Die Gouverneurswahlen am 13. September 2015 dürften in vielem der Vorbote der Parlamentswahl im nächsten Jahr gewesen sein. Das liberale Wirtschaftsportal slon hat analysiert, wie die Wahlen verlaufen sind und was Russland im Jahr 2016 erwartet. Autor: Alexander Beloussow, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Philosophie und Recht an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Sektion Ural.
Der Wahlkampf des Jahres 2015 unterscheidet sich deutlich von der Kampagne des Vorjahres – allein schon dadurch, dass er nicht vom Geschützdonner im Donbass, sondern vom Anstieg der Lebensmittelpreise und dem Anstieg des Dollarkurses begleitet ist. Bis zu einer Krise und Protestwahlen ist es noch weit, aber eines ist klar: Mit dem totalen Machtmonopol und überbordenden Ergebnissen von über 80 % ist es vorbei.
Einiges Russland – es wird wieder spannend
Die diesjährigen Wahlergebnisse von Einiges Russland werden niedriger als die vorhergehenden. Hier um 5 %, da um 10 % und mancherorts um 20 %. In den großen Metropolen (Nowosibirsk, Woronesh, Nishni Nowgorod) werden die mittleren Ergebnisse um die 40 % liegen – im Durchschnitt sind sie innerhalb eines Jahres um 10 % gefallen. Sogar der Parteivorsitzende, Dimitri Medwedew, sprach von guten bis befriedigenden Ergebnissen.
Die Ergebnisse der Gouverneurswahlen im Gebiet Irkutsk, die zu einem zweiten Wahlgang führten, waren de facto eine Sensation. In den Gebieten Omsk und Amur kamen die regierenden Gouverneure nur knapp über 50 %, wobei die 0,56 Prozentpunkte, die dem Gouverneur von Amur den zweiten Durchgang ersparten, ein zweifelhafter Beitrag sind zu jener von Wjatscheslaw Wolodin proklamierten „Offenheit, Ehrlichkeit und Legitimität“. Im Jahr 2014 gab es ein solches Ergebnis nur bei der Wahl eines Gouverneurs. In dem derzeit geltenden Wahlystem demonstriert der zweite Wahlgang den Regierenden die eigene Impotenz, aber es hilft nichts: 2016 wird – ungeachtet dessen, dass man versucht hat, alle Gouverneure vorzeitig durch Wahlen zu schleusen – der zweite Wahlgang Realität sein. Und das bedeutet, dass es bei den Dumawahlen wieder spannend wird.
Die Macht: Kraft ist da, Köpfchen fehlt
Vor Patzern und Dummheiten der Mächtigen strotzte es in diesem Wahlkampf nur so. „Je weniger Einiges Russland tut, desto besser ist sein Ergebnis“ – so eines der in engen Kreisen handlungsweisenden Prinzipien. Und es wurde ironisch angemerkt, dass auch die Partei PARNAS im Gebiet Kostroma horrende Bestechungsgelder an die Polizei zahlte, damit sie Aktivisten festsetzte, sowie an föderale Sender, die bestellte Sendungen fabrizierten. Klar, was Sache ist: Die Mächtigen leisten sich Fehler um Fehler bei dem Versuch, Konkurrenten auszuschalten.
Fortwährende hysterische Machtdemonstrationen sind der auffälligste Trend in diesem Herbst. Zur Apotheose dessen wurde der berühmte Auftritt des Oberhaupts der Republik Marij El, Leonid Markelow, der seinen Wählern ankündigte, eine schon gebaute Straße wieder aufzureißen.
Die von den lokalen Oberhäuptern im Kampagnenverlauf vorgebrachten Argumente sind ebenfalls fragwürdig. Z. B. beschimpfte man in eben jenem Omsk den Kommunisten Oleg Denissenko, ein Waräger zu sein – welch eine Freude würde solches Gerede bei den Bewohnern der meisten russischen Regionen auslösen, die von solchen aus dem Zentrum geschickten Waräger-Gouverneuren regiert werden. Die Regierenden in der Provinz sind ratlos, da sie nicht wissen, was sie propagieren sollen: Wandel oder Stabilität. Präzise Antworten auf solche Fragen gibt es nicht, nur in solchen Regionen, die ähnlich astronomisch hohe Ergebnisse für die Regierungspartei haben wie in Tschetschenien: in Kemerowo und Tatarstan.
