den eigenen Landsleuten. 
Bezeichnenderweise hat der programmierende Philologe diese Episode zu seinen Gunsten gewendet und sogar in sein Markenzeichen verwandelt: Der Papierflieger wurde zum Telegram-Logo, aber auch zum Symbol der Proteste gegen die Blockade des Messengers sowie der restriktiven russischen Medienpolitik im Allgemeinen10

Screenshot von Durows „Instagram“-Account

Durow versteht sich also nicht nur auf die technische Seite des Programmierens, sondern auch auf die Kunst der Steuerung der Netzöffentlichkeit durch virale Strategien. Putin persönlich challengt er auf seinem Instagram-Account mit Bildern, die ihn in der präsidialen Freizeitpose mit durchtrainiertem freien Oberkörper zeigen: #PutinShirthlessChallenge.11 Und verwandelt sich dabei sukzessive selbst in ein Mem. 
Gleichzeitig, so Soziologen, entwickelt sich der bei aller Exzentrik prinzipientreue Durow zu einem alternativen role model12 für die Jugend der Putin-Ära.13 Der PR-Stratege Aleksej Firsow sieht in ihm einen neuen Typus des russischen Unternehmers jenseits der etablierten oligarchischen Strukturen. Der erklärte Unwille Durows, sich im direkten Sinne politisch zu betätigen, fördere angesichts der weit verbreiteten Elitenmüdigkeit seine Glaubwürdigkeit und Popularität nur noch.14 


1.Forbes: «Vedomosti» ušli iz «VKontakte» iz-za konflikta vokrug avtorskich prav 
2.vk.com: Post von Pavel Durov vom 16. April 2014 
3.Novaya Gazeta: VKontakte s DPS 
4.Moskowski Komsomolez: Osnovatel' VKontakte: «Rossija nesovmestima c internet-biznesom» 
5.Ria Nowosti: Jurist ozenil vozmožnost' sotrudničestva meždu vlastjami i Telegram 
6.Forbes: Tektoničeskaja platforma: Forbes priznal Pavla Durova dollarovym milliarderom 
7.zeit online: Der Traum von einem neuen Internet 
8.Forbes: Bol'šaja igra: Počemu Pavel Durov ne boitsja FSB 
9.Neue Zürcher Zeitung: Der Telegram-Gründer nimmt es auch mit dem russischen Geheimdienst auf 
10.Instagram: #digitalresistance 
11.Instagram: Post von Pavel Durov vom 14. August 2017 
12.Meduza: Blocking Telegram is a blow to Russia's future 
13.Memepedia: Golyj tors i Digital Resistance: Kak Pavel Durov stal simvolom svobodny i geroem pokolenija 
14.Forbes: Čelovek c charizmoj: možet li Pavel Durov stat' političeskim liderom 
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Lenta.ru ist ein Online-Nachrichtenportal, das Newsticker, Themen-Artikel und Meinungsbeiträge kombiniert. Mit über acht Millionen Besuchern monatlich ist die Ressource eine der populärsten ihrer Art im russischen Internet. Im März 2014 sorgte die Entlassung der Chefredakteurin für Diskussionen über die Ukraine-Berichterstattung und politische Zensur im Internet.

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Facebook-Klon, Facebook-Alternative oder sogar digitaler „Auswanderungsort“: VKontakte (VK) ist das meistgenutzte soziale Netzwerk im postsowjetischen Raum. In der Praxis wirft VK immer wieder Fragen zum Daten- und Minderheitenschutz sowie zur staatlichen Kontrolle der Netzkommunikation auf. Sein Gründer Pawel Durow kam in Russland unter Druck und hat das Land inzwischen verlassen.

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Ein kurzer Augenblick von Normalität und kindlicher Leichtigkeit im Alltag eines ukrainischen Soldaten nahe der Front im Gebiet , © Mykhaylo Palinchak (All rights reserved)