Die Wahl zur Staatsduma am vergangenen Sonntag hat der Partei Einiges Russland eine breite Machtbasis verschafft. Präsident Putin ist selbst ist nicht Mitglied, steht offiziell über jeder Partei. In der Praxis gilt Einiges Russland jedoch als Mittel zum Zweck, als Machtpartei, um dem obersten Mann im Kreml und seinen Direktiven auch über die Dumawahl Legitimität zu verschaffen. Bereits bei allen drei Parlamentswahlen zuvor hatte sich Einiges Russland die Mehrheit gesichert und geht aus der jetzigen Wahl mit 76 Prozent der Dumasitze so stark hervor wie nie.
Aber heißt das auch tatsächlich, dass die Menschen ihr in allem wofür sie steht, zustimmen? Grigori Golossow, Politikwissenschaftler an der Europäischen Universität St. Petersburg, geht für das unabhängige Magazin slon der Frage nach, woraus sich die immense Stärke von Einiges Russland speist. Welche Rolle spielt die Verstrickung von politischer Elite und Staatsbediensteten? Und wieso ist die Wahlbeteiligung auf ein historisches Tief gefallen? Millionen sind zu Hause geblieben. Ob das ein souveräner Akt war, darüber fällt Golossow ein zweischneidiges Urteil.
Am 18. September 2016 wurde die nächste – vielleicht sogar die letzte oder vorletzte – Seite in dem traurigen Buch über das russische Demokratieexperiment geschrieben. Falls an den Ergebnissen irgendetwas überraschend ist, dann ihre filigrane Präzision. Nach leichtem Ab- und Aufrunden der Stimmanteile und unter Einbeziehung der Direktmandate führt die Stimmauszählung zu folgender prozentualer Zusammensetzung der neuen Staatsduma: 75 (Einiges Russland) – 10 (KPRF) – 10 (LDPR) – 5 (Gerechtes Russland). Die Präzision besteht nicht darin, dass die Zahlen den Prognosen entsprechen. Nicht einmal die allerloyalsten Soziologen haben der Partei Einiges Russland 54 Prozent zugedacht. Die Präzision liegt in der Magie der Zahlen, an der man erkennt, dass die russischen Machthaber dieses Mal ihre Aufgabe voll und ganz erfüllt haben.
Der Mechanismus, durch den eine solch filigrane Präzision erreicht wird, ist wohlbekannt. In der Politikwissenschaft spricht man vom Klientelismus, der darin besteht, dass sowohl diejenigen zur Wahl gehen, die faktisch dazu verpflichtet sind, als auch diejenigen, für die es sich materiell lohnt. Zum Gesamtpaket gehört neben dem Erscheinen zur Wahl auch, dass die Menschen dazu angehalten werden, für eine bestimmte Partei zu stimmen.
Im Großen und Ganzen gibt es da keinen großen Unterschied zwischen einem ungebildeten nicaraguanischen Bauern, der vor ein paar Jahrzehnten von einem Gutsherren zu den Wahlen gejagt wurde, und dem gut ausgebildeten russischen Staatsangestellten, der um die Wahlen einfach nicht drum herumkommt, Sie verstehen, so ist halt das Leben.
Ein durchaus beträchtlicher – und ständig wachsender – Teil unserer Mitbürger geht tatsächlich zu den Wahlen, weil er keine Wahl hat. Er muss es tun. Das schließt nicht aus, dass es vielen sogar gelingt, sich davon zu überzeugen, dass das auch so sein muss, Ordnung ist und bleibt Ordnung, dafür gibt es wenigstens ein Gehalt und das bedeutet Stabilität und so weiter. Entsprechende Argumente liefert der Fernseher in Massen.
Dem Ganzen liegt jedoch Nötigung zugrunde. Ohne die würden die Menschen einfach übers Wochenende auf die Datscha fahren, obwohl viele sich schämen würden, das zuzugeben. Psychologisch angenehmer ist es da, sich eine staatsbürgerliche Motivation zuzulegen.
Jedoch erreicht dieser Mechanismus der Wählermobilisierung nicht jene ziemlich breiten Schichten des Wahlvolks, die sich immer noch die berühmte Autonomie gegenüber den Machthabern bewahrt. Denen gegenüber verfolgt die Regierung die Strategie, dass die Datscha ihre erste Option bleiben möge. Und wenn sie keine Datscha haben? Dann macht doch irgendetwas anderes Sinnloses, aber Angenehmes. Fangt von mir aus Pokémons, wenn ihr so cool und modern seid. Aber geht nicht zu den Wahlen. Das ist unnötig. Ja, unwichtig.
Dem Ganzen liegt jedoch Nötigung zugrunde. Ohne die würden die Menschen einfach übers Wochenende auf die Datscha fahren
Die russischen Sofa-Oppositionellen haben sich die Finger wundgetippt, um zu zeigen, dass man durch die Teilnahme an diesen fiktiven Wahlen das System nur legitimiere und was das alles bedeute und welche folgenschweren Probleme das mit sich bringe. Das war vergebene Liebesmüh.
Der Informationsraum, in dem der russische Durchschnittswähler lebt, ist nicht mit Sozialen Netzwerken oder Internetmedien für coole Auskenner bestückt, sondern mit einem Fernseher. Der setzt die Akzente. Die Machthaber haben aus der Wahlkampagne von 2011 gelernt und diesmal alles dafür getan, um dem Wähler einen ganz einfachen Gedanken nahezubringen: Die Wahlen sind unwichtig.