Die Vorwahlen: Sieg der Bestechung
Die Erfahrung von 2015 zeigt: Die Vorwahlen von Einiges Russland könnten zu einer Praxis zu werden, die wenig mit Wahlen zu tun hat. Zu den Vorwahlen in Nishni Nowgorod kamen 10 % der dortigen Bevölkerung. Es ist gesetzlich nicht verboten, bei den Vorwahlen offen Wählerstimmen zu kaufen, und so gab die Parteiführung des Gebiets jedem, der für Einiges Russland kandidieren wollte, eine Carte blanche. Der Preis für eine Stimme betrug 1000 Rubel [ca. € 13]. Die Bestechung wurde auch während der Wahlen fortgesetzt, mancherorts stieg der Preis bis auf 3000 Rubel.
Man kaufte, soviel wie nur möglich, bezahlt wurde überwiegend mit Geld oder Lebensmitteln, die direkt am Wahltag von einem Wagen neben dem Wahllokal verteilt wurden. Menschen gewöhnen sich schnell an etwas Gutes, und niemand macht sich Gedanken darüber, wie sich ein gekaufter Wähler verhält, wenn man ihn beim nächsten Mal nicht für seine Stimme bezahlt. 2016 wird das nämlich nicht mehr finanzierbar sein: Fünftausend Stimmen für die Wahl eines Stadtparlaments zu kaufen ist die eine Sache, aber Hundertfünfzigtausend Stimmen für die Wahlen der Staatsduma ist etwas ganz anderes. Die Größenordnungen lassen sich nicht vergleichen. Einmal gekauft, beim nächsten Mal fallengelassen: Wer wird eine solche Regierung wählen?
Ergebnis: hübsch ordentlich
Von föderaler Ebene gibt es keine Vorgabe, den Zugang zu den Wahlen zu sperren und niemanden zuzulassen. Doch es gibt sie in den Köpfen regionaler Beamter, die es bevorzugen würden, sich aus der Verantwortung zu ziehen und höhere Instanzen anzurufen. Die höheren Instanzen schweigen indes vielsagend, doch zuweilen geben sie Anweisungen, die den ausführenden Kräften ordentlich gegen den Strich gehen. Deswegen wurde bei den Gouverneurswahlen im Gebiet Omsk der Kommunist Oleg Denissenko rehabilitiert. Deswegen wurde im Gebiet Kostroma PARNAS bei den Wahlen zugelassen.
Ebensowenig verstand man in den Regionen Wolodins Proklamation von „Transparenz, Offenheit, Legitimität“ – was sich wohl auch übersetzen ließe als: Das Ergebnis „hübsch ordentlich und ohne großes Aufheben“ zu erzielen, also ohne Exzesse und ähnliche Themen, die zu den Bolotnaja-Demonstrationen geführt hatten. Wer das verstände, würde, überzeugt vom eigenen Erfolg, nicht hohen Prozentzahlen nachjagen. Z. B. sicherte sich der Gouverneur von Kamtschatka, Wladimir Iljuchin, sein gutes Ergebnis bei einer Wahlbeteiligung von weniger als 30 %. An anderen Orten wie etwa in Nishnij Nowgorod – wo Befragungen am Wahltag zeigten, dass Einiges Russland auf etwas mehr als 40 % kommen würde – wurden in der Nacht nach den Wahlen die Regionalverwaltungen für Kandidaten und Beobachter geschlossen, damit man alles „richtig“ auszählen konnte.
Die Opposition: der Selbsterhaltungstrieb
Kurz vor den Wahlen ist die parlamentarische Opposition – bis dato nicht bekannt für Illoyalität – buchstäblich aus dem Winterschlaf erwacht; diesen Herbst waren das die Kommunistische Partei der Russischen Föderation KPRF und die Liberal-demokratische Partei Russlands LDPR. So hat sich die KPRF in kaum einer Region als tauglicher Sparringpartner erwiesen – weder in Omsk noch in Nowosibirsk oder in der Wolga-Republik Udmurtija. Das gleiche gilt für Gerechtes Russland. In dem Maße, wie die Wahlen zur Staatsduma näherrücken, erwacht in den Parteien der Selbsterhaltungstrieb. Gegen einen Bären anzugehen, ist natürlich hart und macht Angst, aber der Selbsterhaltungstrieb ist stärker. So kam es bei den Gouverneurswahlen im Gebiet Irkutsk seit langer Zeit wieder einmal zu einem zweiten Wahlgang: zwischen dem Einigkeitsrussen Sergej Jeroschtschenko und dem Kommunisten Sergej Lewtschenko.
Die Partei PARNAS wurde überhaupt nur im Gebiet Kostroma zu den Wahlen zugelassen und geriet dort unter beispiellosen administrativen Druck. Das Ergebnis des Wahlkampfs zeigte, dass PARNAS als Partei zwar eine wichtige oppositionelle Funktion ausübt, aber noch keine Volkspartei ist: Bei der Agitation fehlt es an Wissen und Umsetzung, wie öffentliche Meinung funktioniert – im Ergebnis befindet sich die Partei überwiegend in einem Dialog mit sich selbst.