Russische Trolle! US-amerikanische Bedrohung! Die Hysterie in den Beziehungen zwischen Russland und den USA erreicht gerade in letzter Zeit immer wieder neue Höhepunkte. Einer, der sich dagegen wohltuend ruhig und sachlich mit dem gegenseitigen Verhältnis auseinandersetzt, ist der Historiker Ivan Kurilla. Im Interview mit Olga Filina von Kommersant-Ogonjok erklärt er unter anderem, was die besondere „Erzfreundschaft“ zwischen beiden Ländern ausmacht, was Ford mit dem Kommunismus und Sputnik mit dem US-amerikanischen Bildungssystem zu tun hat. Und warnt vor zu viel „Schaum vor dem Mund“.
Kommersant-Ogonjok: Schon im Titel Ihres Buches behaupten Sie, Russland und die USA seien zwar „Erzfreunde“, aber immerhin doch Freunde. Können Sie diese These begründen?
Ivan Kurilla: Meinem Buch liegt ein zehnjähriges Projekt zugrunde: Ich habe Materialien gesammelt, die mit der gegenseitigen Beeinflussung zwischen Russland und den USA zu tun haben. Ein paar hundert kamen da zusammen.
Ich möchte mit einer Art Metapher beginnen: Russland ist sehr stolz auf „seine Spur“ – die materialisiert sich in den russischen Eisenbahnschienen, die eine andere Spurweite haben als die in Europa. Aber warum sind unsere russischen Eisenbahnen anders als die europäischen? Weil sie amerikanisch sind, ein Modell von 1836. Heute haben die Amerikaner natürlich andere Standards, doch im 19. Jahrhundert lieferten sie uns die Schienen, die auch Baltimore mit Ohio verbanden. Und so setzten sich bei uns die Schienen aus Maryland durch.
Die ganze Industrialisierung verdanken wir ,amerikanischer Einmischung‘
Und weiter: Die ganze Industrialisierung der 1930er Jahre verdanken wir „amerikanischer Einmischung“. Das Stalingrader Traktorenwerk genauso wie die Nishni Nowgoroder Automobilfabrik, die Magnitka genauso wie das Wasserkraftwerk DniproHES, sie alle wurden nach amerikanischen Plänen gebaut. Wir waren das 20. Jahrhundert hindurch einander viel näher, als man uns zu denken erlaubte.
Auch deutsche Ingenieure arbeiteten vor dem Krieg in der Sowjetunion ...
Trotzdem spielt Amerika bei jeder unserer Modernisierungen eine ganz besondere Rolle. Es ist sogar so: Jedes Mal, wenn unser Staatschef von der „Modernisierung“ spricht, meint er „Amerikanisierung“. Mit einem Ruck wollen wir durch Europa hindurch und direkt nach Amerika. Das war schon unter Nikolaus I. so und unter Lenin, unter Chruschtschow und Gorbatschow und sogar unter Medwedew. Trotzki war da übrigens sehr ehrlich: In den 1920ern verwendete er durchweg genau diesen Begriff – „Amerikanisierung“ – wenn er dem Land den Weg in die Zukunft aufzeigte. Berühmt ist noch eine weitere Losung aus diesen Jahren: „Kommunismus ist Sowjetmacht plus Ford-isierung“.
Kommunismus ist Sowjetmacht plus Ford-isierung
Wir erinnern uns an diese Formel natürlich mit dem Wort „Elektrifizierung“, weil die Geschichte der ersten Sowjetjahre erst in Zeiten des Anti-Amerikanismus geschrieben wurde. Der Kalte Krieg ließ uns überhaupt viel von der Präsenz Amerikas in Russland vergessen, obwohl die Spuren überall sichtbar sind, wenn man nur den Blick dafür schärft.
Sie haben jetzt ein paar Beispiele genannt, wie Amerika Russland veränderte. Kann man auch Geschichten über den Einfluss Russlands in den USA finden?
Die sucht man vielleicht nicht so sehr auf dem Gebiet der Technik, obwohl auch dort ... etwa der Elektrotechniker Alexander Poniatoff mit seiner Firma Ampex, der den ersten funktionierenden Videorekorder erfand.