Dass hierfür das Vorziehen der Wahl von Dezember auf September entscheidend war, muss man nicht groß erklären. Wobei das noch nicht alles ist. Der Wahlkampf war dermaßen leise, dass ihn viele Wähler gar nicht bemerkt haben. Hinter dieser scheinbaren Stille verbarg sich jedoch fieberhafte Arbeit, die darauf abzielte, die Wahlen aus der täglichen Berichterstattung der wichtigsten Internetmedien zu verdrängen. Syrien und die Ukraine – das ist wichtig. Clinton und Trump – wichtig. Die EU-Krise – wichtig. Die Wahlen in Russland – wer bitteschön soll sich dafür interessieren? Und es hat sich auch niemand dafür interessiert. Weil Interesse nicht einfach so von selbst aufkommt, sondern durch die tägliche Berichterstattung der Medien gebildet wird.
2011 hatten die Regierenden bei der Bevölkerung Interesse an den Wahlen geweckt. Und genau daran, an dieses von den Regierenden geweckte Interesse, knüpfte die Kampagne an, die Nawalny dann im Internet führte.
Die politische Internetcommunity in Russland ist sehr klein, sowohl vom Umfang her als auch was die Zahl aktiver Nutzer angeht. Für sich genommen ist das Internet nicht fähig, das Verhalten der Massen zu beeinflussen. Der Fehler der Machthaber bestand 2011 also genau darin, ein Kommunikationsfenster zu öffnen zwischen diesem kleinen Weltlein und der Welt des Durchschnittswählers.
Die Folge war, dass auf diese Art zwei virale Ideen in die Welt der Massen durchdrangen: „Partei der Gauner und Diebe“ und „Wähl eine andere Partei, egal welche!“ Das Ergebnis war eine nur logische Konsequenz.
Diesen Fehler haben die russischen Machthaber nicht wiederholt. Regierungsfreundliche Kommentatoren sprechen oft vom Krim-Konsens als einem Faktor, der die Ergebnisse der September-Wahl mitbestimmt hat. Ich finde diese Überlegungen nicht überzeugend, da sich die breite gesellschaftliche Unterstützung für die Angliederung der Krim nicht zwingend in Stimmen für Einiges Russland niederschlagen musste. Da hätte man tatsächlich beinahe auch jede andere Partei wählen können.
Syrien und die Ukraine – das ist wichtig. Clinton und Trump – wichtig. Die EU-Krise – wichtig. Die Wahlen in Russland – wer bitteschön soll sich dafür interessieren?
Eher würde ich in diesem Zusammenhang von einer Krim-Firewall sprechen. Mit der im Vorfeld der Wahlen festgelegten medialen Konzentration auf die Außenpolitik (und alle außenpolitischen Probleme Russlands ergeben sich ja selbstverständlich aus der Angliederung der Krim) ist es den Machthabern gelungen, das oppositionelle politische Internet wirksam vom dominierenden Informationsraum des Landes zu isolieren.
In den Sozialen Netzwerken konnte man über Sinn und Zweck der Teilnahme an den Wahlen diskutieren, soviel man wollte, und sich über Korruption und die Ineffektivität der Regierung wütend echauffieren. Aber echtes Gewicht bekamen diese Themen nicht. Sie blieben ein winziges Segment, nicht nur im Massenbewusstsein, sondern sogar im Internet.
Am Ende sind die Wähler, die etwas an dem uns nun vorliegenden Ergebnis hätten ändern können, zu Hause geblieben. Und die Wahlbeteiligung? Ja, sie ist, wie Putin anmerkte, im Normbereich, auch nach europäischen Maßstäben.
Allerdings nur nach denen Osteuropas – das sollte man hier noch ergänzen. Denn dort sind die Parteien sehr schwach und nicht wirklich in der Lage, den Wähler zum Gang an die Urne zu bewegen, und auch der Staat hat keine Mittel, um sie zu mobilisieren.
In Russland, seien wir ehrlich, sieht es mit den Parteien und ihrem Wählerbezug kaum anders aus, aber dafür funktioniert hier der Klientelismus immer besser.
In vielen Regionen im Nordkaukasus, in der Wolgaregion und in Sibirien hat die Praxis gezeigt, dass es nichts nützt, den Gouverneuren immer wieder vorzubeten, dass Wahlfälschungen bestraft werden. Die reale Wahlbeteiligung wird kurzerhand ergänzt durch Wähler, die lediglich in den elektronischen Protokollen auftauchen. Aber Zahlen sind Zahlen.
Es gibt eine ständig wiederkehrende Metapher in den Texten derer, die sich gegen eine Teilnahme an fiktiven Wahlen aussprechen: „Mit Betrügern setze ich mich nicht an einen Spieltisch.“ Sie beruht auf der Annahme, dass man sich dem Spiel mit Falschspielern entziehen kann. Aber das ist nicht immer so und was die Wahlen angeht, ganz sicher nicht. Du spielst immer mit. Und wenn du das Gefühl hast, dass du es nicht tust, dann nur deswegen, weil du die Regeln befolgst, die dir der Falschspieler aufzwingt, und keinen Deut von ihnen abweichst. Weil du, wenn er plötzlich deine Zehn mit einer Sieben übertrumpft, nicht reagierst. Gewinnen wirst du sowieso nicht: Er ist ja ein Falschspieler. Du könntest ihm zwar das Leben schwermachen – doch diesmal ging das leider nicht.