Am Mittwoch, 15. Januar 2020, überschlagen sich die Ereignisse: Putin regt eine Reihe von Verfassungsänderungen an (über die die Bürger in einem Referendum abstimmen sollen), dann tritt die Regierung zurück und auch Premier Medwedew, für den ein Nachfolger präsentiert wird. Was geht da vor im Kreml? Ein Bystro von Jens Siegert in fünf Fragen und Antworten.
1. Putin hat am Mittwoch Verfassungsänderungen vorgeschlagen, die dem Premier und dem Parlament mehr Macht geben würden. Am gleichen Tag trat die Regierung zurück und auch Medwedew als Premier. Was hat das alles zu bedeuten?
Putin hat zwei große Probleme: seine sinkende Popularität und die Frage, was nach seiner jetzigen Amtszeit 2024 geschieht. Die beiden Probleme sind eng verbunden. Nach allem, was wir wissen (können), will Putin 2024 als Präsident aufhören. Er sitzt aber in der Falle aller autoritären Herrscher, nicht einfach so aufhören zu können. Sein Wohlstand, seine Gesundheit und vor allem seine Sicherheit hängen davon ab, dass er an der Macht ist. Deshalb gehen eigentlich alle Beobachter/innen davon aus, dass das Ende von Putin als Präsident nicht das Ende von Putin an der Macht sein wird. Die angekündigten Verfassungsänderungen sind (fast) alle kleine Schritte zur Vorbereitung dieses Übergangs. Durch sie wird die bisherige (fast) All-Macht des russischen Präsidenten beschnitten und anderen staatlichen Institutionen übertragen.
2. Welche Verfassungsänderungen genau sind geplant?
Zuallererst soll das Parlament mehr Rechte bekommen. Das Unterhaus, die Staatsduma, soll künftig bei der (Aus-)Wahl des Ministerpräsidenten und der Minister mitbestimmen. Bisher durfte sie nur den Vorschlag des Präsidenten bestätigen und wenn sie es nicht getan hätte (was allerdings nicht vorgekommen ist), hätte der Präsident sie auflösen und Neuwahlen ansetzen können. Das Oberhaus, der Föderationsrat, soll Mitspracherechte bei der Auswahl der Leiter der sogenannten „Macht-Behörden“ („silowyje wedomstwa“) bekommen.
Die vielleicht wichtigste Änderung betrifft den sogenannten Staatsrat. Das ist bisher ein rein konsultatives, vom Präsidenten aufgrund eines Erlasses eingesetztes Organ, das vor allem aus Regionalgouverneuren besteht. Dieses Gremium soll nun Verfassungsrang bekommen. Außerdem soll durch eine Reihe von Änderungen „ausländischer Einfluss“ eingeschränkt werden: Etwa dürfen zukünftige Präsidenten, Gouverneure, Richter oder Minister weder eine ausländische Staatsbürgerschaft noch eine ausländische Aufenthaltsgenehmigung besitzen oder besessen haben. Der Präsident (oder, unwahrscheinlich, die Präsidentin) muss darüber hinaus die letzten 25 Jahre (derzeit 10 Jahre) in Russland gelebt haben.3. Welche Szenarien sind nach 2024 also denkbar?
Klarheit, welches der schon seit langem zirkulierenden Szenarien Putin für die Zeit nach 2024 wählt, gibt es nach wie vor nicht. Auch mit den angekündigten Verfassungsänderungen und dem Rücktritt der Regierung Medwedew hält sich Putin alle Optionen offen. Nur den (sicher möglichen) Verbleib als Präsident über 2024 hinaus, schließt er anscheinend aus: nicht zuletzt hat Putin eine Verfassungsänderung angesprochen, die die Präsidentschaft auf zwei Amtszeiten beschränken soll.
Die Aufwertung des Staatsrates zu einem Verfassungsorgan macht die sogenannte „kasachische Variante“ ab 2024 vielleicht etwas wahrscheinlicher: Der kasachische Präsident Nasarbajew war voriges Jahr zurückgetreten, hält aber als Chef des Staatssicherheitsrats und „Führer der Nation“ alle Machtfäden weiter in der Hand.
In einem anderen Szenario könnte Putin das Oberhaupt eines bis dahin gebildeten russisch-belarussischen Unionsstaates werden, den es formal bereits seit Mitte der 1990er Jahre gibt.
Auch eine Rochade wie mit Medwedew, der zwischen 2008 und 2012 Präsident war, während Putin Premierminister wurde, ist zwar unwahrscheinlicher, aber nicht ganz ausgeschlossen.4. Was ist die neue Rolle Medwedews, was könnte eigentlich hinter seinem Rücktritt stecken? Und warum wird Mischustin sein Nachfolger?
Dazu gibt es zwei mögliche Erklärungen. Beide haben etwas damit zu tun, dass es auch nach Putin einen russischen Präsidenten mit sehr viel Macht geben wird, – nach den Verfassungsänderungen jedoch auch weniger als Putin heute besitzt. Das muss, aus Putins Sicht, also jemand sein, dem er vertrauen kann und – da Vertrauen sicher nicht die bevorzugte Politikmethode Putins ist – den er glaubt kontrollieren zu können. Das dürfte auf beide, auf Medwedew wie auf Mischustin, zutreffen.
Medwedew hat das bereits gezeigt, als er 2012 zugunsten von Putin wieder ins zweite Glied zurücktrat und seither als Sündenbock namens Ministerpräsident alle Versäumnisse von Putins Politik auf sich nahm. Von Mischustin steht ein solcher Beweis noch aus. Aber sein gesamter Werdegang weist ihn bisher als loyalen (und effektiven) Bürokraten ohne eigene politische Ambitionen aus.5. Könnte der nächste russische Präsident also Mischustin heißen?
Der Rücktritt Medwedews könnte bedeuten, dass er den Platz für Mischustin als möglichen Putin-Nachfolger im Präsidentenamt freimachen musste. Es könnte aber auch bedeuten, dass Medwedew aus der Schusslinie genommen wurde, um wieder als Präsident aufgebaut zu werden. Letzteres scheint aber weit unwahrscheinlicher. Eine dritte Möglichkeit ist, dass es keiner der beiden wird. Medwedew musste deswegen gehen, weil die Unbeliebtheit seiner Regierung Putin mit nach unten zu ziehen drohte. Und Mischustin wurde gewählt, weil er so unpolitisch ist, dass er als Platzhalter für den „eigentlichen“ Nachfolger dienen kann.
*Das französische Wort Bistro stammt angeblich vom russischen Wort bystro (dt. schnell). Während der napoleonischen Kriege sollen die hungrigen Kosaken in Paris den Kellnern zugerufen haben: „Bystro, bystro!“ (dt. „Schnell, schnell!“) Eine etymologische Herleitung, die leider nicht belegt ist. Aber eine schöne Geschichte.
Text: Jens Siegert
Stand: 16.01.2020