Von der ersten Generation von Emigranten, die Russland noch als Kinder verließen und alle berühmten Hollywood-Filmstudios gründeten, rede ich schon gar nicht. Der kulturelle Einfluss von Auswanderern unseres Landes auf die USA ist wirklich offensichtlich: Man denke an Irving Berlin, aus dessen Feder die wichtigsten patriotischen Lieder Amerikas im 20. Jahrhundert stammen (inklusive God bless America), obwohl er in Tjumen geboren wurde.
Der kulturelle Einfluss von russischen Auswanderern auf die USA ist offensichtlich
Während des Kalten Krieges ging dann der berühmte Ausspruch des amerikanischen Impresarios Sol Hurok um, der den kulturellen Austausch zwischen UdSSR und USA organisierte: „Was ist denn unser kultureller Austausch? Das ist, wenn sie uns ihre Juden aus Odessa schicken, und wir schicken ihnen unsere Juden aus Odessa.“ Und da war viel Wahres dran.
Und der ideelle Einfluss, der ideologische? Der war, nehme ich an, einseitig ...
Bei den Amerikanern entwickelte sich ab dem 18. Jahrhundert, ab den ersten Puritanern, die Tradition, sich als Leader zu sehen: zuerst als religiöse („City upon a Hill“), dann als demokratische („Citadel of Freedom“) und so weiter.
Damals im 19. Jahrhundert wurden amerikanische Verhältnisse von Nikolaus I. (der den transatlantischen Pioniergeist äußerst schätzte) und den Dekabristen (die ihre Verfassung nach amerikanischem Muster schrieben) gleichermaßen bewundert.
Fälle, in denen wir Amerika mit unseren Ideen bereichert haben, gibt es sehr wohl. Ein hervorragendes Beispiel ist die Aufhebung der Leibeigenschaft
Mit Russland ist das komplizierter, doch Fälle, in denen wir Amerika mit unseren Ideen bereichert haben, gibt es sehr wohl. Ein hervorragendes Beispiel ist die Aufhebung der Leibeigenschaft. Wir haben sie früher abgeschafft als Amerika die Sklaverei, und während des Bürgerkriegs studierten die USA aktiv die Erfahrungen Russlands. Wahrscheinlich haben wir sie genau in diesem Moment „eingeholt und überholt“, ohne es selbst zu bemerken.
Eine weitere bekannte Geschichte erzählt davon, wie die Amerikaner ihr Bildungssystem zu reformieren begannen, als sie mit den Erfolgen des sowjetischen Raumfahrtprogramms konfrontiert waren. Das ist doch auch ein ideeller Einfluss.
Wenn man heute vom Einfluss Amerikas auf Russland oder Russlands auf Amerika spricht, dann impliziert man etwas Ungutes. Bei Ihnen ist „Einfluss“ fast immer für beide Seiten vorteilhaft.
Wir sind so oder so innenpolitische Faktoren füreinander – dem entkommen wir nicht. Wie wir wissen, folgte nach der „Entspannung“ eine neuerliche Abkühlung der Beziehung zwischen UdSSR und USA, die mit der Präsidentschaft Jimmy Carters zusammenfiel. Ich betone, der Krieg in Afghanistan begann 1979, aber das Verhältnis verschlechterte sich bereits 1977. Anlass für diese Abkühlung war, dass Carter bei einem bilateralen Gespräch die Einhaltung der Menschenrechte in der Sowjetunion in den Vordergrund rückte. In den 1960er Jahren wäre es noch undenkbar gewesen, dass die USA etwas derartiges vorbringen: Sie hatten damals selbst eine gesetzlich verankerte Rassentrennung. In den 1970ern jedoch hatte die Bürgerrechtsbewegung in Amerika Erfolge erzielt und stand auf dem Gipfel ihrer Popularität – Carter konnte sie nicht ignorieren.
Wir sind so oder so innenpolitische Faktoren füreinander – dem entkommen wir nicht
Gleichzeitig verlor Amerika Mitte der 1970er auf anderen Gebieten praktisch überall: Misserfolg in Vietnam, die heftigste Wirtschaftskrise seit der Great Depression, Watergate ... Beim besten Willen nichts, worauf man stolz sein konnte. Es ging darum, das Land wieder auf die Beine zu stellen. Und es zeigte sich, dass es vor diesem beklemmenden Hintergrund doch auch eine gute Nachricht gab – das Ende der Rassentrennung [im Jahr 1964 – dek], in den USA siegten die Bürgerrechte, anders als in der UdSSR!
Die Sowjetunion, die Andersdenkende und die eigenen Bürger unterdrückte, wurde wie eine Spielkarte zu innenpolitischen Zwecken eingesetzt, um die Stärken Amerikas besser hervorzuheben.
Also waren wir einander nützlich als „Feindbilder“?
Das Verhältnis zwischen Russland und den USA gestaltet sich generell auf einer bildhaften, symbolischen Ebene. Wenn sich etwas verändert darin, dann bedeutet das nicht, dass der eine dem anderen tatsächlich etwas angetan hat.
Kann man von einer eindeutigen Dynamik des Russlandbildes in Amerika sprechen?
Im Laufe des ersten Jahrhunderts der Unabhängigkeit Amerikas war Russland das europäische Land, das ihm von allen am freundlichsten gesinnt war. Eine markante Episode jener Zeit war das Erscheinen von zwei russischen Geschwadern in den Häfen von New York und San Francisco im Jahr 1863. Ihre Präsenz unterstützte die Nordstaaten im amerikanischen Bürgerkrieg moralisch. Andererseits reisten in den Jahren des Krimkriegs einige Dutzend amerikanische Ärzte nach Russland, um im belagerten Sewastopol in den Spitälern zu arbeiten: Viele von ihnen starben an Infektionen, den Überlebenden überreichte unser Chirurg Pirogow zum Andenken Medaillen mit der knappen Aufschrift „Sewastopol. Alles getan, was möglich war“.
Zu bröckeln begann das Russlandbild in den 1880er Jahren, als der Journalist und Schriftsteller George Kennan Sibirien bereiste und dort auf gebildete und liberal denkende Verbannte und Zwangsarbeiter stieß, da war zum ersten Mal die Rede von Russland als „großem Gefängnis“. In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts steckten auch die USA in der Krise, da nach dem Bürgerkrieg im Süden die Weißen wieder an die Macht kamen, die Rassentrennung festgelegt wurde und sich die Amerikaner natürlich die Frage stellten: Wofür haben wir gekämpft? Da kamen die Beobachtungen von George Kennan gerade recht, der den kritischen Blick der Amerikaner von sich selbst in Richtung Russland umlenkte, à la: Seht mal, dort haben sie überhaupt die besten Leute nach Sibirien verbannt!
Die einstigen Verfechter der Unabhängigkeit des schwarzen Südens vereinigten sich also zur amerikanischen Society of Friends of Russian Freedom, um für die Befreiung des russischen Volkes von der Alleinherrschaft zu kämpfen.
Russland und die USA als zwei extreme Versionen von Europa: eine konservative und eine radikale
Damals begann sich ein interessantes dreiteiliges Darstellungssystem herauszubilden, wonach Russland und Amerika zwei extreme Versionen von Europa sind: eine konservative und eine radikale. Deswegen erweist sich Russland als willkommener Vergleichspunkt – als entgegengesetzter Pol im europäischen Kulturraum. Und deswegen ist es so harscher Kritik ausgesetzt.
Die gegenwärtigen Anwandlungen von Antiamerikanismus und Russophobie – sind die auch der Tradition gezollt?
Beide Länder benutzten und benutzen Bilder voneinander zur Lösung ihrer inneren Probleme. Vor allem von Problemen, die mit einer Identitätskrise zu tun haben.
Beide Länder benutzen einander zur Lösung ihrer Identitäts-Probleme
Wenn Russland sich von Amerika „geplagt“ fühlt, heißt das, etwas stimmt mit unserer Identität nicht, irgendwo haben wir uns verloren. Wenn Amerika sich von Russland „geplagt“ fühlt, stimmt mit Amerika etwas nicht, es schafft einfach nicht, sich zu entscheiden, wie es nun sein soll: wie Hillary, wie Obama oder wie Trump ... Aus der Sicht des Durchschnittsamerikaners muss man, wenn sich Russland wirklich in die Präsidentenwahlen der USA eingemischt hat, konkrete Schritte tun, um das nicht mehr zuzulassen: die Cybersecurity verstärken, irgendwelche internationalen Verträge abschließen, zusätzliche Mittel für Geheimdienste ausgeben – was auch immer.
Aber mit Schaum vor dem Mund zu wiederholen, wie schlecht Russland ist, trägt nicht zur Lösung des Problems bei. Das hat eine andere Funktion – den eigenen Schmerz zu lindern. Und dasselbe gilt auch für Russland.